Ermutigung
Inspiration ist ein vielversprechendes Wort. Es verheißt das Ende einer Suche, an deren Anfang man sich vermutlich leer gefühlt hat, einfallslos, ratlos, gehemmt, blockiert wie vor einer Wand ohne Aussicht auf Auswege. Und jetzt?
Inspiration. Ist der verheißungsvolle Zustand einmal eingetroffen, gleichen sich die Beschreibungen. Das Ende der Ausweglosigkeit geht plötzlich über in euphorische Schaffens- und Gestaltungskraft. Mut, Befreiung, Erregung, Bestärkung, Freude, Begeisterung herrschen vor, ein «Selbstläuferprogramm» wird gestartet, zielsicher, beflügelt, frei, unbekümmert, stark, beschwingt, wie von sich selbst fremdgesteuert, entgrenzt und voller Energie fühlen sich die Menschen, die wir im Vorfeld dieses Buches nach ihren Erfahrungen mit Inspiration befragt haben. Inspiriert sein sei ein Finden, nicht ein Suchen, schrieb uns einer der Befragten zurück. Und dieses Finden sei ein rarer Glückstreffer.
Es gibt dieses Glück – tausendfach beschrieben in der Kulturgeschichte. Ein schweifender und damit unvollständiger Blick in die Geschichte des Begriffs zeigt, dass die Idee der Inspiration durch Jahrtausende Geltung hat und dabei immer dem Wandel unterliegt. Inspiration kommt als eine essenzielle Grundvoraussetzung für das schöpferische Tun in Frage und wird zugleich immer wieder in Frage gestellt. Als Quelle für den Gestaltungsprozess wird sie bei Göttern oder ausschließlich bei dem einen Gott verortet, auf Bergen, im Himmel, im Dickicht, in der Vergangenheit, in der Erinnerung, in der Tradition, in der intellektuellen Auseinandersetzung, im Handwerk, in der Arbeit. Die Bereiche, in denen diese Debatten stattfanden, sind vorwiegend Theologie, Wissenschaft und Kunst, allen voran die Dichtkunst – nicht aber lebensweltliche Gefilde. Es sind Literaten, Musiker, bildende Künstler, Wissenschaftler, Gottesfürchtige, alle Dichtenden oder Denkenden, die seit der Antike für sich an- oder in Anspruch nehmen, an der Startposition ihres Schaffens jenseits der Grenzen des Alltäglichen den «Einfall» haben zu können oder zu dürfen – dort, wo das Außergewöhnliche oder eben das Göttliche vermutet wird. Wichtig scheint zu sein, dass Menschen von einem dort den entscheidenden Impuls für die eigene Gestaltungskraft empfangen: Inspiration.Wie fühlen Sie sich, wenn Sie inspiriert sind?
«Ich fühle mich, nachdem ich alle Ideen aufgeschrieben oder auch gleich umgesetzt habe, sehr leicht, und eine schöne Zufriedenheit entsteht.»
RENÉ TALMON L’ARMÉE, GOLDSCHMIED
In den glitzernden Schaufenstern der Moderne findet man das Etikett «Inspiration» aber nur noch irgendwo zwischen Sehnsucht und Lifestyle: als vergangene Aura, transportiert mit der neuesten Duftkreation, als windiger Hauch von Frische, wo eigentlich der Schweiß das Sagen hat, abgetaucht in der Kaffeetasse oder entsorgt als schmückender Aufdruck auf einer Sonderedition Klopapier: Inspiration am A…
Auch Künstler distanzieren sich heute vom Begriff der Inspiration. An die exponierte Stelle dessen, was unter dem Stichwort Inspiration debattiert wurde, treten andere Begriffe: Intuition etwa oder Imagination. Sie bezeichnen nur konsequent einen sich eher ausschließlich im Subjekt vollziehenden Vorgang. Intervention von außen steht in den Begriffsdefinitionen nicht im Fokus, auch wenn die Interaktion mit der Umgebung letztlich für keinen Denkprozess ausgeklammert werden kann.«Inspiration? – Wer oder was soll aber in diesem Moment ‹begeistern› – den Geist einhauchen? – Solange die Götter noch nicht im Exil waren, sollte es ihre Aufgabe sein – solange eine christliche Heilswirklichkeit angezielt war, besorgten dies die Engel, Propheten, Apostel und Visionäre – solange die Drogenkultur des 20. Jahrhunderts berauschte, war das keine Frage – aber heute in einer entspiritualisierten designhaften-eventmodischen Postmoderne ist die Frage überflüssig – vielleicht finden wir die Initialzündung des Gestaltungsprozesses im Phänomen der Imagination …»
BERT GERRESHEIM, BILDHAUER
(Gerresheim, B. [Juli 2016], Auszug aus einem Brief an J. Mittelstraß)
Nach 1945 scheint außerdem ein neues Konzept breitbeinig Karriere zu machen – die «Kreativität», in den 1920er Jahren ins Feld geführt von dem Psychologen Graham Wallas. Kreativität für jedermann heißt die Devise in einer Welt, die nach den Kriegserfahrungen in jeder Hinsicht auf Neuerungen, auf Innovationen setzen muss und auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ihrer «Schaffenden» angewiesen ist. Kreativ zu sein avanciert zu einer erlernbaren Kompetenz. Unzählige Methoden für das kreative Denken und Handeln werden entwickelt, die auf einer Abfolge klar identifizierbarer Phasen basieren, welche sich heute im Internet wiederum blitzschnell für den Hausgebrauch recherchieren lassen. Kreativität definiert das Gabler Wirtschaftslexikon online als «die Fähigkeit eines Individuums oder einer Gruppe, in phantasievoller und gestaltender Weise zu denken und zu handeln», und referiert dann den Einsatz von Techniken, die zum kreativen Produkt führen, das seinerseits «gleichzeitig neu und angemessen, nützlich oder wertvoll für die Lösung eines Problems» ist. Der Kreationsprozess als planbarer Denkprozess wird Kriterien von Effizienz unterworfen. Was herauskommt, muss vorhersagbar und später evaluierbar sein, die Interaktion mit der Umgebung tritt auch hier eher in den Hintergrund.
Inspiration ist in den neuen Kontexten ein offenbar zu schwammiger und aufgeladener Begriff. Außerdem ist er bei genauem Hinsehen mit einem Vertrauensvorschuss verbunden. Irgendwie muss man nämlich immer warten, bis Etwas passiert.
Dieses Etwas und die Wucht, mit der Es auftritt, scheint jeder mindestens einmal im Leben empfunden zu haben. Der Zustand bleibt unvergessen – mehr noch, man will ihn wieder haben. Aber wie? Wie genau kommt man von der erlebten Leere zur unerwarteten Fülle? Was ist diese Inspiration? Und warum kann man ihrer nicht unmittelbar habhaft werden, genau dann, wenn man sie braucht? Muss das sein, diese lästige Warterei?
Warten scheint zur Inspiration dazuzugehören. Immerhin, das Warten kann und sollte man – wie im Verlauf der Lektüre dieses Buches unter «Inspirationsquellen» beschrieben – füllen: mit (einsamen) Wanderschaften oder (trostloser) Langeweile wie der antike Dichter Ovid, mit (Menschen-)Beobachtungen wie Marcel Proust, mit (starren) Blicken wie der Maler vor der leeren Leinwand. Inspirierende Vorlagen für solche Warterei finden Sie im Kapitel «Ein Quentchen Genialität».
Auch Schlaf hilft, wenn gar nichts mehr geht. Aber in Zeiten, in denen der Mittagsschlaf abgeschafft wurde, die bequeme Couch aus den Großraumbüros flog und die allgegenwärtige Kontrolle der Schaffensprozesse erstes Gebot ist, wird nicht mehr «sinnlos» gewartet, werden keine Löcher mehr in die Luft gestarrt. Es ist weder angesagt noch angemessen, Eingebungen und Ideen im Müßiggang oder in magischen Momenten zu suchen. Arbeitsstress ist en vogue, abwartendes Empfangen dagegen scheint fast ein Zeichen für Versagen zu sein. Unter dem Stichwort «Scheinstress» veröffentlichte «Die Zeit» am 4. August 2016 einen kleinen Artikel zum Zeitgeist von Fritz Habekuss mit dem Titel «Im Chor der Erschöpften. Nur wer ausgebrannt ist (oder so tut), gilt etwas». Das Seufzen, Jammern und «Erschöpfttun» sind in Mode gekommen, Begeisterung oder Enthusiasmus sind geradezu befremdlich und suspekt, gelten gerne als blind oder naiv. Begeistert bei der Arbeit? Der hat doch keine Ahnung!
Nimmt man das kollektive Jammern nach fehlender Inspiration – «Mir fällt doch eh nichts ein!» – ernst, dann muss man zunächst einmal anmerken: Inspiration ist nicht nur Dichtern und Denkern vorbehalten, wie es vielleicht der kulturgeschichtliche Streifzug im Kapitel «Ein Quentchen Genialität» suggeriert. Auch jeder andere Tätige kann den Zustand erfahren, von dem durch Jahrhunderte hinweg die Rede war, es war einfach nur noch nicht von jedermann die Rede. Wenn sich Künstler oder Wissenschaftler gegen die Uninspirierten abgrenzen, ist das allenfalls der Selbstinszenierung oder einem Nimbus geschuldet, der sie als Kreierende umgibt. Aber ob aus inspiriertem Gestaltungsdrang am Ende Kunst oder Wissenschaft entsteht, ist eine ganz andere Frage, die hier nicht zur Debatte steht. Über die Kreationen und Ergebnisse «inspirierter» Arbeit möge die Gesellschaft urteilen. Davon losgelöst spricht nichts dagegen, jedem Menschen Schaffenskraft zu unterstellen und die Verwendung des Begriffs Inspiration zu demokratisieren. Das versucht dieses Buch, das Sie in der Hand halten.
Was Sie darin finden werden, lässt sich als Ermutigung beschreiben: die Ermutigung, Inspiration in Alltag und Arbeitsleben zu integrieren. Was Sie auch finden werden, ist die Behauptung, dass das geht, wenn Sie zugleich erfahren haben, wieso – und zwar ohne Überhöhungen, Mystik, Götter und Brimborium. Nur geht es nicht gänzlich ohne grundlegende Bereitschaft, aktiv zu werden. Selbst ein gemütliches Ambiente zu schaffen bedarf, wie jeder weiß, auch ein wenig Arbeit. Einrichtungsprofis können vielleicht Vorschläge machen, aber was «gemütlich» ist, muss am Ende aus einem endlosen Katalog der Möglichkeiten jeder selbst entscheiden – und dann entlang der eigenen Bedürfnisse zusammenstellen.
Auf der Suche nach Ihrem...