KALIFORNIEN UND DER SÜDWESTEN
REISEN MIT SIEBENMEILENSTIEFELN
Kein Landstrich Nordamerikas hat sich in den Köpfen so bilderreich eingenistet wie der amerikanische Südwesten, Kalifornien eingeschlossen. Und was die Fantasie anregte, weckte zumeist auch die Neugier, den Bildern nachzureisen, um sie auf die Probe zu stellen. Stimmten sie, oder waren sie nur schöne Kulissen für prahlerische Reiseberichte?
Die Antworten fielen und fallen sehr unterschiedlich aus. Aber wie auch immer: Es hat wohl selten Reisende durch die Wüsten, Gebirge und Gewässer des südlichen Westens gegeben, die nicht von den grandiosen Naturlandschaften beeindruckt gewesen wären. Die traumhafte Pazifikküste, die urtümlichen Canyons und Steinkathedralen des Colorado Plateau, der weite offene Horizont und die betörenden Lichtspiele des Himmels tagsüber und nachts – das allein schon ist eine Reise wert.
Der Highway One säumt die wilde Küstenlandschaft von Big Sur
Erst auf den zweiten Blick mag diese überwältigende Szenerie ihre Schattenseiten zeigen: eben das »Wilde« im »Westen«, seine elementaren Naturkräfte, seine gnadenlose Sonne, seine Menschenfeindlichkeit. Kakteen in kargem Geröll, so fotogen sie sich geben, sind nun mal kein Kurpark oder Stadtwald; Wassermangel, Hitze, Moskitos und Klapperschlangen lassen sich durch keinen Vers von Eichendorff romantisch verklären.
Widersprüche lauern auch anderswo. So wurden einige dieser unberührten Weiten des Westens per Gesetz zu Nationalparks erklärt, um sie vor ihrer Vernichtung durch Raubbau oder sonstiger »Erschließung« zu schützen. Das war nicht einfach. Früher wurden die wirtschaftlichen Interessen der Holz-, Erz-, Gas- oder Ölfirmen sogar noch rabiater vertreten als heute. Dennoch: Jede Reise durch den Südwestteil des Kontinents führt durch Kämpferzonen geschützter und bedrohter Natur. Die Stichworte heißen: Austrocknung des Mono Lake, Wasserorgien in Las Vegas, Uran in Utah, Ölförderung an der Pazifikküste. Ja, auch der Tourismus gerät ins Zwielicht, wenn der Massenandrang die löbliche Naturschutzabsicht ins Gegenteil verkehrt. Während sich zur Hauptsaison die Leute im Yosemite-Nationalpark oder am Grand Canyon häufig »auf den Füßen stehen«, gewinnen abgelegenere Gebiete wie die Wildlife Refuges und Wilderness Areas an Bedeutung, die genauso schön, aber weniger überlaufen sind.
Der Yosemite National Park gehört zu den beliebtesten Nationalparks der USA
Wie das »Wilde« zehrt stets auch das »Gezähmte« von den Traditionen des Westens, denn trotz harter Steinpanoramen und garstiger Salzwüsten gab es hier Oasen der Entspannung und des Wohllebens, die schon die Indianer schätzten, als sie sich an den zahlreichen heißen Quellen labten. Heute kann es ihnen jeder in den üppigen Badelandschaften, den Pools, Spas und Fit- und Wellnesscenters der Resorts gleichtun oder die Rituale der kalifornischen Körperkultur mitmachen. Diese bedient sich der Trainingsmaschinen in Venice Beach und der Surfbretter von Malibu ebenso wie der Mountainbikes und Kajaks in Moab (Utah), dem neuen Zentrum der Outdoor-Sportindustrie, die auch mit schwerem Gerät fürs Wochenende ausrüstet. Paradoxerweise erinnert dieser Freizeittrend ebenso an das Cowboy-Ideal von der Unabhängigkeit wie an die NASA-Astronauten, die cosmic cowboys: glänzende Ritter im Cockpit statt im Sattel.
Wind und Wetter haben den Sandstein im Arches National Park geformt
Faszination mit Widersprüchen
Doch weder Canyonwände noch Chilischoten oder Lasso werfende vaqueros machen allein und für sich den Südwesten aus. Sein innerer Zusammenhalt lebt von den Mythen – angefangen bei den frühesten Reiseberichten über Buffalo Bill und andere Schausteller bis hin zum urban cowboy, der in den Designerläden zur Kopie angeboten wird – von schmauchenden Friedenspfeifen bis zur »Marlboro Light«, von Karl May bis Peter Fonda, der auch schon mal Touristen auf Easy-Rider-Spuren betreute. Kurz, hinter jeder Felsnase oder Flusskrümmung, jedem Tumbleweed-Busch und jeder schwingenden Saloon-Tür lauern die alten Akteure, die bösen wie die guten. Der Wilde Westen, Ausgabe Süd: ein Patchwork bunter Legenden. Zuerst überwogen solche von verborgenen Schätzen, Geistern, Liebhabern und Frauen, die unversehens und verführerisch in der Einöde auftauchten. Danach folgten die Geschichten von den gunmen und lawmen: Durch die Glorifizierung der Schießerei ging die Romantik des Old West in dessen Eroberung und gewaltsame Annexion über.
Sequoias sind die mächtigsten Bäume der Welt und können mehr als 100 Meter hoch werden
Die Geschichte des inneramerikanischen Tourismus belegt, dass die Mythenfülle schon früh reisemagnetische Wirkung hatte. Eisenbahngesellschaften und Zitrusfarmen lockten neue Siedler und Besucher an. Weinende Indianerbabys auf kolorierten Postkarten animierten zum Ruinen-Tourismus der Pueblos und der indianischen Felsbauten. Reiche Ostküstler leisteten sich Ranchurlaube und Jagdtrips mit indianischen Scouts.
Tourismusfördernd erwiesen sich auch literarische Produkte viktorianischer Fantasie im Osten der USA und in Europa, die in Hymnen die freie Liebe im freien Leben in der Wildnis feierten – reichlich unbegründet und auch vom Timing daneben, denn die Open Range war längst eingezäunt oder hatte respektablen Kleinstädten Platz gemacht.
Zu den frühen Kolporteuren des Westens gehörte übrigens der bereits von Theodor Fontane rezensierte, aber erst vor einigen Jahren wieder entdeckte Balduin Möllhausen. Der gebürtige Bonner und seines Zeichens Fallensteller, Hobby-Ethnologe, Topograph, Erzähler und Aquarellzeichner reiste um die Mitte des vorigen Jahrhunderts im Kundschaftertross der Eisenbahngesellschaft United States Pacific Railroad Expedition & Surveys durch den Südwesten und skizzierte unterwegs vor allem Landschaften und Indianerporträts.
Was Literatur, Aquarellkunst und Druckgrafik vorbereiteten, Wildwest-Shows und Cowboyheftchen popularisierten fand dann schließlich in Hollywood sein Imprint auf Zelluloid. Seit Anfang des Jahrhunderts machten unzählige Westernfilme und TV-Serien Colt und Tomahawk, sagebrush und chaparral zum festen Inventar der schönen Westernwelt.
Doch genau diese mythischen Grundlagen werden in jüngster Zeit stärker denn je angezweifelt. So scheint es zum Beispiel mit der Devise »jeder sei stets seines Glückes Schmied« und dem Mythos vom hartgesottenen Einzelgänger (rugged individualist) à la John Wayne ebenso wenig weit her gewesen zu sein wie mit der Vorstellung vom ganz und gar unabhängigen frontiersman. Vieles spricht dafür, dass die angeblich allein auf sich gestellten Siedler meistens gejammert und bei der Bundesregierung um Unterstützung gebettelt haben. Von der Mutterbrust staatlicher Subventionen zu leben (nursing on the government’s nipple) war ihnen eigentlich das Liebste, wenn es um Flussbegradigungen, den Bau von Eisenbahnen, Forts (der Indianerüberfälle wegen) oder Staudämmen (für die Bewässerung) ging.
Auch die Rolle der Pionierfrauen sieht man langsam anders. Seit eh und je figurierten in der Machowelt der Cowboys Frauen meist nur als Kontrapunkte: entweder heroisch stilisiert als pioneer mothers der Trecks oder eben schlampig angezogen, unfrisiert und stets zu haben. Kein Wort dagegen von den starken Naturen der Cowgirls oder jenen berufserfahrenen Frauen (Journalistinnen, Geschäftsfrauen), die in großer Zahl allein in den Westen kamen, um dort als Ärztinnen, Anwältinnen, ja selbst im Bürgerkrieg »ihren Mann« zu stehen. Sie entsprachen in keiner Weise dem Typ, mit dem gut Kirschen essen war. Im Gegenteil. Sie repräsentierten, was man die frontier femininity nannte, eine couragierte Weiblichkeit, der es in erster Linie darum ging, das gemeinsame Überleben zu sichern.
Frühes Tonfilm-Plakat von 1932
Ethnische Vielfalt auch bei Westernhelden
Von Ausnahmen abgesehen bevölkern meist nur Anglos das Pantheon der Western-Heroen: Sheriffs, Trapper, Siedlungsführer und jede Menge Kavallerieoffiziere. Eine unter dem Motto »Legends of the West« erschienene Briefmarkenserie bestätigt diese ethnisch völlig unausgewogene Ausrichtung. Zwar sind unter den 20 ausgewählten Ikonen drei Indianer (American Indians) und zwei Schwarze (African Americans) abgebildet, aber kein einziger Hispanic. Prompt protestierten die Mexicanos. Mindestens drei der ihren hätten unter den führenden Köpfen auf den 29-Cent-Marken auftauchen müssen: Pio Pico, der letzte mexikanische Gouverneur von Alta California, Joaquin Murrieta, der während der Gold-Rush-Ära mexikanische Arbeiter gegen rassistische Yankees in Schutz nahm und sich den Beinamen eines kalifornischen Robin Hood erwarb, und der mexikanische General Mariano Guadalupe Vallejo, der die russischen Siedlungsabsichten in Nordkalifornien stoppte und sich später für die Staatsgründung einsetzte.
»Es gab eine Menge bedeutender Californios, Mexicanos, Texanos und spanischer Legenden, die im Westen heimisch waren, bevor die Yankees kamen«, schrieb der mexikanische Autor José Antonio Burciaga (1940–96) in der »Los Angeles Times«. Schließlich habe der gesamte Südwesten einmal Mexiko gehört und auch nach 1848 hätten die Mexikaner das Land nicht verlassen, sondern hätten sich vermehrt und Englisch gelernt: »Wir haben nie die Grenze überquert, sie hat uns überquert.«
Ein Kopfgeld von 29 Cents eint diese Ikonen des Wilden Westens zu einer Briefmarkenserie
Das Problem der illegalen Einwanderer am Tortilla-Vorhang hat sich in letzter Zeit...