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E-Book

Endlose Nacht

Träume im Jahrhundert der Gewalt

AutorBarbara Hahn
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783518747841
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR

Mithilfe von Träumen skizziert Barbara Hahns großer Essay eine Unheilsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Ihre Untersuchung widmet sich Träumen, die eine Welt aus Verfolgung, Not, Zwang und Leiden erschreckend direkt vorwegnehmen, schildern, in Bilder fassen. Sowie Berichten von Überlebenden, die in einer dauerhaft beschädigten Realität weiterexistieren - denen Wirklichkeit nur mehr ein Schatten ist - die nur in den Träumen toter Anderer sich noch 'am Leben' wähnen.

Im 20. Jahrhundert haben sich Traumaufzeichnungen als eine eigene literarische Gattung etabliert - durch eine Fülle (oft entlegener) Veröffentlichungen. Nachforschend, aufstöbernd, einkreisend, ebenso sorgsam wie behende führt die Autorin durch diesen bislang wenig erschlossenen Kosmos.

Es treten Anna Achmatowa, Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Charlotte Beradt, Jean Cayrol, Hélène Cixous, Franz Fühmann, Graham Greene, Wieland Herzfelde, Otto Dov Kulka, Primo Levi, Paula Ludwig, Elsa Morante, Heiner Müller, Georges Perec, Jorge Semprún, Vercors, Marguerite Yourcenar und viele andere auf.



Barbara Hahn, geboren 1952 in Esslingen, studierte Germanistik, Philosophie und Geographie in Berlin und Marburg. Sie war Professorin an der Princeton und der Vanderbilt University und ist eine der Hauptherausgeberinnen der kritischen Hannah-Arendt-Ausgabe sowie der Edition des Werks von Rahel Levin Varnhagen

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Leseprobe

UMHERSCHWEBENDES BEWUßTSEIN


 

 

Ein Bauer im Ural während Stalins Zwangsherrschaft. Ein Schriftsteller in Kairo, der von einem religiösen Fanatiker lebensgefährlich verletzt wurde. Ein deutscher Schriftsteller im südfranzösischen Internierungslager. Eine russische Dichterin im asiatischen Exil. Ein italienischer Physiker im KZ. Sie alle und viele, viele andere schrieben Träume auf und trugen dafür Sorge, daß sie überliefert wurden. Ein seltsames Erbe, das da auf uns gekommen ist. Knappe, oft recht karge Aufzeichnungen, zu finden in Briefen und Tagebüchern, in Autobiographien und Romanen. Oder in Büchern, die nichts anderes enthalten als Träume. Träume ohne Deutung. Deren Verfasser, die sich in den unterschiedlichsten Sprachen und Kulturen bewegten, hatten denselben Gedanken: In diesen kleinen Geschichten verbirgt sich etwas, das unbedingt weitergegeben werden muß. An Zeitgenossen, an künftige Generationen. Ein Wissen, das keine andere Form finden konnte als diese Notate.

Träume ohne Interpretation. In ihnen bündeln sich Gedanken und Erfahrungen, dargestellt in drastischen Bildern, in klaren Farben oder in Konturlosigkeit schwimmend. Rhythmisch aufgerauht oder monoton. Träume. Sie stehen nicht in der Tradition, die Sigmund Freud am Anfang des vergangenen Jahrhunderts stiftete. In seiner Traumdeutung fragen Traumnotate nach einem anderen Text. Sie wollen aufgeschlüsselt, gedeutet sein. In Freuds großem Buch appellieren sie an ein erklärendes Verstehen; sie öffnen die Tür zum Unbewußten.

Traumnotate ohne Deutung führen in andere Welten. In ihnen helfen die gewohnten Wege des Lesens nicht weiter. Leicht, sich dort zu verlieren oder zu verirren. Schwer, auch nur zu beschreiben, was in der Begegnung mit diesen Texten geschieht. Manchmal erschrockenes Befremden, manchmal einfach nur Ratlosigkeit. Manchmal ein Wiedererkennen von Bildern und Motiven, manchmal die Begegnung mit völlig Unbekanntem. Traumtheorien bieten wenig Orientierung. Wohl aber die Gedanken derer, die diese Notate verfaßt haben.

 

»Hat Sie das niemals gequält?«, so beginnt eine Geschichte, Le songe, Der Traum, datiert auf den November 1943, entstanden im besetzten Frankreich. »Hat Sie das niemals gequält? Wenn Sie an glücklichen Tagen, in der Sonne ausgestreckt, auf warmem Sand oder beim Genuß eines Brathähnchens, zu dem sich ein üppiger Burgunder gesellte, oder auch in der Hitze eines anregenden und freimütigen Gesprächs bei starkem, wohlriechendem Kaffee – wenn Sie da plötzlich auf den Gedanken kamen, daß diese einfachen Freuden gar nicht so etwas Natürliches sind.«

»Plötzlich« bricht etwas in die Freuden des Alltags. Der Gedanke daran, daß es genau in diesem Moment anderswo ganz anders zugeht. Daß dort Menschen verhungern, massakriert und gefoltert werden. Doch war dies »überhaupt ein Gedanke? War es mehr als eine undeutliche Vorstellung? Ein Phantasiegebilde, viel weniger greifbar als die wohlige Wärme der Sonne, als der Duft des Burgunders, als die Erregung des Wortstreites.«[1]

Jean Marc Buller, französischer Widerstandskämpfer, der unter dem Pseudonym Vercors veröffentlichte, findet in seiner Geschichte einen Ausweg. Manchmal, so schreibt er, gelinge es, für eine Nacht in eine andere Welt zu entkommen; manchmal befreien sich die wie in »einem plombierten Wagen« gefangenen Individuen, die die Erfahrungen ihrer Mitmenschen nicht teilen können: »Ich habe im Traum seltsame Dinge gesehen, die sich weder durch Phantasie noch durch Unterbewußtsein erklären lassen. Dinge, die – während ich sie träumte – viele Meilen entfernt wirklich geschahen. Natürlich nicht nachweisbar: Beweise gibt es auf solchem Gebiet niemals. Doch was ich in einem bestimmten Schlafzustand erlebt habe, ist für mich der völlig ausreichende Beweis für das Vorhandensein eines riesigen, nebelförmigen Bewußtseins, einer Art umherschwebenden Weltgewissens, an dem teilzuhaben uns im Schlaf, in besonderen, außergewöhnlichen Nächten vergönnt ist. In solchen Nächten gelangen wir aus dem plombierten Wagen wirklich hinaus, vermögen wir endlich über die Böschung hinüberzusehen.«[2]

Was den Ich-Erzähler dort draußen empfängt, ist kein schöner Traum. Der Himmel, ungewöhnlich niedrig, fiel in »Schleierfetzen« auf ihn herab. Er mußte den Nebel aufheben wie »schwere, verblichene Damastvorhänge«. Noch etwas hinderte seinen Gang. Die Erde war schwammig und feucht; jeder Schritt eine enorme Anstrengung. Ging der Träumer im Kreis? Immer wieder stieß er auf Spuren, die er als die seinen erkannte; er schleppte sich hin in »säkularer Vereinsamung«. Plötzlich war da jemand. Ein Mann, den der Träumer kannte, weil er dieselbe Erinnerung teilte. Ein Mann, abgemagert zum Skelett. Seine Zunge schwarz und zerrissen. Dann immer mehr Männer auf demselben mühseligen Weg wie der Träumer. Alle mit zerstörten Körpern, gedrückt von Lasten, die ein gesunder Mensch nicht würde bewegen können.

Ein Zug in einer Landschaft ohne Unterschiede. Erde und Himmel schwarz. In der Ferne »geometrische Bauten«, schwarz wie Himmel und Erde, errichtet für zwanzigtausend Mann. Schwarze Männer, die mit Knüppeln unter dem Arm zwischen den gedrückten Gestalten stehen. »Jetzt«, plötzlich, ist auch der Träumer eine dieser Gestalten. »Wie war dies vor sich gegangen?«, so fragt er sich. »Im Traum gibt es kein Wie.« Und so schleppt er sich zusammen mit den anderen durch den Schlamm, mit einer Last auf den Schultern, die nicht abzuwerfen ist.

Auf der anderen Seite, so weiß der Träumer, gibt es Menschen »wie wir, mit einem Kopf und einem Herzen«, die wissen um diese Gestalten, und doch gewähren sie ihnen nicht einmal »das Almosen eines beunruhigenden Gedankens«. Und andere gibt es, »die gelegentlich an uns denken – und die bei diesem Gedanken lächeln«.

Mit diesem Lächeln endet die Geschichte. Der Träumer kehrt nicht in die Welt der sonnigen Tage, der Brathähnchen und des Burgunders zurück. Keine Gespräche mit Freunden bei starkem Kaffee. Die Nächte, in denen sich die »verriegelten, fensterlosen«, die »plombierten Wagen« des individuellen Daseins öffnen, stiften keine Gemeinsamkeit.

 

Oder doch? Im Rückblick auf all die Träume, die uns das vergangene Jahrhundert hinterlassen hat, erscheinen Konturen einer verborgenen Geschichte. Einer Geschichte, an der viele, viele mitgeschrieben haben. Im unausgesprochenen Einverständnis darüber, daß im Modus des »Traums« etwas Unabdingbares zur Darstellung kommt. Etwas, das sich nicht einfach in andere Modi übersetzen läßt. Das Zwanzigste war ein Jahrhundert des Traums. Und das heißt auch: ein Jahrhundert der Nacht. Eine schwarze Zeit in konturloser Dunkelheit wie in Vercors' Traumerzählung. Es wollte nicht hell werden nach diesen Nächten; niemand schien aufzuwachen. Die alten Schwellen zwischen Tag und Nacht, Wachen und Schlafen, Wirklichkeit und Phantasie – wie abgetreten, eingeebnet. »Traum« – in diesen vielen Aufzeichnungen hat das Wort seinen Gegensatz verloren. Die Träumer sind wacher im Traum. In der Traumwelt finden sie Szenen und Bilder, die auf das verweisen, was sich jeder Darstellung entzieht. Das 20. Jahrhundert bot für Millionen von Menschen nichts weiter als ein Leben im Alptraum. Es zwang sie in Wirklichkeiten, von denen sich vorher niemand hätte träumen lassen.

 

»Lieber Franz, als Einziger meiner und meiner Frau Familie habe ich diesen schrecklichsten Traum überlebt, dem leider auch meine Frau zum Opfer gefallen ist. Vorgestern kam ich aus D.land zurück, wo ich durch verschiedene K. ‌Z.Lager gegangen bin. Verändert habe ich mich nicht, meine Grundsätze sind die gleichen geblieben, nur noch gefestigter, intensiver und vielleicht gereifter. Ich habe Furchtbares erlebt, da ich es aber erlebt habe, reut es mich nicht und ich mag es nicht missen. Es sind die Wenigsten geblieben und davon sind die wenigsten sich treu geblieben. Verfall über Verfall. Nach Möglichkeiten habe ich in den Jahren gearbeitet, viel gearbeitet. Es war immer an der Grenze, immer am Aeussersten. Ich bin wohl einigermassen herunter, aber doch habe ich es recht gut überdauert und bin gesundheitlich nicht ernst geschädigt. Von mir heute nicht mehr.«[3]

Prag, am 24. Juni 1945. H. ‌G. Adler schreibt an seinen Jugendfreud Franz Baermann Steiner, der ins englische Exil entkommen war. Adler hatte die ganze Höllenfahrt hinter sich: Theresienstadt, Auschwitz, Buchenwald. Was ihm da widerfuhr, nennt er einen Traum. Auch in den folgenden Briefen an den Freund erzählt Adler nichts. Nichts ist mitteilbar. Adler berichtet lediglich von den Eltern des Freundes, die zusammen mit ihm ein halbes Jahr in Theresienstadt eingesperrt waren, bevor sie nach Auschwitz deportiert wurden. Um die er sich gekümmert habe – wie ein Sohn.

Erlebnisse, die die nicht missen wollen, denen sie widerfuhren. Nicht mitteilbar denen, die sie nicht teilen. So leicht, dies alles zu vergessen. So leicht, von der unüberwindbaren Mauer zu sprechen, errichtet zwischen denen, die dort waren, und denen, die nicht dort waren. Diese Mauern sind brüchig. Oder wie Imre Kertész in seinem Galeerentagebuch schrieb: »Alles ist bereits passiert und nichts daraus gefolgt. Auschwitz und Sibirien sind vergangen (wenn sie vergangen sind) und haben das menschliche Bewußtsein kaum berührt, ethisch gesehen hat sich nichts geändert. Alle Erfahrungen sind vergeblich. Doch insgeheim, im verborgenen, müssen diese Erfahrungen trotzdem irgendwo leben.«[4]

 

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