B. Entwicklung des Begriffs als wissenschaftliches Instrument und des Begriffs der Wahrheit in summarischer philosophiegeschichtlicher Perspektive: vom Aristotelischen Mythos zu den Frame-Theorien
Das Vorhandensein irgendeines metaphysischen – mithin eines nicht sichtbaren, angeblich gleichwohl begrifflich festen – Wahrheitskerns, der nur noch seiner analytischen Bergung harrte, wird heutzutage nicht mehr ernstlich vertreten. Erst mit dem allmählichen Abstandnehmen von jedweder Art der Wahrheitsidealisierung konnte sich die Forschungstätigkeit auch von der Beschwörung auf den stets um das Ganze der Ergebniswahrheit ringenden Wettstreit zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus lösen. Die Loslösung vollzog und vollzieht sich nicht lediglich in der Praxisferne der historischen Archive27, sondern war und ist als epistemisch und methodisch gebundenes Ablaufgeschehen in der Rechtspraxis wahrnehmbar. Das juristische Modell der Subsumtion ist dabei in Gestalt der erzeugten Rechtsentscheidung, die stets den Anspruch erhebt, richtig entschieden oder jedenfalls ´in der Sache´ richtig geurteilt zu haben, nur eine Variante sprachlich vielfältiger Arten der Festlegung; aufgrund der Sanktionierung28 abweichenden Verhaltens ist sie allerdings die wohl prägnanteste. Die Festlegung des Modells der rechtlichen Subsumtion a) auf seine linguistischen Kinderkrankheiten in Gestalt etwa des Logischen Positivismus´, b) auf die an Chomskys Denken ausgerichtete Generative Transformationsgrammatik oder c) auf die allzu starke Anbindung an positivistisches Gedankengut, das seinen Ausdruck insbesondere in der „Beschränkung auf Wortsemantik“ in der Rechtsanwendung gefunden hat, lässt sich unschwer vermeiden. Gleiches gilt für die Wertlegung auf „feste Wortbedeutungen, objektive[n] Textsinn, ein-eindeutige Beziehungen zwischen Wort und Sprache (Signifikant und Signifikat)” und für „die sogenannte Autor-Intention, die empirisch exakt feststellbar sein soll”29.
Begrifflich gebundene Wahrheitsfindung erfordert dem entgegen eine ausgewogene Prozedur, die zwischen den beiden unbedingten Forderungen nach Rechtsgeltung sowie Rechtsrichtigkeit um fortwährenden Ausgleich bemüht ist. Wesentlich dabei ist, dass die herzustellende Rechtswahrheit als abänderbar gedacht wird: „[D]er normative Status, eine richtige Begriffsanwendung zu sein, [darf] nicht mit normativen Einstellungen zusammenfallen [...], wie auch die Auffassung, dass Richtigkeit einfach darin besteht, für richtig gehalten zu werden, beides vermengt. Die Objektivität der begrifflichen Normen verlangt, dass jede Einstellung, die Anwendung eines Begriffs beim Bilden einer Überzeugung oder Aufstellen einer Behauptung als richtig zu betrachten, zu behandeln oder zu beurteilen, kohärenterweise auch als falsch gelten kann, und zwar aufgrund dessen, wie es um die Dinge, von denen die Überzeugung oder Behauptung handelt, bestellt ist, wie diese Dinge sind”30. Infolgedessen ist nicht nur dem Wahrheitsbegriff ein weiter Sprachspielraum eröffnet; ein Gleiches gilt auch für die entsprechenden argumentativen Handlungen und die mit ihnen einhergehenden Bedeutungszuweisungen, mit denen sich die z. B. Denkrichtung der Bezugssemantik befasst. Folgende Unterscheidungen können daher nur einen ersten Orientierungsrahmen bilden: Bereits mit Saussure hob diejenige sprachliche Differenzierungsarbeit wider ein simples abbildtheoretisches Sprachverständnis an, in deren Folge der Bereich der Sprachzeichen (langue) vom Bedeutungsfeld der lebendigen Rede (parole) getrennt worden war. Die begrifflich-theoretische Befassung mit den Sprachzeichen und die Akte der begrifflichen Bedeutungszuweisungen traten auseinander. Es entspricht dies mittlerweile dem gesicherten Forschungsstand und ist nicht länger Erkenntnisziel. Hjelmslev, der „Begründer der linguistischen Texttheorie”, hatte diese Wechselbeziehung „von Elementen und den Abhängigkeiten unter ihnen” in den Blick genommen, und zwar unter dem Gesichtspunkt von „System und Prozess”. Die Weiterentwicklung dieses Denkens kann in eine auch für die juristische Texterzeugung verwendbare allgemeine Beschreibung münden. Danach kann die andauernde Mühe der Herstellung einer Norm als tragender Baustein eines Textgefüges aufgefasst werden, als ein Sprachprozess „unbestimmter Begrenzung, der konstituiert ist a) durch Verkettung seiner Bestandteile, b) durch die Selektion durch einen Zusammenhang oder durch einen Kontext, dessen Bestandteil er bildet”31. Allerdings erwiese sich die Annahme als irrig, die Rechtsphilosophie sei damit ihres Dauerproblems enthoben, das seit Descartes mit der selbstreflexiven Rationalität seinen Anfang nahm und zur philosophischen Weltverdoppelung führte (Dichotomie zwischen res cogitans und res extensa); denn auch die zunehmende philosophische Dezentrierung des Subjekts zugunsten der Alterität (als Philosophie gegenüber den Anderen) sowie der Blick auf die sprachlich vergemeinschafteten Rechtserzeugungsvorgänge (als Philosophie des Umgangs der Anderen untereinander und miteinander) haben die Optik nur quantitativ verschoben, nicht aber das Problem qualitativ beseitigt, weil vormals lediglich dichotomische Problemstände sich im Lichte der Alterität nunmehr zu multithematischen Problemständen verändert haben, deren mögliche Klärung fortan in die weiten Bereiche der Semiologie, der Semantik und der Pragmatik verschoben worden ist. Zwar trifft im Lichte dieser Überlegungen jede nicht-kommunikative Philosophie noch rascher als zuvor das Verdikt, eigenbrötlerische Metaphysik zu sein, weil offenkundig geworden ist, dass jede Philosophie, die sich auf Hypostasierung ihrer Werte und nicht auf Sprachaustausch ausrichtet, zur Erstarrung und Verkümmerung verurteilt ist. Ersten Blicks treten mithin Wittgensteins auf Sprachgebrauch ausgerichtete Überlegungen, welche die Suche nach sprachlichen „Hinterwelten” als hinfällig gebrandmarkt hatten, an dieser Stelle in ihr volles Recht. Zweiten Blicks gelangt aber auch Wittgensteins Erkenntnis an ihre Grenzen, welche damit endet, dass es gemäß den Darlegungen im „Tractatus“ eben doch weltbezogene metaphysische Aussagen (und damit erst recht zutreffende sprachliche Festlegungen) geben kann, die allerdings, sofern sie an irgendeine Wesenhaftigkeit geknüpft werden sollten, keinen sinnvollen Ausdruck erzeugen32. Hiernach zeigt sich: Selbst bei Tilgung vielerlei metaphysischer Restbestände im sich aufgeklärt gebenden Sprachspielapparat bleiben allem Anschein nach die zwei Fronten33 zwischen sprachlich zeichenhaften Feststellungen und sprachlich fließenden Gebräuchen nicht aus. Allerdings ist die Hervorhebung einer solchen oder einer verwandten Dichotomie nicht der Rechtsphilosophie letzter Ratschluss. Hat nämlich auch „nicht jeder gehaltvolle Ausdruck (jeder, dessen Vorkommen für die Bestimmung des vom Ganzen repräsentierten Sachverhalts von Bedeutung ist) an sich schon einen repräsentationalen Gehalt [...], dadurch dass er für etwas steht”, so schweigt Wittgenstein doch zum Problem der Handlungsbestimmung, d. h. dazu, was zu tun ist, „um einen Ausdruck zum Bezugnehmen, Charakterisieren oder Behaupten zu gebrauchen (diese Merkmale des Gebrauchs bringt er mit dem repräsentationalen Gehalt in Zusammenhang)”. Ebenfalls unbeantwortet bleibt die Frage, „was notwendig ist, damit ein Bestandteil eines Sprachspiels einen spezifisch propositionalen Gehalt ausdrückt”34. Anders gesagt: Auch die These, dass Sprachspiele den Gebrauch einer Proposition festlegen, bettet diese Spiele in eine Praxis ein, die wiederum selbst von Erkenntnis- und Rechtssubjekten betrieben, bestimmt und letztlich genau dadurch normiert wird. Davidsons Versuch etwa, der Erfassung von Wahrheit ein Konzept zu geben, entwickelt Wittgensteins Ansatz, Sprache sei „intrinsisch sozial”, weiter, um zu einem „tiefen Verständnis linguistischer Fakten” vorzudringen35. Zu diesem Zweck werden theoretisch stipulierte (d. h. vereinbarte) Definitionsversuche zugunsten empirisch gestützter Wahrheitsbedingungen von auf Personen zugeschnittenen Satzgebilden aufgegeben. Die Einbindung von Sätzen in Satzgefüge zieht die Umfunktionierung verschiedener Wahrheitstheorien in eine Theorie über interagierende Befähigung nach sich: Sprecher und Interpreten müssen einander verstehen können. Argumentative Schlüssigkeit setzt Kommunizierbarkeit innerhalb der Sprachgemeinschaft voraus, wobei erst die Gesamtheit der Beziehungen aus Sprecher, Interpreten und der sozialen Welt die Denk- und Sprachinhalte festlegt. Die Interpretation des beobachtbaren Benehmens der Sprach- und Sprechakteure bestimmt nunmehr, was vormals unter der Ägide der theoretischen Produktionsergebnisse gestanden hat. Somit gilt: Die Wahrheitsbedeutung von Sätzen („distal theory of reference”) ist zu einer Beurteilungsfrage interpersonaler Verständigungsleistungen geworden36.
Rechtliche Abläufe dürfen aber nicht mit ´reiner´ intersubjektiver...