DAS FASZINIERENDE LEBEN IM UNTERGRUND KANN FAST ALLES
Pilze als Verkehrsplaner, Atomtechniker und Mediziner
Radioaktiver Kohlenstoff, mit dem Wissenschaftler eine Birke impften, wanderte über den Boden und die Pilzverbindungen in eine benachbarte Douglasie ...
Peter Wohlleben
Die meisten Menschen wissen sehr wenig über Pilze. Gleichzeitig scheinen sich viele Nichtbiologen aber mehr für die Fungi als für Pflanzen zu interessieren. Vielleicht, weil man viele Pilzfruchtkörper nicht nur essen kann, sondern weil sie z.T. begehrte Delikatessen von außerordentlichem Wohlgeschmack sind? Vielleicht ist der Grund für das Faszinosum Pilz aber auch tiefgründiger und vielschichtiger. In diesem Kapitel werden wir in die Wunderwelt der Pilze eintauchen und sie als bestens vernetzte Überlebenskünstler, heimtückische Räuber, geniale Verkehrsplaner und hocheffektive Recycling-Spezialisten kennenlernen.
Baum und Pilz: ein unzertrennliches Paar
Das Zusammenleben von Bäumen und Pilzen zählt zu den größten Wundern unserer Welt. Und auch unsere bekanntesten Speisepilze sind Teil dieses Wunders: Die meisten sind obligat symbiotisch, das heißt, sie können ihre leckeren Fruchtkörper nur in Assoziation mit Wurzeln bilden. Steinpilze, Pfifferlinge und die meisten anderen Köstlichkeiten müssten wir also ohne das enge Zusammenleben von Bäumen und Pilzen von unserer Genusskarte streichen.
Ein einziger Baum kann mit bis zu hundert verschiedenen Pilzarten vergesellschaftet sein und innerhalb derselben Spezies mit vielen verschiedenen Individuen. Ein Kubikzentimeter Erdboden kann bis zu zwanzig Kilometer (!) hauchdünner Pilzfäden enthalten. Den Neuronen des menschlichen Gehirns nicht unähnlich durchwächst der Pilz alles und baut dabei ein unvorstellbar komplexes Geflecht auf. Pilze bilden so etwas wie das Hirn der Vegetation, wie der Ethnobotaniker Wolf-Dieter Storl es formuliert. Sie regeln den Informationsfluss zwischen den Pflanzen und dem umgebenden Ökosystem. Aber auch Wurzeln sind Ausdruck einer vegetativen Intelligenz. Mittels unzählbarer, sich ständig neu bildender Haarwurzeln durchtasten Pflanzen, das Umfeld wahrnehmend, den Erdboden. Sie spüren Wassermoleküle, Spurenelemente und andere physio-chemische Informationen auf.
Tauschhandel im Untergrund
Die fädigen Unterweltbewohner, die ein viel größeres Bodenvolumen durchwachsen als ein Baum es jemals könnte, teilen gern: Sie geben fast alle Mineralien, die sie im Boden einsammeln, an die Pflanzen ab, die als photosynthetisch aktive Lebewesen auf Nährstoffe angewiesen sind. Die Beschenkten nehmen die Gabe begierig entgegen. Ihre Wurzeln würden nie so effektiv an die Mineralien herankommen wie die extrem dünnen Pilzfäden mit ihren nahezu allmächtigen Enzymen. Doch bedeutet Symbiose nicht nur Nehmen, sondern auch Geben. Also vergelten die Pflanzen den Pilzen ihre Leistung mit Zucker (meist Glukose), den sie über die Photosynthese in großen Mengen produzieren. Bis zu 20 Prozent dessen, was die Pflanze herstellt, kann an den Pilz weitergegeben werden. Und neben den Kohlenhydraten bekommen die Helfer im Untergrund von den Pflanzen auch Vitamine bzw. ihre Vorstufen. Denn viele Pilze sind, wie wir Menschen, nicht in der Lage, selbst Vitamine zu erzeugen. Heute glaubt man, dass die Landbesiedelung durch die ersten terrestrischen Pflanzen überhaupt erst durch die Symbiose zwischen Pflanzen und Pilzen ermöglicht wurde, und man bezweifelt, dass sich eine solche unspezifische Symbiose überhaupt nachträglich hätte entwickeln können. Seit hunderten Millionen Jahren profitieren beide davon – und mit ihnen auch alle anderen Lebewesen. So scheint ein wesentliches Grundmoment der Evolution nicht die Konkurrenz, sondern die Kooperation zu sein, das Wissen darum, dass man gemeinsam stärker ist. Und diese Kooperation kann enorme Ergebnisse hervorbringen!
Verblüffender Größenrekord aus der Welt der Pilze
Auf die Frage nach dem größten Lebewesen der Erde findet man verschiedene Antworten. Das schwerste bekannte Tier, das jemals auf der Erde gelebt hat, ist der Blauwal (Balaenoptera musculus), ein Bartenwal und damit ein Säugetier. Die größten Individuen erreichen beeindruckende 33 Meter Länge (hier kamen nur manche Saurier in seine Nähe) und eine Körpermasse von bis zu 200 Tonnen. Ein so schweres Tier kann nur im Wasser leben.
Wenn wir unsere Suche auf Pflanzen ausdehnen, ist der General Sherman Tree, ein Riesenmammutbaum (Sequoiadendron giganteum) im Giant Forest of Sequoia National Park in Kalifornien, noch viel größer – vor allem, wenn wir neben seiner »Länge« auch sein Volumen berücksichtigen: 83,8 Meter hoch, ein Volumen von 1.487 Kubikmeter und eine Masse von mehr als 2.100 Tonnen. Selbstverständlich können diese Giganten mit mehr als 3.000 Jahren auch viel älter als jedes Tier werden.
Wenn wir nun aber noch die Pilze ins Spiel bringen, dann wird es richtig spannend: Genauso viel wie vier (!) ausgewachsene Blauwalweibchen von je 150 Tonnen wiegt ein im Jahr 2000 entdeckter Hallimasch im US-Bundesstaat Oregon. Der Riesenmammutbaum ist zwar noch einmal doppelt so schwer. Doch die räumlichen Dimensionen des Pilzes sind wesentlich größer als die aller anderen Lebewesen auf der Erde: Er nimmt geschätzte 880 Hektar Fläche ein, was mehr als 1.200 Fußballfeldern entspricht!
Der vermutlich größte Pilz Europas bedeckt im Schweizer Nationalpark in der Nähe des Ofenpasses eine Fläche von 500 x 800 Metern. Dieser etwa 1.000 Jahre alte Dunkle Hallimasch ist ein Vertreter derselben Gattung wie der amerikanische Größen-Rekordhalter.
Wenn es um die Größe geht, liegen die Pilze also auf Platz eins. Aber nur an Baumstümpfen und geschwächten Stämmen zeigt die größte Kreatur der Welt gelegentlich ihre gelblichen Hüte – seine im besten Fall etwa zwölf Zentimeter hohen Fruchtkörper. Wenn er das aber tut, dann ist das für Waldeigentümer ein Malheur und Malheur National Forest heißt auch der Wald, in dem der Riesenhallimasch aus Oregon wächst. Armillaria, wie die Gattung der Hallimasche wissenschaftlich lautet, befällt nämlich Bäume parasitär und kann sie zum Absterben bringen. Danach hat der Pilz noch einige Jahre die Möglichkeit, sich saprophytisch als Moderpilz, der abgestorbene organische Materie nutzt, vom toten Holz zu ernähren. Für die Förster und Waldeigentümer ist er ein Gegner, mit dem man es schwerlich aufnehmen kann: Bis zu einem Meter tief treibt der gewaltige Körper aus Fäden sein Unwesen. Langsam frisst er sich von Baum zu Baum durch den Waldboden, bohrt sich durch das Erdreich und produziert immer weitere schwarzbraune, millimeterdicke Fäden, deren Gesamtlänge kaum geschätzt werden kann. Unser Riesenpilz aus Oregon dürfte 2.400 Jahre alt sein.
In unseren Breiten ist der Honiggelbe oder Gemeine Hallimasch einer der häufigsten Herbstpilze. In den slawisch sprechenden Ländern nennt man ihn oft »václavky«, doch auch in manchen deutschsprachigen Landstrichen kennt man ihn als Wenzelspilz: Seinen Namen verdankt er seinem jährlichen Erscheinen, das oft um den 28. September stattfindet, dem Namenstag des tschechischen (beziehungsweise böhmischen) Nationalheiligen Wenzel (Václav).
Prähistorische Episoden über die »Männlein im Walde«
Pilze spielten schon in den frühesten Phasen des Lebens auf unserer Erde eine entscheidende Rolle. Viele Wissenschaftler gehen sogar davon aus, dass es Zeiten gegeben hat, in denen sie unseren Planeten dominierten – etwa nach jener urzeitlichen Katastrophe am Ende der Kreidezeit vor 65 Millionen Jahren, als ein gewaltiger Meteoriteneinschlag die gesamte Erde für mehrere Monate in Dunkelheit hüllte, sodass ein großer Teil der Pflanzen- und Tierarten zu Grunde ging. Unter anderem starben damals bekanntlich die Dinosaurier aus. Für Pilze brachen nach dieser globalen Katastrophe paradiesische Zeiten an, so makaber sich das auch anhören mag. Denn es gab Berge von »Leichen«, und darüber freuten sich die Pilze als »Destruenten«, als Zersetzer organischer Materie. Holzreste abgestorbener Bäume, die Kadaver toter Tiere und die welken Relikte von Pflanzen füllten ihnen die Speisekammer. Die sogenannte K/T-Aussterbewelle an der Grenze von der Kreidezeit zum Tertiär war für die Pilze vielleicht die fruchtbarste Zeit überhaupt. Ablagerungen in Neuseeland zeigen, was damals geschah: Die ansonsten massenhaft vorkommenden Pollen verschwanden für längere Zeit – dafür findet man heute eine vier Millimeter dicke Schicht, die fast nur aus Pilzsporen und Pilzfäden besteht. Erst nach und nach kehrten Sonnenlicht und damit auch Flora und Fauna zurück.
Ein Urzeit-Riese: Alge, Flechte, Pflanze oder Pilz?
Lange vor diesem dramatischen Ereignis aber lebten Kreaturen auf der Erde, die bis heute für Kopfzerbrechen unter den Paläontologen sorgen. Bei einer Zeitreise würden wir die Welt vor 420 bis 350 Millionen Jahren, im sogenannten Devon, kaum wiedererkennen. Tausendfüßler, flügellose Insekten und Würmer waren die ersten Tiere an Land, und die Wirbeltiere erlebten gerade Höhenflüge ihrer Entfaltung im Wasser, um bald die ersten Schritte an Land zu wagen. Im Devon begannen die ersten höheren Pflanzen das Land zu besiedeln – und die Pilze halfen ihnen dabei, denn sie waren schon da und sie hatten erstaunliche Größen.
Mit einer Höhe von zwei bis neun Metern und einem »Stammdurchmesser« von bis zu einem Meter ragte...