Das Prinzip der Polarität
Das Leben auf unserem Planeten ist ganz wesentlich von polaren Gegensätzen bestimmt. Wir kennen weiblich – männlich; Tag – Nacht; Freude – Leid; Yin – Yang; süß – salzig und einige mehr. Der Mensch hat sich seinen Alltag innerhalb dieser Polaritäten eingerichtet. Er schläft in der Nacht und arbeitet am Tage. Auch innerhalb eines Tages werden Ruhephasen von Arbeitsphasen abgelöst. Unser Leben ist voll von derartigen Gegensätzen. Vermutlich wird auch niemand anzweifeln wollen, daß sich das Leben innerhalb des menschlichen Körpers als Wechselspiel von Polaritäten vollzieht. Ganz gleich, ob es sich dabei um Bewegungsabläufe handelt, in denen Spannung und Entspannung einander abwechseln, oder um das Pulsieren des Herzens: Alle Funktionen des Lebendigen sind eingebunden in ein rhythmisches Wechselspiel von Polaritäten. Und obgleich es uns nicht ständig bewußt ist, sind wir geneigt, dieses Phänomen als natürlich zu bezeichnen, sollte die Sprache darauf kommen.
Schon weniger Einigkeit herrscht hingegen, wenn es um Polaritäten zwischen Menschen geht. Gegensätze zwischen Mann und Frau, in Neigungen oder auch in Körperdispositionen kann man noch als natürlich gelten lassen. Es gibt nun mal Frühaufsteher und Morgenmuffel, Tag- und Nachtmenschen, korpulente Körper im Gegensatz zu drahtigen, schlanken und so weiter. Spätestens bei Herz, Kreislauf und Atem jedoch gilt es als Allgemeinwissen, daß sie bei allen Menschen auf dieselbe Weise funktionieren. Schließlich hat die Natur alle Menschen gleich geschaffen … oder?
So wird verständlich, daß der Polaritätsgedanke im Hinblick auf Atem und Stimme in unseren Seminaren immer wieder auf Skepsis stieß. Da wir in unserer Arbeit jedoch immer davon ausgehen, daß der Körper – und erst recht die Stimme – nicht lügt, konnten wir nur auf die natürliche Beurteilungsinstanz in jedem Menschen selbst verweisen. Spätestens damit waren die Seminarteilnehmer auf den Weg der Neugier gebracht. Sie wollten wissen, sehen und vor allem fühlen und an der Stimme hören, ob und wie sich dieses Polaritätsprinzip an ihnen bestätigen würde, oder ob vielleicht gerade sie die Ausnahme von der Regel seien.
Bevor wir uns den eigentlichen Wesensmerkmalen der Typenpolarität zuwenden, möchten wir Sie, unsere Leserinnen und Leser, bitten, einen Blick in die Schublade Ihrer Gewohnheiten zu werfen: Wie atmen Sie, wenn Sie ein fest verschlossenes Gurkenglas öffnen wollen? Atmen Sie, um Ihre Kraft zu verstärken, ein oder aus?
Nun, allein diese Frage hat schon so manchen verwirrt, sei es, weil der eine (Lunare) es natürlich findet, dabei einzuatmen (»Wie soll ‘man’ wohl sonst Kraft mobilisieren?«), oder weil es für den anderen (Solaren) ganz selbstverständlich ist, dabei auszuatmen (»Was soll ich mit einem vollgepumpten Brustkorb? Der behindert doch nur!«). Natürlich schließt man von sich auf andere. Erst das Aufwerfen dieser Frage läßt uns bewußt hinschauen und vielleicht überrascht wahrnehmen, daß noch eine zweite Möglichkeit – das Gegenteil nämlich – natürlich sein kann. So ähnlich könnte es uns auch bei anderen Aktivitäten gehen, etwa beim Treppensteigen, beim Kistenschleppen oder auch bei sportlichen Betätigungen! Mit welcher Kraft tun wir dies, mit der des Einatmens oder mit der des Ausatmens?
Schauen wir in diesem Sinne weiter, so werden wir feststellen: Was zunächst so aussieht, als würde es alles Bestehende umkrempeln, ist in Wirklichkeit nichts anderes als ein bewußter Umgang mit ohnehin bestehenden Gegensatzpaaren: Einatmen/Ausatmen; Aktivität/Passivität; Expansion/Kontraktion, Spannung/Entspannung. Untersuchen wir diese Gegensatzpaare nun beim Atemgeschehen selbst.
Die Notwendigkeit zum Einatmen und Ausatmen ist wohl jedem Menschen im Bewußtsein, und sie ist für alle gleichermaßen gültig. Beziehen wir jedoch Aktivität und Passivität in den Atemvorgang mit ein, so gestaltet sich das Unternehmen Atmen bereits hier als differenziertes rhythmisches Geschehen.
Eine kleine Übung am Rande: Hören Sie einmal genau hin, in welcher Art und Weise der Atemvorgang bei Ihnen selbst und bei den Menschen in Ihrer Umgebung vor sich geht. Es könnte sich zeigen, daß die Atmung entweder in ziehender oder in schiebender Manier abläuft. Ziehend ist die Atmung immer dann, wenn die Einatmung betont (aktiv) ist, und schiebend ist sie, wenn die Ausatmung betont (aktiv) ist.
Noch besser läßt sich dieses Phänomen an schlafenden Menschen beobachten oder besser »erhören«, weil der Atem im Schlaf nicht beeinflußt wird.
Achten Sie also einmal darauf, wie sich Ihr Partner/Ihre Partnerin oder Ihr Kind im Schlaf bezüglich der Ein- und Ausatmungsphasen verhält. Welche Phase ist aktiv, welche passiv? Ist der Atem ziehend oder schiebend?
Darüber hinaus ist es interessant, diese Vorgänge bei Tieren zu beobachten. Erstaunlicherweise verhält es sich hier genauso.
Hören Sie einen rhythmisch ziehenden Atem, so beobachten Sie gerade einen Einatmerrhythmus. Auf die aktive Phase der Einatmung folgt die passive Phase der Ausatmung. Umgekehrt erkennen wir an einem schiebenden Atem den Ausatmerrhythmus. Der aktiven Phase der Ausatmung folgt die passive Phase der Einatmung. Auch wenn wir bereits mit diesen Beobachtungen typengemäßes Atmen beschreiben können, kehren wir noch einmal zur Situation des Schlafes zurück, denn hier haben wir darüber hinaus die Möglichkeit, die Bedeutung der Schlaflage für unsere Atmung zu verstehen.
Betrachten wir als erstes die Auswirkung der Bauchlage. Je länger wir sie einnehmen, desto deutlicher wird fühlbar: Die Bauchlage erleichtert und verstärkt die Kraft der Ausatmung. Denn Schwerkraft in Verbindung mit dem Körpergewicht bewirkt, ja erzwingt geradezu ein immer wiederkehrendes Verengen, eine Kontraktion des Brustkorbes. Drehen wir uns dagegen auf den Rücken und lassen die Beine ausgestreckt liegen, schafft diese Lage Raum und Bedürfnis für freies Heben und Weiten, für die Expansion des Brustkorbes. Die Kraft der Einatmung kann in Rückenlage am besten wirken.
Damit haben wir zwei weitere zentrale Gegensätze benannt, die hier wirksam sind: Die Kontraktion ist die für die aktive Ausatmung wesentliche Kraft und die Expansion die für die aktive Einatmung zuständige. Aus diesen Beobachtungen können wir zwei gegenrhythmisch funktionierende Atemkreisläufe, also Atemtypen konstatieren:
Der Einatmer atmet aktiv ein. Gemäß dem Expansionsprinzip hebt und weitet sich dabei sein gesamter Brustkorb. Anschließend erfolgt die Ausatmung passiv, also ohne willentliche Einbeziehung der für die Ausatmung zuständigen Muskulatur.
Der Ausatmer atmet aktiv aus. Gemäß dem Kontraktionsprinzip verengt sich dabei sein gesamter Brustkorb. Anschließend erfolgt die Einatmung passiv, also ohne willentlichen Einsatz der für die Einatmung zuständigen Muskulatur.
Zusammenfassend können wir sagen:
Für den Einatmer ist die aktiv führende Kraft das Einatmen und die passiv folgende das Ausatmen. Für den Ausatmer ist die aktiv führende Kraft das Ausatmen und die passiv folgende das Einatmen.
Dem vorherrschenden Prinzip der körperlichen Aktion entsprechend wird der Einatmer auch Dehnungstyp und der Ausatmer auch Verengungstyp genannt.
An dieser Stelle liegt die Vermutung durchaus nahe, daß es ganz natürlich sein könnte, diese Atemrhythmen zu wechseln, so wie man die gewohnte Sitzhaltung oder Schlaflage verändert, um einen »Ausgleich zu finden oder »Einseitigkeit« zu vermeiden: »Ich kann zwar auf dem Rücken entspannen, aber zum Einschlafen muß ich mich auf den Bauch legen« oder »Eigentlich atme ich viel lieber aus, aber manchmal muß ich einfach ganz tief einatmen.«
Auch die Sichtweise, daß doch gerade im Verbinden, im Integrieren dieser Gegensätze die Aufgabe liegen müsse, könnte diese Vermutung unterstützen. Sie begegnet uns immer wieder, besonders unter Atemoder Stimmlehrern. Das Singen selbst sei doch schließlich ein ganzheitlicher, auf Einheit und Verbindung abzielender Prozeß, der nicht auf der Basis von »Einseitigkeiten« entstehen könne. Nun, der Meinung sind wir auch! Aber abgesehen von jeder theoretischen Überlegung zeigt unsere jahrelange praktische Erfahrung mit der Stimme etwas anderes: das genaue Gegenteil! Sie bestätigt auf verblüffende Weise, daß
die Natur für jeden Menschen nur einen dieser beiden Rhythmen vorgesehen hat, entweder den Einatem- oder den Ausatemrhythmus. Im Moment unserer Geburt manifestiert sich einer dieser beiden und durchdringt und begleitet unser ganzes...