Die Zerstörung Jugoslawiens
(1991-1999)
Zurück nach Wien. Wir verlassen Belgrad am Nachmittag des 26. Juni 1991, jenem Tag, an dem Slowenien und Kroatien ihre staatliche Unabhängigkeit erklären wollten. Daß sie es bereits einen Tag zuvor getan hatten, stellte für niemanden mehr einen Überraschungseffekt dar. Während von Zagreb bis Split und vom Triglav bis Istrien neugeschneiderte Fahnen wehen und das große Mißverständnis von der nationalen Selbstbestimmung ausgiebig gefeiert wird, geht Belgrad emotionslos dem Ende eines schwülen Wochentages entgegen. Keine Demonstration in den Straßen, keine serbischen oder jugoslawischen Symbole an den Häuserfassaden, nicht einmal die Zahl der monarchistischen Wappen- und Anstecknadelverkäufer hat zugenommen. Laut ist an diesem 26. Juni nur der Autoverkehr, heiß der weich gewordene Asphalt.
Die Verrückten, so sieht man es in der jugoslawischen Hauptstadt, sitzen in Ljubljana und Zagreb. Die Sezession des Nordwestens und der Adriaküste empfinden die meisten hier als bedrohlich. Noch allerdings hoffen sie … auf die Vernunft ihrer Ex-Landsleute in Kroatien und Slowenien sowie auf die Politik der USA und der Europäischen Gemeinschaft. In Belgrad überwiegt an jenem 26. Juni 1991 die Besonnenheit.
Ganz anders Österreich und Deutschland. Die Parteinahme für die kroatischen Nationalisten und die slowenischen Christlich-Konservativen schwappt einem bereits aus der im Flugzeug verteilten Tagespresse entgegen. Von einer „nach Vorherrschaft strebenden Führung in Belgrad mit ihrer stalinistisch-ultranationalistischen Linie“ ist da die Schreibe, von einem „roten Serboslawien“ als drohende Alternative zum „demokratischen Westslawien“, womit en passant gleich eine neue, weil tagespolitisch opportune Ethnie erfunden wurde. Der Begriff Sezession ist medial verbannt, die Schwierigkeiten, die sich aus einem staatlichen Zerfallsprozeß ergeben, werden verdrängt. Es herrscht Euphorie für die Sache Sloweniens und Kroatiens, Mißgunst und Haß gegenüber Belgrad.
Der österreichische Serbenhaß speist sich aus einer gehörigen Portion Revanchismus; die „Schwarze Hand“ aus der Endzeit der Doppelmonarchie ist immer noch nicht vergessen. Gavrilo Princip, ein bosnischer Serbe und Mitglied dieser Guerillagruppe, die gegen die Besetzung Bosniens durch die Truppen der k.u.k. Armee sowie gegen die Wiener Slawenpolitik auftrat, streckte bekanntlich am 28. Juni 1914 den Thronfolger Franz Ferdinand samt Gattin in Sarajevo nieder. Der Tat folgte das große Völkerschlachten im Ersten Weltkrieg, mit österreichischem Jubel und deutschem Hurra. Deutschnationale und Sozialdemokraten begrüßten den Krieg gleichermaßen. Nur 20 Jahre nach dem Friedensschluß rückten erneut deutsche Soldaten auf dem Balkan ein, um – wie es später der UN-Generalsekretär und österreichische Bundespräsident Kurt Waldheim ausdrückte, der selbst als Soldat gegen die jugoslawischen Partisanen kämpfte – „ihre Pflicht zu erfüllen“. Auch die zweite militärische Schmach Berlins in diesem Jahrhundert scheint manchen noch immer nicht getilgt.
Revanchegedanken für zwei verlorene Kriege konnte die deutsche und österreichische Berichterstattung im Sommer 1991 nicht verbergen – und wollte dies wahrscheinlich auch nicht. Von „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ bis „Die Welt“, von „Salzburger Nachrichten“ bis „Kurier“ gab es mehrseitigen, oft serienmäßig aufgemachten Nachhilfeunterricht in antijugoslawischer bzw. antiserbischer Geschichte. Wer die traditionellen Verbündeten, wer die ewigen Feinde Deutschlands und Österreichs waren, kam schnell und fast widerspruchslos unter die Leute. In dem Moment, als sich der Konflikt in Jugoslawien zuspitzte, positionierte sich die veröffentlichte Meinung in deutschen Landen deutlich wie nie zuvor: für die Auflösung Jugoslawiens. Ein Bürgerkrieg stand vor der Tür.
Rückblende: Die ökonomische Krise
Den Unabhängigkeitserklärungen der nordwestlichen Republiken ging eine tiefe ökonomische Krise voraus, die freilich gesamtjugoslawisch war und einem ähnlichen Muster folgte wie überall sonst in Osteuropa. „Schuld an der ganzen Misere sind die Kommunisten“, lautete das einfach gestrickte Argument der Jahre 1989/90, das die Misere erklären helfen sollte, in die Jugoslawien geraten war. Die Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs lagen tatsächlich schon lange zurück. Bis Mitte der 60er Jahre galt das Land als Vorbild an sozialistischer Effizienz, das Bruttonationalprodukt wuchs jährlich um 6 bis 7 Prozent. Mit Hilfe fetter US-Kredite, die Jugoslawien vom Einfluß Moskaus fernhalten sollten, wußte die Führung um Josip Broz, genannt Tito, lange Zeit sinnvolle Modernisierungsprojekte zu entwickeln. Die ersten Krisenerscheinungen machten sich Ende der 60er Jahre bemerkbar. Früher als alle anderen Länder in Osteuropa hatte man Westkredite erhalten, früher als alle anderen mußten sie zurückgezahlt werden. Bereits 1965 wurde im Zuge allgemeiner Dezentralisierung ein politischer „Polyzentrismus“ und die sogenannte „nationale Ökonomie“ auf Republiksebene eingeführt, neun Jahre später – 1974 – kam es zu einer neuen jugoslawischen Verfassung, die der Zentrale nur noch wenige koordinative ökonomische Funktionen beließ. Die Stärkung der Republiken und Regionen hatte zwei Seiten: Einerseits war sie die Antwort der Zentrale auf die ökonomische Krise, andererseits jedoch bereits Ausdruck einer national orientierten Politik in den ökonomisch stärkeren Republiken, denen damit die Möglichkeit gegeben wurde, die regionalen Erfolge aus der ungleichen Wirkung des Wachstums in den 60er Jahren mit niemandem sonst teilen zu müssen.
Die radikale Dezentralisierung erfaßte selbst das Militär. Edvard Kardelj, eine der grauen Eminenzen der jugoslawischen KP, Slowene und seit 1974 Mitglied des Staatspräsidiums, forderte offen die Regionalisierung der Armeestrukturen. In der Folge kam es auch zu einer Stärkung der republikseigenen Territorialverteidigungskräfte, die als Zivilorganisation neben der Volksarmee organisiert waren. Vor allem Frauen und ältere Männer bildeten das Rückgrat dieser kommunistischen Einrichtung. 15 Jahre später sollten die Territorialverteidigungen – gemeinsam mit abtrünnigen Volksarmisten – zum Kern der nationalen Militärapparate werden.
Regionale Autonomie auch im Politischen. Die neue 74er-Verfassung plante, ethnischen Minderheiten weitestgehende Rechte in kulturellen, sozialen und auch politischen Belangen einzuräumen. Allein, außer in Serbien kam es nirgendwo dazu. Besonders die kroatische Teilrepublik weigerte sich, der mehrheitlich von Serben bewohnten Region Lika spezielle Autonomierechte zu gewähren, wie sie in Serbien sowohl dem Kosovo als auch der Vojvodina zugestanden wurden. Der Streit um Autonomierechte bestimmte für lange Jahre die politische Szenerie in Jugoslawien.
Die Verantwortlichen glaubten vorerst, mit der Föderalisierung einen machtpolitischen Balanceakt zustande gebracht zu haben. In Wahrheit wurde damit ein entscheidender Schritt in Richtung Desintegration gesetzt. Besonders negative Auswirkungen hatte diese Entwicklung auf den Außenhandel, der ohne gemeinsames Konzept föderalisiert wurde. 1979 mündete diese Politik in eine wirtschaftliche Stagnation. Die Rückzahlung ausländischer Kredite geriet ins Stocken. Die weltwirtschaftliche Rezession der 70er Jahre hatte auch in Jugoslawien tiefe Spuren hinterlassen. Jene weltweit wirksame Krise, die im Kern den Überproduktionskapazitäten in Nordamerika und Nordwesteuropa nach erfolgtem Wiederaufbau zuzuschreiben war, stoppte nicht nur die nachholenden Modernisierungsprozesse in Lateinamerika, sondern beendete auch den Höhenflug der osteuropäischen Entwicklungsdiktaturen. Auch Jugoslawien mit seinem spezifischen Modell eines Selbstverwaltungssozialismus war vor den Auswirkungen der Krise nicht gefeit, umso weniger, als die Wirtschaft des Landes – mehr noch als die der meisten anderen osteuropäischen Länder – in den Fallstricken von Westkrediten gefangen war.
Post tragoediam rufen Wirtschaftsfachleute das Spezifische der jugoslawischen Ökonomie in Erinnerung. Anders als in den staatssozialistischen Ländern Osteuropas erfolgte die ökonomische Modernisierung Jugoslawiens nicht mit jener Brachialgewalt, die im Westen das Beiwort „stalinistisch“ erhalten hat. Im Selbstverwaltungssozialismus verblieb vergleichsweise viel Raum für regionale, betriebliche und individuelle Entscheidungen. Industrialisierung fand nicht flächendekkend statt, und eine kollektive, technologisch aufwendige Landwirtschaft bildete eher die Ausnahme. Dazu kam, daß mit dem „Export“ von Arbeitskräften nach Westeuropa gerade bäuerliche Familien zerrissen wurden. Die bodenständig Verbliebenen waren auf den Anteil ihres ins ferne Wien, München oder Düsseldorf entsandten Wanderarbeiters angewiesen. 900.000 solcher jugoslawischer „Gastarbeiter“, großteils aus der...