Verschiedene Geschichten
In Zürich, an der Milchbuckstrasse 29, lebten die Eltern mit mir, Peter und Dorothee in einer bescheidenen Vierzimmerwohnung. Ganz nahe war die Hirschwiese, ein Stück unbebautes Grasland, auf dem sich ein Teil des öffentlichen Lebens abspielte. Da gab es manchmal faszinierende Dinge zu sehen. Jedes Jahr gastierte ein kleiner Zirkus dort und verlieh dem Quartier eine exotische Note. Bunte Papageien kreischten; um ein Lama galt es einen Bogen zu machen, ansonsten man grün bespuckt wurde; elegante Pferde trippelten und wieherten. Oder der legendäre 'Bomber-Schaffner'1 stellte das Wrack einer viermotorigen Boeing aus, die im Krieg auf dem Zugersee notwasserte und lange auf Grund lag.
Als ich etwa fünf war, spielte ich, auf einer Treppenstufe sitzend, mit verschiedenen Gegenständen, insbesondere mit einer Schachtel Streichhölzer. Dabei erinnerte ich mich an erwachsene Vorbilder, die damit Feuer zu entfachen imstande waren. Ich war sehr neugierig, ob mir das auch gelingt. Denn ich hatte schon vielfach beobachtet, etwa wenn der Grossvater eine Zigarre anzündete, dass aus den geheimnisvollen dünnen Hölzchen Feuer hervorzuzaubern ist. So begann ich, mit einem Hölzchen mit dessen braunem Köpfchen an der Schachtel zu streichen. Ich tat es eine zeitlang ohne dass es sich entzündete. Da trat die Tante, die gerade zu Besuch bei uns weilte, herbei und erklärte mir, ich müsste das Streichholz umgekehrt halten und so an der Schachtel streichen (dies mit dem hölzernen Ende statt mit dem braunen Köpfchen). Ich spielte weiter, jedoch mit einem Gefühl des Misstrauens. Da konnte etwas nicht stimmen. Ich drehte eine Streichholz zwischen meinen Fingern und dachte, das eine Ende ist doch 'gewöhnliches' Holz; das andere Ende mit dem braunen Köpfchen ist doch eigentlich 'das Besondere' und müsste doch für das Feuermachen da sein. Wäre das hölzerne Ende geeignet, müsste man doch mich einem gewöhnlichen Holz Feuer entfachen können. Ich wurde wütend über die irreführende Anleitung der Tante und drehte das Streichholz um und strich mit dem braunen Köpfchen kräftig über die Schachtel und: hatte Feuer. Dies war die früheste Begebenheit, in der ich mich als Forscher fühlte, die Natur genau und neugierig zu beobachten. Und dann die Befriedigung, dass eine Erkenntnis erfolgreich umgesetzt wird.
David Senn, 9-jährig als Primarschüler, beim Schulhaus in Zürich
Es herrschte durchaus nicht immer Zufriedenheit mit dem, was von 'oben' kam. Auch die Geschichte mit Ostern in Zürich war seltsam. Ich war etwa neun und Peter sechs. Da schlechtes Wetter herrschte wurden morgens die Eier und Osterhasen in der Wohnung versteckt. Die Dinger waren nicht schwer zu finden, denn oftmals verriet eine leuchtend grüne Holzwolle, dass in einer Nische, etwa im Büchergestell oder in einem Schuh, ein Ei darauf wartete, entdeckt zu werden. Jedenfalls war gegen Mittag eine ordentlicher Korb voller Leckerbissen beisammen: gefärbte Eier, Schokolade-Eier- Hasen aus Schokolade, winzige Zuckergusseier in allen Farben und ein riesiges Nougat-Ei, das mit kleineren Eiern und Hasen gefüllt war. Am Nachmittag waren die Eltern irgendwo im Ausgang; meine Bruder Peter und ich blieben allein zu Hause und sollten spielen. Das taten wir auch, nur vielleicht nicht im Sinn der Erfinder. Ich weiss heute noch nicht, was mit uns geschah; Peter und ich wurden von einer Stimmung der zerstörerischen Auflehnung erfasst. Jedenfalls schoss Peter ein Schokolade-Ei gegen die Wand. Auf der hellen Tapete hob sich reliefartig ein brauner Fleck ab, den ich als Zielscheibe benützte und ein farbiges Hühnerei darauf warf. Dann warfen wir nacheinander Eier und Hasen an die Wand, bis nur noch das (offenbar kostbare) Nougat-Ei unversehrt da lag. Peter nahm es und schmiss es mit grosser Wucht auch noch an die Wand. Es war verständlich, dass die Eltern nach ihrer Rückkehr am Abend angesichts der zerbrochenen Ostersachen und der braungeklexten Wand eine ordentliche Szene von Stapel liessen. Eigentlich hatte ich nie begriffen, welch zerstörerische Stimmung an jenem trüben Nachmittag in Peter und mich gefahren war. Jedenfalls war es mir weder bei der nachmittäglichen Zerstörung noch bei der anschliessenden Schimpftirade wohl. Es war ein frustrierender Tag.
Grosse Bedeutung während meiner Züricherzeit hatte der Katzensee. Die zwei kleinen Seen ausserhalb des nordwestlichen Stadtrands (in der Nähe von Regensdorf) zeigten noch eine intakte Natur. Die Ufer waren durch breite Schilfgürtel gesäumt. Im Frühjahr haben dort Frösche und Kröten gelaicht. Es war spannend zu verfolgen, wie sich die kleinen schwarzen Punkte in den Laichschnüren der Erdkröten und Klumpen der Frösche langsam veränderten und schliesslich als kleine Larven ins Wasser schlüpften. Ich nahm Kaulquappen nach Hause und beobachtete sie im Glas wie sie sich schlängelnd fortbewegten, und wie die äusseren Kiemenbüschel durch innere Kiemen abgelöst wurden, dann kleine Beinchen zu wachsen begannen und schliesslich die Umwandlung zum kleinen Frosch begann. Die Primarlehrerin, Frau Verena Jenni, zeigte mir, dass ich die Kaulquappen mit kleinen Stückchen Milz füttern konnte. Über Jahre verbrachte ich jeden Sommer und viele freien Nachmittage mit Beobachten der Amphibien. Ich lernte, wie sich ein Tier formte, und wie die Organe gebildet wurden. Der Katzensee war für mich die erste Schule in Entwicklungsbiologie.
Noch andere Dinge lernte ich dort. Zu einem Geburtstag bekam ich ein Unterseeboot. Das etwa 40cm grosse Gefährt liess sich über einen langen dünnen Luftschlauch steuern, an dessen Ende sich ein Gummiball befand. Durch starkes oder leichtes und rhythmisches Drücken auf den Ballon (was erlernt sein wollte) liess sich das Boot vorwärtstreiben; es konnte auch an die Oberfläche aufsteigen oder wieder zum Grund absinken; Geschicklichkeit war erforderlich, es auf einer bestimmten Wassertiefe in austariertem Zustand vorwärts zu bewegen. Mich faszinierte das archimedische Prinzip (erst viel später lernte ich, was das genau heisst), nach dem ein Körper leichter oder schwerer werden kann und dass die Tarierung, das heisst das hydrostatische Gleichgewicht ein sehr empfindlicher Zustand ist.
Eine weitere Begebenheit, die mich sehr prägte, spielte sich im Katzensee ab. Zu meinem 7. Geburtstag bekam ich ein Geschenk, das meine zukünftige Entwicklung sehr stark prägte: Eine Tauchbrille und Schwimmflossen für die Füsse. Die Flossen trugen den Markennahmen 'Hans Hass', waren aus recht steifem grünlichem Gummi gefertigt und gestaltet wie ein Entenfuss mit drei Zehen und zwei Schwimmhäuten. Gleich packte ich die Dinger auf mein Fahrrad und fuhr zu Katzensee. Es war ein grossartiges Erlebnis, unter die Wasserfläche blicken zu können. Eine völlig neue Welt hielt mich geradezu buchstäblich ausser Atem. Der Blick zwischen den Schilfhalmen hindurch auf den kieseligen Grund, auf dem sich Algenbüschel befanden und Frösche duckten. Das Wasser war erstaunlich klar; ich konnte in einigen Metern Distanz schwimmende Fische entdecken. Es waren im Grunde meine allerersten Tauchversuche, welche meiner Entdeckerfreude über die Natur enormen Vorschub gaben. Mit sieben Jahren war ich ja noch ein Kind und hatte noch keinen Zugang zur Physik; so merkte ich nicht, weshalb ich mit einem Stück Gartenschlauch, dessen eines Ende ich im Mund hielt und das andere mit einem Stück Kork an der Wasserfläche schwimmen liess, nicht abtauchen und in einigen Metern Tiefe atmen konnte. Jedenfalls wurde dieses Tauchen zu einem folgenreichen Thema, und ich ahnte damals nicht, dass ich viel später (1987) Hans Hass persönlich begegnen konnte.
Eine andere Facette, die Tierwelt in ihrer Vielfalt kennenzulernen und zu beobachten, bestand in den Besuchen im Zoologischen Garten. Während der Katzensee sozusagen das Schönwetterprogramm war, begab ich mich sonst und vor allem auch im Winter jeweils am Mittwoch und Samstag nachmittags in den Zoo. Vor allem die Terrarien und Aquarien hatten es mir angetan. Ich war so sieben bis acht Jahre alt, als ich entscheidende Beobachtungen machte. Etwa die herrlich gemusterte Gabunviper mit ihrem dreieckigen Kopf. Ich hatte zuvor schon Beschreibungen über Giftdrüsen und Giftzähne gelesen. Einige Male war ich da, als die Schlange eine weisse Ratte ins Terrarium bekam. Der Biss vollzog sich so schnell, dass es unmöglich war, Details zu beobachten. Dass die Ratte innert einiger Minuten verendete, führte mir die ungeheure Wirkung des Giftes vor Augen. Ein Rätsel waren mir die Zähne, von denen ich nur wusste, dass sie innen hohl sind, um das Gift ins Opfer zu leiten. Wie die Viper dann das Maul öffnete, um die Ratte herunterzuschlingen, staunte ich, als die Giftzähne aufgestellt wurden. Zwei Dinge begriff ich; erstens dass die Giftzähne aufstellbar sind und in Ruhe nach hinten geklappt sind und zweitens, dass sie zum Herunterschlingen der Beute eingesetzt werden. Alternierend links und rechts haken sie ein und schieben die Ratte in den Schlund. Um sicher zugehen fragte ich den damals bekannten Wärter Otto Meier, ob die Gabunviper denn bewegliche Giftzähne habe; ich hätte ganz...