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E-Book

Sonderpädagogik

Erkenntnisse der Hirnforschung und ihre Bedeutung für die Körperbehindertenpädagogik

AutorEdith Staud, Michael Staud
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl228 Seiten
ISBN9783743106406
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
In diesem Buch wird versucht die Bedeutung der Erkenntnisse der Hirnforschung in Bezug auf die Körperbehindertenpädagogik darzustellen. Die Problematik wird sowohl in Theorie als auch in Praxis dargestellt. Es richtet sich an Lehrer und Eltern behinderter Kinder. Die Autoren haben sich intensiv mit der Thematik der Hirnforschung beschäftigt und dabei ihre zentrale Bedeutung für den Bereich der Pädagogik erkannt. Es ist wichtig, dass die besondere Problematik körperbehinderter Kinder und Jugendlicher frühzeitig erkannt wird und sie entsprechend ihrer Probleme ressourcenorientiert gefördert werden können. Dieses Buch soll Hilfestellung geben, damit Lehrer, Eltern, Mitarbeiter an Behinderteneinrichtungen und Lehramtsstudenten zu einem besseren Verständnis der Problematik gelangen. Homepage: www.staudbooks.de

Edith Staud ist Sonderschullehrerin, hat 28 Jahre an einer Körperbehindertenschule gearbeitet und kennt daher die Praxis aus erster Hand.

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Leseprobe

3 Behinderung und Körperbehinderung


Da bisher der Versuch unternommen wurde Erkenntnisse der Hirnforschung darzustellen, möchte ich mich nun im folgenden dem Personenkreis der Behinderten zuwenden. Zunächst ist zu klären, was unter den Begriffen der Behinderung, Körperschädigung und der Körperbehinderung zu verstehen ist.

Dabei ist es wichtig zwischen Behinderung und Schädigung zu unterscheiden (vgl. Hedderich 2006, S. 19)

„Behinderung ist — nach dem Verständnis der ICF - ein Oberbegriff für Schädigungen auf der organischen Ebene (Körperfunktionen und Körperstrukturen), Beeinträchtigungen auf der individuellen Ebene (Aktivitäten) oder auf der gesellschaftlichen Ebene (Teilhabe). Die genannten Ebenen beeinflussen sich wechselseitig und stehen darüber hinaus in Wechselwirkung mit den Kontextfaktoren (Umweltfaktoren, personenbezogene Faktoren).“ (Hedderich 2006, S. 21)

Der Begriff der Körperschädigung dagegen betrifft die organische Ebene (vgl. Bergeest 2006, S. 18). Unter Körperschädigung ist die Beeinträchtigung einer Körperfunktion oder einer Körperstruktur (Körperstrukturen sind die anatomischen Teile des Körpers, die Organe, Gliedmaßien und die Bestandteile der Gliedmaßen) gemeint, (vgl. Hedderich 2006, S. 20).

Wie auch beim Begriff der Behinderung drei Ebenen unterschieden werden, die Schädigung auf der organischen Ebene, die Beeinträchtigung der Fähigkeiten aufgrund der vorhandenen Schädigung und die daraus resultierende soziale Benachteiligung, so ist dies auch beim Begriff der Körperbehinderung der Fall (vgl. Hedderich 2006, S. 20).

„Körperbehinderung ist ein Beschreibungsmerkmal für einen Menschen, der infolge einer Schädigung des Stütz- und Bewegungsapparates, einer anderen organischen Schädigung oder einer chronischen Erkrankung in seiner Bewegungsfähigkeit und der Durchführung von Aktivitäten dauerhaft oder überwindbar beeinträchtigt ist, so dass die Teilhabe an Lebensbereichen bzw. —Situationen als erschwert erlebt wird.“ (Hedderich 2006, S. 24)

Dies ist in der Regel mit einer sichtbaren Abweichung des äußeren Erscheinungsbildes im Vergleich mit den Nichtbehinderten verbunden. Diese Abweichung im Erscheinungsbild entspricht nicht den gesellschaftlichen Normen von Gesundheit und körperlicher Unversehrtheit und kann zu negativen Reaktionen führen.(vgl. Hedderich 2006, S. 24)

Menschen, die von der Gruppennorm in irgendeiner Weise abweichen, was bei Körperbehinderten der Fall ist, werden leicht zur Zielscheibe von Aggressionen der Gruppenmitglieder. Diese normerhaltende Aggression bewirkt die Angleichung des Abweichenden, (was der Körperbehinderte nicht leisten kann), oder seine Ausstoßung (vgl. Eibl-Eibesfeldt 2004, S. 411, 412). Ausstoßungsreaktionen sind Verspottung, Klatsch über die betreffende Person und Ausschluss aus der Gemeinschaft. Diese Ausstoßungsreaktionen sind dann besonders schlimm, wenn die betreffende Person nichts für die Abweichung kann (vgl. Ebl-Eibesfeldt 2004, S. 448, 449).

„Die Merkmale, die einen Menschen zum Außenseiter machen, sind einerseits verschiedene Abnormitäten des Verhaltens und Aussehens, welche man in jeder Kultur als abweichend empfinden würde; ferner bewußter oder unbewußter Verstoß gegen die Konventionen und Umgangsformen einer bestimmten Kultur. Körperliche Mängel führen dann zur Stigmatisierung, wenn sie die Person entstellen.“ (Eibl-Eibesfeldt 2004, S. 450)

Besitzt eine Person ein Merkmal, das sich der Aufmerksamkeit der anderen aufdrängt und bewirkt, dass sich die anderen Personen von ihr abwenden, so hat sie ein Stigma. Sie entspricht nicht den normativen Erwartungen ihrer Umwelt. Eine Behinderung stellt in der Regel ein Stigma dar. Die Folgen von Stigmatisierung sind Kontaktverlust, Isolation, Interaktionsprobleme und Identitätsstörungen (vgl. Bleidick 2001, S. 218, 219).

Eine Körperbehinderung kann zur Stigmatisierung des Betroffenen führen, denn das äußere Erscheinungsbild eines Menschen ist eine bedeutsame Determinante in der sozialen Interaktion. Die physische Attraktivität hat einen starken Einfluss auf die Einstellungen und das Verhalten anderer Personen. Sie beeinflusst auch das Bild, das sich die anderen von dieser Person machen. Attraktiven Menschen werden sozial erwünschte Eigenschaften zugeschrieben, körperlich unattraktive Menschen werden eher negativ beurteilt. Dies gilt auch für längerfristige soziale Beziehungen (vgl. Tröster 1990, S. 35, 36).

Betroffen sind Menschen mit Behinderungen, die mit einer ästhetischen Beeinträchtigung einhergehen, was bei körperbehinderten Menschen oft der Fall ist. Bei der ersten Begegnung versetzt das durch die Behinderung abweichende Erscheinungsbild die Nichtbehinderten in einen Zustand unangenehmer Erregung und des Erschreckens. Es kommt zu affektiven Reaktionen wie Angst, Ekel, Abscheu und Abwehrreaktionen, die durch den Anblick des behinderten Menschen hervorgerufen werden, der Entstellungen aufweist. Diese Reaktionen sind nur wenig beeinflussbar, der Ausdruck kann allenfalls unterdrückt oder kaschiert werden (vgl. Tröster 1990, S. 37, 38).

Die Betroffenen werden immer wieder mit solchen Reaktionen konfrontiert und nach der Stigma-Identitäts-These führt dies zu einer Gefährdung bzw. Veränderung der Identität (vgl. Bleidick 2001, S. 219).

„Das Selbstkonzept sehr vieler Kinder mit Körperbehinderung wird geprägt von der Erfahrung der Etikettierung durch die Mitwelt. Entscheidend sind Unterstützungsbedarf, Fremdbestimmtheit und Abhängigkeit. Biographische Zeugnisse weisen darauf hin, dass nicht primär die Behinderung ein tiefgreifendes Minderwertigkeitsgefühl hervorruft, sondern die Reaktionen des sozialen Umfeldes.“ (Knop 1998 zit. n. Hedderich 2006, S. 26)

Wie ich aus der Praxis weiß, sind diese Reaktionen auch unter körperbehinderten Schülern zu beobachten. Leichter behinderte Schüler haben schwerbehinderte Schüler stigmatisiert. Abwertende Äußerungen wurde von mir im Unterricht aufgegriffen und besprochen, um eine verantwortungsvolle Einstellung bei den Schülern zu entwickeln, was auch gelungen ist.

3.1 Belastung und Reaktionen der Eltern


Da die Eltern in der Regel die ersten Bezugspersonen des Kindes sind, möchte ich im folgenden ihre Belastungen und Reaktionen beschreiben. Wird die Diagnose einer Behinderung den Eltern mitgeteilt, so löst das fast in jedem Fall eine akute Krise aus. Dies kann nach der Geburt, nach einer Erkrankung oder nach einem Unfall gegeben sein (vgl. Krause 2002, S. 19).

Die Eltern erleben das akute Krisenereignis dann, wenn mit oder ohne Geburtskomplikation die Behinderung des Kindes eindeutig feststeht, oder wenn sie zu einem späteren Zeitpunkt vollkommen unerwartet erkannt wird. Bei vielen Behinderungen dauert es aber oft Jahre, bis eine Diagnose gestellt werden kann. Die Eltern sind in dieser Zeit immer mehr verunsichert in der Einschätzung des Kindes. Das Krisenereignis besteht dann aus einer Ansammlung von Wahrnehmungen, Mitteilungen und Beobachtungen, die nach und nach immer bedrohlicher erscheinen. Nach der Diagnose beginnt oft ein in die Länge gezogenes Krisenereignis, in dem immer wieder aufs Neue bedrohliche und leidauslösende Situationen entstehen (vgl. Krause 2002, S. 19).

Alle Eltern durchleben, wenn sie die Behinderungsdiagnose erhalten, akute Belastungsreaktionen, die einer traumatischen Krisensituation entsprechen (vgl. Krause 2002, S. 41).

Einige davon entwickeln posttraumatische Belastungsstörungen (vgl. Krause 2002, S. 48).

„Als «Trauma» wird das Erlebnis einer extremen, durch Bedrohung, Gewalt oder Lebensgefahr charakterisierten Gefahrensituation bezeichnet, bei der keinerlei Möglichkeit bestand, zu entrinnen oder irgendetwas zu tun, um die Situation zu beeinflussen.“ (Bauer 2008b, S. 175)

Die meistern Traumaursachen sind die Gewaltsituationen in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Das Traumaerlebnis hat eine extreme Aktivierung der Alarmsysteme im Gehirn zur Folge (siehe Kapitel 2.5). Dadurch entstehen Veränderungen in den neurobiologischen Strukturen des Gehirns (vgl. Bauer 2008b, S. 176).

Die posttraumatische Belastungsstörung ist eine Gesundheitsstörung. Symptome dieser Störung sind Schlafstörungen mit Albträumen, emotionale Irritierbarkeit, Angst- oder Panikzustände, Schreckensbilder, die tagsüber in der Vorstellung auftauchen, Konzentrationsstörungen, Schreckhaftigkeit, Erinnerungsprobleme und ängstliches Vermeidungsverhalten oder Interessenverlust. Ein weiteres Symptom ist die Dissoziation, das ist ein Abwehrmechanismus, mit Hilfe dessen ein Organismus versucht aus einer Situation herauszukommen, die er emotional nicht mehr aushält (vgl. Bauer 2008b, S. 165-167).

Dabei entfernt man sich seelisch gesehen aus dem eigenen Befinden und nimmt Abstand zur eigenen Identität. Die Dissoziation wird durch Signale ausgelöst, die angstbesetzt sind und sie kann, wenn sie einmal aufgetreten ist auch ohne ein weiteres Traumaerlebnis immer wieder auftreten (vgl. Bauer 2008b, S. 180-182).

Die Eltern körperbehinderter Kinder sind also einem schicksalhaften Ereignis gegenübergestellt (die...

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