1. Ein unsauberer Schnitt
Die erste Adresse für die Modernisierung: das Militär
Die türkische Republik wurde am 29. Oktober 1923 von Mustafa Kemal ausgerufen. Sie war das Ergebnis eines Prozesses, der fast 100 Jahre vorher begonnen hatte.
Wann immer über die Ursprünge der türkischen Modernisierung geschrieben oder gesprochen wird, fällt bald der Begriff »Tanzimat«. Neuordnung bedeutet er und steht sinnbildlich für Schwarz-Weiß-Fotografien Istanbuls, osmanische Bürokraten in westlicher Kleidung, Soldaten mit neuen Frisuren und Uniformen, Schulen nach preußischem Modell, europäische Einflüsse in der Musik und Architektur, die ersten Romane und neue politische Konzepte wie die Verfassung. An diesem Punkt hatte das Osmanische Reich einen Teil seiner eigenen Identität und Traditionen geopfert, um mit dem Westen mithalten zu können.
Wann genau die osmanischen Herrscher anfingen, sich Europa anzunähern, lässt sich nicht genau feststellen. Sie waren schon immer, wie auch ihre europäischen Gegenspieler, von bestimmten Besonderheiten ihrer Feinde fasziniert – und versuchten, ihre eigene Politik und Gesellschaft nach diesen zu gestalten. Doch als unter Sultan Abdülmecid I. am 3. November 1839 im Garten des Topkapı-Palastes die Gülhane-Reformen ankündigt wurden, war klar, dass sich im Osmanischen Reich vieles für immer radikal ändern würde. Jener Tag gilt heute als die Geburtsstunde der Tanzimat-Periode, die 1879 endete, aber die osmanische und auch die spätere türkische Gesellschaft nachhaltig veränderte und beeinflusste. Es waren nicht nur äußerliche Ursachen und Niederlagen, die Abdülmecid zur Neuordnung getrieben hatten.
Wie so oft in der osmanischen und türkischen Geschichte war es unter anderem die Armee, die die Politik in Zugzwang brachte. Um genauer zu sein, waren es die Armeen. Die erste »Neuordnung« hatte einer der Vorgänger von Abdülmecid I., Selim III., angestrebt. Er versuchte bereits während seiner Amtszeit von 1789 bis 1807 das osmanische Militär zu modernisieren. Die Janitscharen, die einst unter Murat I. im 14. Jahrhundert selbst als yeniçeri, neue Armee, eingeführt wurden und über Jahrhunderte die Speerspitze der osmanischen Expansion bildeten, hatten ihre alte Schlagkraft auf dem Schlachtfeld eingebüßt. Die osmanischen Herrscher mussten das spätestens nach den verheerenden Niederlagen gegen das russische Zarenreich im 18. Jahrhundert schmerzhaft einsehen.
In der Innenpolitik hingegen waren die geschwächten Janitscharen noch immer eine Macht. Selim III. war dies ein Dorn im Auge, er wollte das Militär unter seine Kontrolle bringen und im Kampf gegen die christlichen Feinde stärken.
Heute wissen viele Beobachter auch außerhalb der Türkei, dass das Militär und die zivile Politik in einer eher komplizierten Beziehung zueinander stehen. Dabei wird der Armee die Rolle des Beschützers des Säkularismus und damit auch der Modernisierung zugeschrieben. So versteht sie sich auch in ihrer Eigendefinition. Doch im Osmanischen Reich, in dem das Verhältnis zwischen Politik und Militär ähnlich angespannt war, blockierte gerade das mächtige Militär Reformen und leistete damit seinen Beitrag zum Zerfall des Reichs.
Die Janitscharen waren nicht bereit, auf ihre Vorrechte in der Gesellschaft zu verzichten. Als stehende zentrale Armee hatten sie in der Gesellschaft und in der Politik jahrhundertelang Wurzeln geschlagen. So konnten sie Reformen und Modernisierungsversuche abwehren, ihre eigene Politik gestalten und sogar die Sultane beeinflussen und in einigen Fällen absetzen. Unter Historikern ist diese Haltung des osmanischen Militärs jedenfalls eine mögliche Erklärung für den Zerfall des Sultanats, Selim III. hingegen war davon überzeugt, dass sein Reich untergeht, wenn er die Armee nicht reformiert.
Da er aber erkannt hatte, dass die Janitscharen nicht leicht zu überzeugen waren, gründete er mit seinem eigenen Reformprogramm Nizam-ı Cedid (Neue Ordnung) eine komplett neue Armee nach europäisch-preußischem Vorbild. Die »Neue Ordnung« hatte alles, was den Janitscharen fehlte: neue Ausrüstung, moderne Ausbildung und die volle Unterstützung des Sultans, aber sie wies auch ihre Mängel auf: keine Tradition und keine Sympathie in der lokalen Bevölkerung und natürlich auch nicht jene der Janitscharen. Die hatten schon in der Vergangenheit keine Streitkräfte neben sich geduldet und erst recht nicht die »Neue Ordnung« des unbeliebten Selims. Lokale Fürsten, mächtige und reiche Freunde der Janitscharen, weigerten sich, dem Sultan bei der Finanzierung der neuen Truppen auszuhelfen und die Rekrutierungsversuche waren vor allem am Balkan wenig erfolgreich. Viele der neuen Soldaten stammten von anatolischen Stämmen ab, waren größtenteils undiszipliniert und hatten sich der Armee nur angeschlossen, um Uniformen und Waffen zu bekommen, mit denen sie kurz nach ihrer Einschreibung desertierten. Die Janitscharen besaßen auch die Gunst der religiösen Führung. Das war nicht das erste und bei weitem nicht das letzte Mal, dass das Militär und geistliche Führer sich gegenseitig Rückendeckung gaben. Selbst in der modernen türkischen Republik, in der sich das Militär als Hüter des Laizismus versteht, gab es solche Koalitionen.
Trotz dieser Hindernisse hatte der Sultan es geschafft, aus der »Neuen Ordnung« eine kleine, aber fähige Streitkraft aufzustellen, die nach anfänglichen Schwierigkeiten Erfolge erzielen konnte. Die neuen Soldaten waren in der Abwehr gegen Napoleons Invasion in Ägypten und in Syrien effektiv. In der Hauptstadt blieben jedoch die Janitscharen am Zug. Selim war zwar reformwillig, aber nicht besonders standhaft und gab dem Druck der Janitscharen nach, bis diese die »Neue Ordnung« zerschlugen und schließlich auch Selim vom Thron stürzten.
Die »Neue Ordnung« konnte es weder militärisch noch politisch mit der alten Ordnung der Janitscharen und der religiösen Führung aufnehmen, aber ihr Schicksal veranschaulicht die Modernisierungsbemühungen des Osmanischen Reiches und der Türkei und das komplizierte Verhältnis des Militärs zur Politik. Die Janitscharen schafften es, die Reformen zu blockieren, aber ihr Sieg über Selim sollte nicht von langer Dauer sein.
Selim verlor seinen Thron, aber nicht alle seine Freunde. Bayraktar Mustafa Pascha, Gouverneur der bulgarischen Stadt Russe und Unterstützer Selims, marschierte mit seinen Truppen in Istanbul ein, um die Janitscharen aufzuhalten. Er kam zu spät und konnte Selim nicht mehr retten, aber er schaffte es, mit Mahmut II. einen weiteren Reformer als Sultan zu installieren.
Die gescheiterte Militärreform Selims war Mahmut eine Lektion. Er wollte die Arbeit seines Cousins fortführen, aber er ging umsichtiger vor. Mahmut hatte sich vorgenommen, die Janitscharen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Statt eine neue Armee aufzubauen, ordnete er die Bildung einer neuen Einheit innerhalb der Janitscharen an. Diese protestierten erneut dagegen, doch dieses Mal hatte der Sultan die Unterstützung der religiösen Führer, die eine Unterdrückung der Rebellion aus islamischer Sicht legitimierten. Am 15. Juni 1826 gab Mahmut seinen loyalen Truppen den Befehl, die Kasernen der Janitscharen in Istanbul zu zerstören. Als die Sultan-treuen Soldaten die Baracken mitten in der Stadt in Brand steckten, verloren tausende Janitscharen ihr Leben. Überlebende wurden verhaftet oder ins Exil geschickt. Die jahrhundertealte osmanische Eliteeinheit wurde restlos vernichtet. Sie war eine der vielen traditionellen Institutionen, die das 19. Jahrhundert nicht überlebten.
Neue Reformen für alte Stärke
Die Büchse der Pandora war geöffnet. Für die Reformer des 18. Jahrhunderts war der Westen im militärischen Bereich ein Vorbild, im darauffolgenden Jahrhundert hatten Herrscher wie Mahmut II. und Abdülmecid beschlossen, ein Stück weiter zu gehen. Nicht nur Waffen, Technologien und Taktiken wollten sie importieren, sondern auch in der Staatsführung, in der Wirtschaft und in der Kultur Änderungen nach europäischem Vorbild durchführen. Die Reformen sollten nicht nur innenpolitische Probleme lösen, sondern bei den westlichen Mächten Sympathiepunkte sammeln. Beispielsweise durch Erleichterungen für christliche Minderheiten in der osmanischen Gesellschaft.
Es gab aber auch die andere Seite im Osmanischen Reich, die in der Nachahmung des Westens eine Niederlage und Aufgabe der eigenen Identität sah. Was die beiden Gruppen vereinte, war ihre Überzeugung, dass es nicht in derselben Weise weiter gehen konnte.
Diese Atmosphäre politisierte die osmanische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zunehmend. Vom Balkan bis zur arabischen Halbinsel tauchten neue politische Gruppen auf. Die Verbreitung von Druckpressen, Zeitungen und der Telegrafie förderte die politischen Diskurse. Plötzlich gab es Modernisierer, Nationalisten, Traditionalisten und auch die heute berüchtigten Wahhabiten gewannen in dieser Zeit an Stärke und machten sich langsam vom Osmanischen Reich unabhängig. Innerhalb der vielfältigen Bevölkerung entstanden neue Schichten und Grenzen. Die Tanzimat-Reformen brachten die ganze etablierte Hierarchie der damaligen Gesellschaft durcheinander.
Wenn man einen osmanischen Friedhof besucht, stechen sofort die Grabsteine mit ihren unterschiedlichen »Kopfbedeckungen« hervor. Sie zeigen, welchen Rang die Verstorbenen in der Gesellschaft oder im Staat einnahmen. Das multi-ethnische Osmanische Reich war nie frei von Spannungen, aber um das Zusammenleben unterschiedlicher Religionen und Ethnien zu ermöglichen, hatte sich über die Jahrhunderte eine einzigartige Ordnung entwickelt. In diesem sogenannten Millet-System standen die sunnitischen Muslime in der gesellschaftlichen Ordnung...