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E-Book

Lenins Zug

Die Reise in die Revolution

AutorCatherine Merridale
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783104033303
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
In »Lenins Zug. Die Reise in die Revolution« erzählt die große britische Historikerin Catherine Merridale fulminant die Geschichte der berühmtesten Zugfahrt der Weltgeschichte, an deren Ende das Zarenreich unterging und die Sowjetunion entstand. Als 1917 der Erste Weltkrieg endlos zu werden drohte, beschloss die deutsche Regierung, den Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin nach Russland zu schmuggeln - nicht ahnend, dass Lenins Fahrt im plombierten Waggon in die weltstürzende Oktoberrevolution münden würde. Spannend schildert sie eine Welt, die wir sonst nur aus Spionageromanen kennen: Agenten in teuren Hotels, Diplomaten auf glattem Parkett, debattierende Exil-Revolutionäre in verrauchten Cafés - und draußen auf den Straßen St. Petersburgs marschieren die streikenden Fabrikarbeiter. Sie sind es, die Lenin schließlich jubelnd in einem Meer roter Fahnen in St. Petersburg empfangen. Tag für Tag beschreibt Catherine Merridale den Sog der Ereignisse und die Träume und Taten der Menschen, die sie in Gang setzten oder von ihnen mitgerissen wurden. Eine grandiose Erzählung, die den Moment einfängt, als Lenin triumphierte - und eine neue, blutige Ära begann, die für Europa und die Welt bis heute nicht ganz vergangen ist.

Die renommierte Russlandhistorikerin Catherine Merridale arbeitete bereits für ihre Dissertation über die KP unter Stalin an der Universität Moskau. Sie promovierte 1987 in Cambridge und war anschließend Dozentin am King's College/Cambridge. Ab 1993 war sie Professorin für Geschichte an der Universität Bristol, seit 2004 lehrt sie an der Queen Mary University/London. 2007 erschien bei S. Fischer ihr Buch ?Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939-1945?.

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Leseprobe

1. Dunkle Mächte


Heute Minister – morgen Bankier; heute Bankier – morgen Minister (…). Am Krieg bereichert sich ein Häuflein von Bankiers, das die ganze Welt in Händen hält.

W.I. Lenin

Im März 1916 brach ein britischer Offizier namens Samuel Hoare nach Russland auf. Das Letzte, was er im Sinn hatte, war der revolutionäre Sozialismus. Wäre er gefragt worden, hätte er wahrscheinlich gemurmelt, dass er als Soldat kämpfen wolle – bei Beginn des Krieges mit Deutschland hatte er sich als einer der Ersten zur Norfolk Yeomanry gemeldet –, doch seine körperliche Schwäche hatte einen aktiven Gefechtsdienst zunichte gemacht. Stattdessen war er mit sechsunddreißig Jahren von Sir Mansfield Smith-Cumming, dem legendären »C«, für den britischen Nachrichtendienst zum Einsatz in der russischen Hauptstadt Petrograd rekrutiert worden.[11] Während andere Mitglieder seiner Gesellschaftsschicht in den Schützengräben lagen, meisterte er Spionage, Zensur und Codierung. Wahrscheinlich experimentierte er auch mit Verkleidungen. Sein neuer Chef war geradezu süchtig danach und ließ seine eigenen Ausstattungen von William Berry Clarksons Kostümgeschäft in der Wardour Street in Soho entwerfen.[12]

Hoares zugewiesene Aufgabe war kompliziert. Er sollte herausfinden, ob die russischen Verbündeten seines Landes ihren Teil eines im Krieg abgeschlossenen antideutschen Handelsembargos einhielten. Die Briten legten darauf besonderen Wert, da sie hofften, nach dem Gewinn des Krieges den russischen Markt für sich erschließen zu können. Vorläufig jedoch herrschten Befürchtungen, dass die noch bestehenden Handelsverbindungen zwischen Russland und Deutschland als Tarnung für Spionage und möglicherweise Sabotage dienen könnten. In Zusammenarbeit mit dem planlos agierenden russischen Komitee für die Beschränkung feindlicher Lieferungen sollte Hoare die Importmuster Russlands, dessen Geschäftsleute und sämtliche Beschwerden über Knappheiten im Auge behalten.[13] Sein zweiter Auftrag in der russischen Hauptstadt bestand darin, einen gründlichen und kritischen Blick auf das Wirken des britischen Nachrichtendienstes zu werfen. Dies mochte den Eindruck einer militärischen Aktivität erwecken, doch sogar hier sollte er sich auf den geschäftlichen Aspekt konzentrieren. Wie Frank Stagg, der die Russlandsektion in London leitete, Hoare vor dessen Abreise erklärte, würde »eine feste Basis in Russland« vielleicht »hinreichende Informationen [hervorbringen], um nicht nur der britischen Regierung, sondern auch den großen finanziellen und kommerziellen Interessenvertretern in der City ein paar verlockende Gerichte aufzutischen«.[14]

Es war ein Auftrag, der Takt verlangte, denn die Franzosen waren die wirklichen Russlandkenner. Seit Jahrzehnten waren sie am Zarenhof als Handels- und Investmentpartner sowie als Modeexperten und Champagnerlieferanten etabliert. Französische Offiziere verfügten über die besten Kontakte innerhalb der russischen Spionageabwehr. Dies erwies sich in gewissem Maße als hilfreich, da Großbritannien und Frankreich miteinander und durch ein Vertragssystem namens Triple Entente auch mit Russland verbündet waren, doch 1916 genügte ihr Einvernehmen nicht mehr. Denn wenn der Tag kam, an dem britische Exporteure in das Zarenreich der Nachkriegszeit einzogen, würden dieselben Franzosen deren Konkurrenz darstellen.

C hatte jedoch eine ganze Reihe unmittelbarer Probleme in Russland. Von Anfang an gab es Spannungen zwischen seinen Agenten und Oberst Alfred Knox, dem britischen Militärattaché; Major Archibald Campbell, den C zunächst mit dem russischen Anliegen betraut hatte, war kurz zuvor nach einer Vielzahl von Klagen zurückbeordert worden.[15] Der Botschafter, Sir George Buchanan, war von der alten Schule und so formell, dass ihm verdeckte Operationen aus Prinzip missfielen. Wie Hoare es ausdrückte: »Sei es, wie es wolle, die praktischen Schwierigkeiten der Organisierung waren beträchtlich, und in Whitehall nicht weniger als in unseren Missionen ging es oft lebhaft her in Disputen, die die Abteilungen untereinander hatten über den genauen Platz, den der Geheimdienst in der offiziellen Hierarchie einnehmen sollte.«[16] Die Formulierung ist Ausdruck besten englischen Understatements, aber als Parlamentsmitglied und Träger des Baronet-Titels war Hoare genau der richtige Mann, um die Dinge ins Reine zu bringen.

Der neue Spion musste sich selbst zu seinem Posten durchschlagen. Hoare hatte ab Newcastle eine Koje auf einem norwegischen Dampfer namens Jupiter reserviert. Unter den anderen Passagieren befand sich, im Nebel zusammengedrängt wie exotische Vögel, eine Gruppe französischer Couturiers mit ihren Mannequins, die ebenfalls Russland als Ziel hatte. Es war eine riskante Sache, denn der Seeweg rief deutsche U-Boote auf den Plan. Während die Jupiter den Tyne hinter sich ließ, musterten alle unaufhörlich die Wellen. Aber die Überfahrt blieb diesmal ereignislos, und Hoare ging in Bergen zusammen mit den grauen Beamten, den Geschäftsleuten, den Schmugglern und Mannequins sicher von Bord. Dann reiste er weiter nach Christiania (Oslo), der norwegischen Hauptstadt, und mit dem Schlafwagen von dort nach Stockholm.

Hoare schrieb, dass er die skandinavischen Länder »in Zivil« durchqueren »und meinen Degen in einer Regenschirmhülle verbergen« musste.[17] Als Offizier im Dienst einer kriegführenden Macht hätte er mit Internierung rechnen müssen, wenn er im neutralen Schweden von der Polizei ertappt worden wäre. Das jedenfalls besagte die Theorie. In Wirklichkeit stellte er fest, dass es in Schweden von Spionen wimmelte, obwohl nur die deutschen willkommen zu sein schienen. Zu Besuch bei Sir Esmé Howard, dem britischen Botschafter in Stockholm, erfuhr Hoare, wie wechselhaft die Stimmung in Schweden geworden war. Das Verbot von kriegswichtigem Handel mit Deutschland hatte das Land schwer getroffen; Lebensmittelzufuhr und Arbeitsplätze waren bedroht, da die britische Flotte begann, die Fracht nicht nur von Kriegsteilnehmern, sondern auch von Neutralen zu kontrollieren. Kinder mussten ohne Medikamente, Geschäftsleute ohne ihre Schecks und Händler ohne Märkte für ihr Bauholz, Getreide und Eisen auskommen. Ein großer Teil der herrschenden Elite Schwedens befürwortete einen Pakt, wenn nicht gar ein Bündnis mit Deutschland.[18] Schließlich trennte die Ostsee die beiden Länder nicht voneinander, sondern vereinigte sie eher. Als Hoare das Grand Hotel in Stockholm betrat und seinen Pelzmantel an einen Haken hängte, bemerkte er zu seiner Belustigung, dass sofort ein deutscher Agent hervorwieselte und seine Taschen durchstöberte.

Je weiter Hoare nach Norden gelangte, desto dringender benötigte er den Pelzmantel. Von Stockholm fuhr er ins ferne Norrland, eine Wildnis, die sich Sami-Jäger mit Elchen, Polarfüchsen und Bären teilten. Wie der Schriftsteller Arthur Ransome es formulierte, als er dieselbe Route zurücklegte: »Die ganze Sache verspricht, interessant, aber kalt zu werden«.[19] Hoare war jedoch Parlamentsmitglied für den Wahlkreis Chelsea und reiste fortwährend erster Klasse. »Von Stockholm nach Haparanda am Bottnischen Meerbusen war die Reise friedlich und eintönig«, schrieb er. »Streckenweise fuhr der Zug bestimmt nicht schneller als fünf Meilen pro Stunde, und an den infrage kommenden Stationen war immer reichlich Aufenthalt, um eine ausgezeichnete warme Mahlzeit einzunehmen.«[20] Eine jener Stationen, fast 960 Kilometer nördlich von Stockholm, war der bottnische Hafen Luleå, an dessen Kais man das Eisenerz aus Bergwerken in Kiruna und Gallivare verlud. Im vorangegangenen Herbst hatte der britische U-Boot-Kapitän Cromie, wie Hoare wusste, eine große Anzahl schwedischer Schiffe knapp außerhalb dieses Hafens versenkt, da mit ihnen blockadebrechende Eisenerzlieferungen – Tausende von Tonnen in jedem Laderaum – nach Deutschland befördert werden sollten.[21]

Es war eine unbehagliche Gegend für einen britischen Offizier, und Hoare steuerte ihre gefährlichste Ortschaft an. Seine Route war auf keinem Vorkriegsfahrplan zu finden, denn sie hatte vor Sommer 1915 nicht existiert. Arthur Ransome, der sich nach Russland aufmachte, als die Eisenbahn noch in Karungi endete, erinnerte sich an die letzten Kilometer in Schweden: »(…) eine Fahrt im kurzen Wintertageslicht, bei der ich platt auf einem Schlitten lag und von einem lappländischen Kutscher gewärmt wurde, der freundlicherweise auf meinem Bauch saß, während wir über den Schneepfad und einen zugefrorenen Fluss hinunter zur schwedisch-finnischen Grenze bei Tornio zischten.«[22] Fünfzehn Monate später konnte Samuel Hoare relativ unbeschwert atmen, als sich sein Zug zwischen Wällen aus geschwärztem Schnee voranschob; mit Mühe ließen sich die Skelette von Bäumen jenseits des Dampfes ausmachen. Die letzten Kilometer waren durch zahllose Holzkisten, gewaltige Stapel an jedem Haltepunkt, sowie durch Rentierschlitten und grauhaarige Männer mit Stadtmänteln gekennzeichnet. Hoare hatte Haparanda erreicht, den Grenzort, der den wichtigen Landweg von Europa nach Russland und weiter nach Shanghai beherrschte.

Hoare machte keine Pause, um sich die Sehenswürdigkeiten anzusehen. Er hätte die vereisten Sümpfe erforschen können, wo sich in Kisten verpackte Frachten aus den Vereinigten Staaten und Großbritannien,...

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