Die bildungspolitische Entwicklung der Kinderbetreuungssysteme unter dem Einfluss anerkannter Bildungsstudien und der gesetzlich forcierte Ausbau der Kindertagesbetreuung seit Mitte des 20. Jhd. stehen in einem direkten Zusammenhang mit dem demografischen Wandel in Deutschland.
Nach dem zweiten Weltkrieg und der politischen und wirtschaftlichen Unsicherheit der Nachkriegszeit, erlebten die Menschen in Deutschland einen massiven wirtschaftlichen Aufschwung, der heute von der breiten Masse als deutsches Jahrzehnt des Wirtschaftswunders bezeichnet wird. Die Erfolge und der damit verbundene Wohlstand kamen unter dem Leitgedanken der sozialen Marktwirtschaft auch in den breiten unteren sozialen Schichten an, und steigerten den Lebensstandard der Menschen in Deutschland in einem bisher noch nicht bekannten Ausmaß.[37][38] Mit dem hohen Lebensstandard und der Sicherheit in Form von Vollbeschäftigung in Deutschland, stieg auch die Geburtenrate in den Jahren 1955-1969 kontinuierlich an und erreichte ihren Höhepunkt im sog. Babyboom-Jahr 1964 mit mehr als 1,3 Millionen lebenden Neugeborenen (Abb. 1).
Abb. 1: Geburtenrate Deutschland 1945 - 2006[39]
Als Ergebnis der Veränderungen der Geschlechterrollen und der damit verbunden gestiegenen Bildungspartizipation und beruflichen Teilhabe von Frauen,[40] ohne die Verfügbarkeit ausreichender Betreuungsplätze für Kinder,[41] gekoppelt mit der Einführung der Pille als effizientes und einfaches Verhütungsmittel,[42] sank das Geburtenniveau in den Folgejahren rapide ab und halbierte sich nahezu innerhalb eines Jahrzehntes. Die niedrige Geburtenrate der 70er Jahre sorgte demnach wiederum in den nächsten Jahrzehnten für ein niedriges Elternpotential, das sich wie eine Spirale auf eine niedrige Geburtenrate und dann wieder auf ein noch niedrigeres Elternpotential in den darauffolgenden Jahrzehnten auswirkt.
Abb. 2: Bevölkerungsentwicklung 1964 - 2060[43]
Die weiter sinkende Geburtenrate bei einer gleichzeitig steigenden alternden Gesellschaft (Abb. 2) führt zu einer Abnahme des Erwerbspersonenpotentials, wodurch die steigenden demografischen Lasten für Kranken- und Pflegeaufwendungen, sowie für Renten immer größer werden und von einer schrumpfenden Anzahl an Erwerbstätigen bei steigender Produktivität qualitativ getragen werden müssen. Der folglich auch daraus resultierende Mangel an Arbeitskräften, macht in Bezug auf die Thematik dieser Arbeit u.a.:
eine Erhöhung der Frauenarbeitsquote zwingend erforderlich, die wiederum ohne eine Politik der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu einer weiter sinkenden Geburtenrate führt
eine verstärkte Förderung der Kinder zwingend erforderlich, da diese zukünftig die fehlende Quantität durch hohe qualitative Leistungen auffangen müssen
Die o.g. Abhängigkeit der Geburtenrate von der Verfügbarkeit der Kinderbetreuung, sowie einer Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wurde 2013 durch eine Untersuchung des Max Planck Instituts für demografische Forschung (MPIDR) im Bereich der Fertilitätsentwicklung erforscht.[44] Die Studie setzt die Geburtenrate der deutschsprachigen Region Belgiens im Vergleich zur Geburtenrate in Deutschland. Ziel der Untersuchung ist es festzustellen, ob die niedrige Geburtenrate in Deutschland kulturell bedingt oder andere Ursachen hat. Entscheidend für die Untersuchung ist, dass beide Regionen die gleiche kulturelle Prägung haben.
Abb. 3: Fertilitätsrate in Belgien und Deutschland[45]
Wie in Abb. 3 ersichtlich ist, erlebt auch Belgien seit einigen Jahrzehnten eine sinkende Geburtenrate. Im Vergleich zur Geburtenrate in Deutschland stagniert jedoch die fallende Geburtenrate in Belgien über dem deutschen Niveau, während die in Deutschland weiter sinkt. Ebenfalls ist in Abb. 3 klar zu erkennen, dass sich die Geburtenrate der deutschsprachigen Region Belgiens ähnlich wie die Geburtenrate der Belgier verhält und mit den Jahrgängen der geburtsfähigen Frauen 1955-1959 sogar leicht über dem Niveau der Belgier liegt. Abb. 4 verdeutlicht über die Betrachtung der Geburtsjahrgänge hinaus, d.h. über die endgültige Betrachtung der Frauen im geburtsfähigen Alter hinaus, die Geburtenrate nach Kalenderjahren. Dabei zeigt sich eine Stagnation der sinkenden Geburtenrate seit der Wiedervereinigung Deutschlands. Die Geburtenrate in Belgien stieg jedoch im gleichen Zeitraum enorm an und bleibt weiter konstant über dem deutschen Niveau.
Abb. 4: Geburtenrate Deutschland und Belgien bis 2010[46]
Bei gleichen kulturellen Bedingungen in der Betrachtung der Studie des MPIDR, verfügt Belgien im Gegensatz zu Deutschland über eine langjährige Tradition der öffentlichen Kinderbetreuung mit einer qualitativ sehr gut ausgebauten Kinderbetreuungsinfrastruktur, sowie familienpolitischer Leistungen,[47] die auch von der deutschsprachigen Region in Anspruch genommen wird.[48] Schlussfolgernd lässt sich ein Einfluss der Familienpolitik auf die Geburtenrate darlegen. Zudem wird die Geburtenrate, bzw. die Bereitschaft der gebärfähigen Frauen durch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, auch im Hinblick auf die gestiegenen Anforderungen der Frauen an die Männer bezüglich einer gleichgestellten Partnerschaft, sowie von einer vorhandenen Erwerbstätigkeit des Mannes und der definierten Rahmenbedingungen, beeinflusst.[49] Abb. 5 veranschaulicht die wesentlichen Einflussfaktoren auf die Geburtenrate.
Abb. 5: Haupt-Einflussfaktoren auf die Geburtenrate[50]
Internationale Vergleichsuntersuchungen zeigen, dass "bestimmte Indikatoren der Geld-, Infrastruktur- und Zeitpolitik jeweils mit der Geburtenrate signifikant zusammenhängen".[51] Die Einflussfaktoren werden in Deutschland durch das enge Zeitfenster zwischen langer Ausbildungszeit und erster Berufserfahrungen und biologischer Voraussetzungen für Eltern, sowie der Angst vor eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation bestimmt. Dabei verringert sich das Zeitfenster mit dem Grad der Ausbildung und verstärkt gleichzeitig die Vorstellung der Unvereinbarkeit von Familie und Beruf. Demzufolge beeinflussen sowohl die Erwerbstätigkeit des Mannes, als auch die Sicherheit der Mütter in Bezug auf die Rückkehr in den Beruf die Entscheidung, da diese neben den bereits oben aufgeführten gestiegenen persönlichen Anforderungen an beide Elternteile, eine wirtschaftliche Sicherheit im instinktiven Nestbauverhalten werdender Eltern darstellt. Folglich spielen auch die finanziellen Familienleistungen eine entscheidende Rolle.[52] Die Wirkung familienpolitischer Maßnahmen auf die Geburtenrate wurde ebenfalls durch das BMFSFJ empirisch nachgewiesen. Den größtmöglichen Effekt zeigt dabei eine Kombination aus Kinderbetreuung und Transferleistungen.[53] Die finanziellen Transfers kompensieren den enormen Kostenaufwand den ein Kind für die Eltern produziert, während die Kinderbetreuung die Berufstätigkeit durch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtert und damit auch zu einer positiven volkswirtschaftliche Entwicklung beiträgt. Nicht zu unterschätzen und bisher unerwähnt, ist der Einfluss der gesellschaftlichen Anerkennung für Mehrkinderhaushalte auf die Geburtenrate (Abb. 6), zumal sich in den letzten Jahrzehnten ein schlechtes Image für Mehrkinderhaushalte durchsetzte.
Abb. 6: Mehrebenenmodell der Entscheidung für Kinder (Auszug) [54]
Für die Kinderbetreuung bedeutet das, dass keine Betreuungslücken vorhanden sein dürfen. Durch die Änderung der Familienstrukturen werden die Betreuungslücken nicht mehr in ausreichender Zahl wie vorher durch die Großeltern oder anderer Verwandter aufgefangen.
Während sich eine ausreichende Kinderbetreuung auf die Geburtenrate auswirkt, zeigt sich anhand der familienpolitischen Maßnahmen in der DDR, dass sich eine ausreichende Kinderbetreuung auch auf die Frauenerwerbstätigkeit positiv auswirkt. Mit der flächendeckenden Infrastruktur in der DDR im Bereich der Kindertagesbetreuung Mitte der 1980er Jahre, stieg parallel auch die Frauenerwerbstätigkeit (Abb. 7).[55]
Abb. 7: Frauenerwerbstätigkeit in der DDR[56]
Abb. 8 zeigt im Vergleich zu Abb. 7 eine relativ niedrige Frauenerwerbstätigkeit in der BRD, die erst mit dem Ausbau der Kinderbetreuung ab Mitte der 1970er Jahre zu steigen scheint.
Abb. 8:...