Exkurs 1
»Der Geschmack der Erinnerung«
Die verlassene Maulbronner Gießerei
Die Vorgeschichte
Die wechselhaften Geschicke der Maulbronner Gießerei waren eng mit dem Schicksal der Familie Schenk verwoben – tief in der Heimat verwurzelt und ihr Glück zwischenzeitlich doch auch in der Ferne bzw. im Neuen suchend.
Im Rückblick auf das (aus unserer heutigen Sicht) noch nicht sehr mobile 19. Jahrhundert mag man wohl staunen, dass die Familie im südafrikanischen Brauereiwesen ihr Glück machte und zu Wohlstand kam, dass es den Sohn Wilhelm dann aber wieder in die alte Heimat trieb, wo er 1913 die Leichtgusswerke W. & W. Schenk als Familienunternehmen gründete.
Im Laufe seines nur 45-jährigen Lebens betätigte sich Wilhelm Schenk (1879–1924) als »Steinhauer, Bierbrauer, Auswanderer, Soldat, Industrieller, Gründer der Sanitätskolonne Maulbronn und Jäger«, wie der Maulbronner Stadtarchivar Martin Ehlers anlässlich der Eröffnung des Maulbronner »Museums auf dem Schafhof« (übrigens immer einen Besuch wert, bisweilen gibt es dort auch Kaffee und Kuchen, wobei der Eintritt in Form einer selbst bemessenen Spende willkommen ist) im Jahre 2009 ausführte.
Man ahnt, welche Umtriebigkeit und vermutlich auch Zerrissenheit in jenem Menschen geherrscht haben mag. Ein vorausschauender und vorantreibender Mensch war Wilhelm Schenk, um das einmal in neuzeitlichen Begriffen zu formulieren, aber gewiss. Er bündelte die verschiedenen, seit Urgedenken bekannten Gießtechniken in industrieller Form und schuf damit Arbeitsplätze und Wohlstand. Der Betrieb war über lange Zeit der mit Abstand größte am Ort.
Auch dunkle Seiten sind aber zu erwähnen: An der Rüstungsproduktion beider Kriege wurde offensichtlich kräftig mitverdient und Zwangsarbeiter wurden im 2. Weltkrieg dort auch geschunden. Der Betrieb war darüber hinaus, wie mir ein Maulbronner anvertraute, »über Jahrzehnte die größte Dreckschleuder vor Ort, sodass sich eine Fassadenrenovierung des in Hauptwindrichtung gelegenen Klosters über lange Zeit gar nicht lohnte«.
In den 1990ern geriet der Betrieb im Zuge der Krise der weltweiten Automobilindustrie, bestehender Überkapazitäten und horrenden Preisverfalls in ernste Schwierigkeiten. Er mußte 1999 erstmals Insolvenz anmelden und verlor seine Eigenständigkeit mit der Übernahme durch den US-amerikanischen Hayes-Lemmerz-Konzern. Dieser geriet später selbst in Turbulenzen und bot so dem Renninger Gießerei-Unternehmer Detlef Kloß 2002 eine Einstiegschance. Der Betrieb fand sich daraufhin im Verband der Metallwerke Kloß (MWK) wieder, der damals zu den Top Five der deutschen Gießerei-Branche zählte, was neuerliche Hoffnungen auf Fortbestand schürte. Doch auch hier wurden Investitionen verschoben und umgelenkt. 2007 gingen die Anteile in die Hand der Georgsmarienhütte Holding GmbH über.
Abb. 14: Das Firmenlogo der Maulbronner Gießerei, private Aufnahme.
Nach diesem dritten und letzten Verkauf war nichts mehr zu retten. Schließlich wurde 2009 die Produktion eingestellt und neuerlich Insolvenz angemeldet. Die Suche nach einem neuen Investor für den alten Zweck blieb ergebnislos.
Die Geschichte mit den Reihumverkäufen, dem Schlucken der Kleinen durch die Großen, der sukzessiven Fortnahme dortiger Expertise, der freiwilligen Lohnzurückhaltung der Mitarbeiter und schließlich der marktbereinigenden Glattstellung mutet an wie ein Lehrstück des entfesselten Monopolkapitalismus. Hier findet sich ein auf der einen Seite immer schneller drehender Kreisel von Enteignung und Fusionierung durch immer mächtiger werdende Konzerne; auf der anderen Seite ein »Nachtwächterstaat«, der sich in erster Linie um den Schutz des ungezügelten Produktiveigentums und der freien Marktkräfte kümmert, in seiner sozialen Variante aber immerhin auch die völlige Verelendung der freigestellten Arbeitskräfte verhindert.
Das Ganze hatte noch ein Nachspiel dahingehend, dass das mitten im Ort gelegene Gelände durch den jahrzehntelangen Betrieb hochgradig kontaminiert war und so eine Umnutzung und Neubebauung (Same Procedure: Baumärkte, Parkplätze, Reihenhäuser, ...) erheblich erschwert war. Hinzu kam, dass sich die Experten der verschiedenen Seiten (Insolvenzverwalter, Umweltbehörde) über Jahre hinweg nicht über den tatsächlichen Verseuchungsgrad einigen konnten, sodass das Areal letztlich in einen Dornröschenschlaf fiel.
Abb. 15: Übersichtsplan der Maulbronner Gießerei, bei den Fotodurchgängen im Abraum gefunden und mangels Auszeichnung hinsichtlich der Urheberschaft nicht mehr zuordenbar.
Das Projekt
Das 1993 in den Katalog des UNESCO-Welterbes aufgenommene Kloster Maulbronn war mir schon seit Längerem bekannt. Schließlich fiel mir auf, dass sich nur wenige Hundert Meter davon entfernt ein weiteres Areal, etwa gleich groß wie das Klostergelände, hinter hohen Zäunen hermetisch verschlossen und seit 2009 in besagten Dornröschenschlaf verfallen, erstreckt.
»Noch so ein geschichtsbeladener und schicksalsträchtiger Ort«, dachte ich Ende 2011, »doch im Vergleich zum weithin bekannten Kloster streng abgeriegelt und verborgen, seine Geheimnisse und Erinnerungen zugleich bewahrend und nicht preisgebend.«
So begann ich mit meiner Hintergrundrecherche. An dieser Stelle sei nochmals Martin Ehlers, dem Maulbronner Stadtarchivar, gedankt, der mir wichtige Einblicke in die Werksgeschichte gab und auch manchen Kontakt zu ehemaligen Beschäftigten knüpfte.
Die Berichte der früheren Schenk-Mitarbeiter lassen sich im Sinne einer fortbestehenden Schockstarre zusammenzufassen. Für die allermeisten bedeutete das Werk eine zweite Heimat, in der sie mit Stolz ihrer immer anstrengenden und oftmals auch gefährlichen Tätigkeit nachgingen – das Werk allein verbrauchte wesentlich mehr Energie wie der gesamte Rest der Gemeinde; und den Umgang mit den flüssigen Metallen, den dortigen Temperaturen und Dämpfen kannte ich zwar nicht aus eigener Anschauung, ich konnte es mir aber im Sinne der »Meisterung des Höllenfeuers« ausmalen.
Was in den Berichten der Zeitzeugen immer wieder anklang, war das »Phänomen des kippenden Stolzes«: Mit der Schließung des Betriebs schien auch ein Gutteil des beruflichen Selbstverständnisses, gar des Identitäts- und Beheimatungsgefühls verloren zu gehen. Mehrere Betroffene sprachen sogar davon, dass ihre Lebensleistung durch die Werksaufgabe zerstört und entwertet sei.
Die Gefühle waren in solchen Berichten sehr knapp unter der Oberfläche. Die nachfolgende Ausstellung der Arbeiten in der Städtischen Galerie Maulbronn im Jahre 2014 wurde dann auch fast mehr von Auswärtigen besucht. Wiewohl die Ausstellung durchaus der nochmaligen Inaugenscheinnahme und letztlichen Verabschiedung dienen sollte, trauten sich nur wenige der ehemaligen Beschäftigten dorthin. Es sei alles noch viel zu schmerzlich, der Anblick der Bilder, gerade solcher des Verfalls und Stillstands, rühre auch fünf Jahre nach der Schließung des Werks immer noch kaum verarbeitete Erinnerungen auf, erklärte mir einer dazu auf meine Frage hin.
Ich möchte an dieser Stelle kurz noch auf die Fotodurchgänge im Jahre 2012 eingehen. Es waren derer insgesamt vier, und da ich gerne in meditativer Zeitlupe arbeite, erstreckten sich diese jeweils über mehrere Stunden. Nach dem ersten dieser Durchgänge notierte ich mir: »Zentimeterdicker Staub am Boden, eine sich an der Haut festklebende Schicht aus Schlacken und Ruß ... in der Luft immer noch ein metallisch verbrannter Geruch, der sich bald als bitterer Geschmack auf der Zunge niederschlägt ... verlassene Hallen, Werkstätten und Büros, durch welche noch die Erinnerung an die früher dort geleistete Arbeit weht ... einzelne Fundstücke, die mir leise Geschichten erzählen wollen ... meine Gedanken und Gefühle sind bei denen, die hier Lohn und Brot fanden, aber auch bei denen, die hier ihre Gesundheit oder gar ihr Leben riskierten ...«
Einige Nachgedanken
Eine innere Beziehung, vergleichbar der zu den Mühlacker Ziegelwerken, konnte ich hier nicht aufbauen – vielleicht war die Phase der eigentlichen Fotodurchgänge zu kurz (ein Monat), vielleicht fehlte in den weithin leeren Hallen so etwas wie das »Beobachtungsmoment des Niedergangs« (es tat sich dort ja nichts). Und doch waren meine Empfindungen und Sinneswahrnehmungen stark (wie es im Prolog anklang) und versuchte ich, all dies in die Bilder hineinzuweben. Spricht der »Bann der Ehemaligen« (also jenes Fremdeln bei der Ausstellung) gar dafür, dass dies gelungen war?
Abb. 16: Der Geschmack der Erinnerung | Studie 12. Nicht das erste Bild in dieser Strecke, sondern das zwölfte, und doch habe ich diese Aufnahme bei meinen Ausstellungen und Wettbewerbseinreichungen stets als Indexbild verwendet. Dieser Blick aus dem Werkstattbüro in die ehemalige Schlosserei symbolisiert für mich eine Flucht...