Adornos Deutschland
Was ist deutsch? – Adorno will die Frage »reflektieren«. Der Begriff der Reflexion ist für Adorno zentral. Er hat darauf bestanden, dass Philosophen reflektieren müssen, ja, Denken heißt überhaupt Reflektieren. Dabei meint der Begriff weniger den bloß formalen Vollzug, sich noch einmal zu überlegen, was man sich gerade überlegt. Die reflexive Denkbewegung kommt vielmehr von selbst dazu, das Gedachte zu differenzieren. Sie verhält sich kritisch zu sich selbst. Reflexion und Kritik hängen zusammen.
Das geht über die Klärung des semantischen Gehalts von Aussagen hinaus. Reflexion ist für Adorno Denk-Ehrlichkeit. Stets reflektiert ein Selbst sich selbst angesichts des Anderen. Der Kritiker hat sich über den Ast zu unterrichten, an dem er sägt. Das hat Adorno recht weit getrieben. Für ihn hatte z. B. der Universitätslehrer den Zustand der Institution, die ihn ja immerhin nährte, widerständig zu durchleuchten. Kritik wird dann unvermeidbar Selbstkritik. Kein Ort der Kritik, der nicht ihr selbst ausgesetzt ist. Sie legitimiert sich einzig und allein reflexiv. Philosophie ist in weiten Teilen gar nichts anderes als das.
Doch es gibt gewiss noch einen anderen Grund für Adornos nicht unironische Bemerkung, dass »zuvor« »über die Frage selbst zu reflektieren«8 sei. Insofern die Reflexion eine Tätigkeit des Intellekts und Intellektuellen ist, wurde die Tätigkeit zur Zeit des »Dritten Reichs« als undeutsch und d. h. als »jüdisch«9 betrachtet. Adorno war sich von Anfang an bewusst, dass ein Pochen auf der Reflexion viele Deutsche störte. Noch heute klingt das Wort nach Untätigkeit, nach überflüssiger Vorsicht, nach Zögerlichkeit. »Kritische Selbstbesinnung« hatte damals, zwanzig Jahre nach dem Kriegsende, den Charakter der »Nestbeschmutzung«10. Nicht nur die »Äußerung unbequemer Gedanken, sondern diese selbst« sollten verhindert werden. Welcher Deutsche kritisierte das Deutschsein? Auf Defätismus stand im Krieg die Todesstrafe – Nibelungen sind treu.
Resultat der Reflexion war eine Kritik der Frage. Die »Bildung nationaler Kollektive« gehorche einem »verdinglichenden, zur Erfahrung nicht recht fähigen Bewußtsein«. Sie halte sich »innerhalb jener Stereotypen, die vom Denken gerade aufzulösen wären«. Das »Wahre und Bessere in jedem Volk« sei »wohl vielmehr, was dem Kollektivsubjekt nicht sich« einfüge, »womöglich ihm widerstehe«.11 »Stereotypenbildung« fördere den »kollektiven Narzissmus«, vor allem dann, wenn die Stereotypen von der Überlegenheit des Eigenen über das Andere erzählen.
Ein der Erfahrung zugängliches Bewusstsein bewege sich nicht in kollektiven Zuschreibungen wie denen, dass die Deutschen pünktlich, sauber und redlich seien. Abgesehen von der Ambivalenz solch »deutscher Tugenden«, die vor kurzem noch besonders im Fußball gefeiert wurden12, wird die konkrete Praxis der Gemeinsamkeit durch eine Vielheit von Charakteren geprägt, die sich nur unter Preisgabe ihrer Individualität auf eine solche Identität festlegen ließen. Das Leben mit einem Anderen, das ich erfahre, erfahren muss, kristallisiert sich nicht in einer wie auch immer gearteten Nationalität. Mache ich aus meinem russischen Freund den Russen, habe ich das, was uns verbindet, schon aus den Augen verloren. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass ich das potenziell Russische im Charakter dieses Freundes übersehe oder gar leugne.
Doch obwohl Adorno mit dieser Reflexion der Frage, was deutsch sei, ihre Legitimität abzusprechen scheint, nimmt er eine Definition des Deutschen auf, von der nun alle seine Erklärungen ausgehen. Die Bereitschaft dazu ist allerdings überaus wichtig. Sie bezeugt, dass Adorno der politischen Möglichkeit, in der deutschen Geschichte mehr zu sehen als nur eine Katastrophe, nicht ausgewichen ist. Richard Wagner war es nämlich, der feststellte: »deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun«.13 Kein Zufall, dass Adorno gerade Wagners berühmten Satz wählte. Wagners Welt ragte in seine Kindheit hinein. Mit ihr ist der Philosoph aufgewachsen. Zugleich galt Wagner weithin als ein Repräsentant jenes Deutschland, das man hinter sich lassen wollte.
Adorno unterscheidet zunächst zwischen dem »imperialistischen Oberton, der den reinen Willen der Deutschen dem vorgeblichen Krämergeist zumal der Angelsachsen« entgegensetzt und dem »Richtigen«, »daß das Tauschverhältnis, die Ausbreitung des Warencharakters über alle Sphären, auch die des Geistes«, »in Deutschland nicht so weit gediehen war wie in den kapitalistisch fortgeschritteneren Ländern«. Das habe »zumindest der geistigen Produktion einige Resistenzkraft« verliehen.
Wagner hatte in seinem Aufsatz »Deutsche Kunst und deutsche Politik« von 1868 in typischer Diktion geschrieben, dass es »hier«, in den an den Griechen anknüpfenden Dramen Schillers, »zum Bewußtsein« gekommen sei und »seinen bestimmten Ausdruck, was Deutsch sei«, erhalten habe, »nämlich: die Sache die man treibt, um ihrer selbst willen und der Freude an ihr willen treiben«.14 Davon müsse man das »Nützlichkeitswesen, d. h. das Prinzip, nach welchem eine Sache des außerhalb liegenden persönlichen Zweckes wegen betrieben« werde, unterscheiden. Das sei »undeutsch«. Diese »Tugend des Deutschen« falle daher »mit dem durch sie erkannten höchsten Prinzipe der Ästhetik zusammen, nach welchem nur das Zwecklose schön« sei.
Wagner ging es um den »deutschen Geist«15, insofern dieser sich in einer politisch-ästhetischen Koalition manifestieren sollte. Er, der gerade mithilfe Ludwigs II. die »Meistersinger« in München uraufgeführt hatte, war ständig auf großzügige finanzielle Unterstützungen angewiesen, um seine Projekte, zum Beispiel den »Ring des Nibelungen«, realisieren zu können. Ludwig II. war ein wichtiger Partner. Wagner lebte damals noch mit Cosima von Bülow und ihren gemeinsamen Kindern in Tribschen bei Luzern. Im April desselben Jahres stellte sich dort ein gewisser Friedrich Nietzsche vor; Ereignis einer deutschen Geistesgeschichte, die in der Begegnung zwischen Wagner und Nietzsche explosiv wird.
Wagner suchte eine metaphysische Bestimmung: Die Deutschen – das Volk der Kunst. Adorno dreht den Gedanken zunächst in eine soziologische Richtung. Er setzt dem »nach den Marktgesetzen handelnden Unternehmer« den »seine Pflicht gegenüber der Obrigkeit erfüllenden Beamten« entgegen. Kant und Fichte kämen dem zweiten Charakter recht nahe. Der Beamte – er dient der Sache um ihrer selbst willen. Der Zweck ist ihm zweitrangig. Die Pflicht gebietet, koste es, was es wolle.
Allerdings hat die Bestimmung, dass die Deutschen vor allem das tun, was seinen Sinn in sich selbst hat und nicht etwa im Geld, bei Wagner einen unverkennbar antisemitischen Ton. In einem anderen Aufsatz mit der Überschrift »Was ist deutsch?«, drei Jahre vor »Deutsche Kunst und deutsche Politik« entstanden, kommt das zum Vorschein. »Der Jude« scheine »den Völkern des neueren Europa’s überall zeigen zu sollen, wo es einen Vortheil gab, welchen jene unerkannt und unausgenutzt ließen«. Der »Pole und Ungar« habe »nicht den Werth« verstanden, »welchen eine volksthümliche Entwickelung der Gewerbethätigkeit und des Handels für das eigene Volk haben würde: der Jude zeigte es, indem er sich den verkannten Vortheil aneignete«. Für die Entstehung eines deutschen Selbstverständnisses, sich für das Volk des Selbstzwecks zu halten, ist diese Deutung des Judentums nicht unwichtig. Man wollte auf jeden Fall so nicht sein, wie man sich die Juden dachte.16
Es ist nicht viel Phantasie nötig, um in der Vergötzung der Pflicht, in dieser bürokratischen Zentral-Disposition, das Deutsche par excellence wiederzuerkennen – auch dann, wenn dieses Bild karikaturhafte Züge aufweist. Der Deutsche – der Büro-, der Technokrat. Eine solche Zuschreibung, die den Deutschen zu einem emotionalen Krüppel erklärt, hat ihre Ursache. Sie führt unmittelbar zurück auf das, was Adorno in Auschwitz erkannte. Lässt sich Pflicht nicht verstehen ohne einen beabsichtigten Mangel an Empathie, so ist »Kälte« ein »Grundprinzip der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre«.17 Dass Ruhe und Ordnung die erste Pflicht des Bürgers sei, ist für deutsche Ohren eine Selbstverständlichkeit. In ihr kehrt die Abneigung gegen Reflexion und vor allem Kritik wieder.
Auschwitz – Modell für die Kälte der Technokratie. Technokratie braucht Technokraten. Bei dem »Typus, der zur Fetischisierung der Technik« neige, handele es sich...