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E-Book

Klärchen bekommt ein Gesicht

... und andere Betrachtungen über Internet und Neue Medien

AutorNorbert Reitz
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl156 Seiten
ISBN9783743146303
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,49 EUR
Das Internet und die Neuen Medien verändern uns und unsere Welt. Im Schutz der Anonymität geben Menschen nahezu alles preis, was sie nicht einmal nächsten Angehörigen oder Freunden "im realen Leben" anvertrauen würden. Ob das alles wahr ist, was man da erfährt, kann man glauben - muss man aber nicht. Wird eine Behauptung nur oft genug wiederholt, neigt man dazu, sie für bare Münze zu nehmen. Alles in diesem Buch ist wahr - jedenfalls soweit es die Wiedergabe der Rechercheergebnisse und Zusammenfassung der Internetkontakte betrifft.

Norbert Reitz, geboren 1943, wäre schon als Säugling fast zum Kriegsopfer geworden beim großen Bombenangriff auf seine Heimatstadt Kassel am 22. Oktober 1943. In der privaten Handelsschule des Vaters wird er früh mit Bürokommunikation und technischer Entwicklung vertraut. Eine Internetliebe bringt ihn dazu, über sein Leben nachzudenken und aktuelle Recherchen, Diskussionen und Erlebnisse im Netz mit Erinnerungen an seine Zeit als Kind, Schüler, Soldat, Journalist, Pressesprecher und selbständiger Kommunikationsberater zu verbinden und kritisch zu betrachten.

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Leseprobe

Liebe auf den ersten Klick?


Inzwischen sind einige Jahre ins Land gegangen und noch immer macht mich das Lesen dieser kurzen Geschichte sentimental. Sie klingt unwahrscheinlich und ich würde sie auch für unrealistisch halten, wenn ich sie nicht selbst so erlebt hätte. Wie ist es möglich, so intensive Gefühle für einen Menschen zu entwickeln und um sein Schicksal zu bangen, den man nie von Angesicht zu Angesicht kennen gelernt hat?

Ist es nicht der übliche Weg, sich persönlich zu begegnen, zu sehen, anzusprechen und dann bei entsprechender Sympathie die Dinge ihren Lauf nehmen zu lassen? Einer ersten Begegnung folgen dann weitere. Bei jedem Treffen lernt man sich besser kennen, erfährt nach und nach mehr über einander und man ist gespannt, ob und wie diese Beziehung weitergeht. In jedem Fall aber - sofern man nicht blind ist - beginnt alles mit einem ersten Blickkontakt. Manche Menschen berichten sogar von "Liebe auf den ersten Blick".

Ganz anders in Zeiten des Internet. Man trifft sich online in einem Chatroom. Man liest die Phantasienamen der Gesprächsteilnehmer und versucht deren mehr oder weniger versteckte Bedeutung zu ergründen. Verbirgt sich hinter diesem Pseudonym ein männliches oder weibliches Wesen und wie alt mag dieses Wesen sein? Und schon ist die Neugier geweckt und Anlass zu weiteren Internet-Plaudereien gegeben. Mit dieser inzwischen weltweit millionenfach Tag für Tag geübten Praxis lernen sich die modernen Menschen also kennen. Grenzenlose Plaudereien. Und es gibt glaubwürdige Berichte über Freundschaften, Partnerschaften, Ehen, die auf diese Weise im Internet-Chat begannen.

Verdrehte Welt? Nicht mehr der Blickkontakt, der erste Empfindungen oder Reaktionen auslöst, sondern ein anonymisierter Erstkontakt über einen Nick oder Decknamen, dann eine Plauderei, Austausch von Informationen, vielleicht Austausch von Fotos und dann erst - wenn die Vorauswahl positiv verlaufen ist - vielleicht mal ein reales Treffen. Davon träumen wohl viele, im Internet den Partner oder die Partnerin fürs Leben oder wenigstens für den nächsten Lebensabschnitt zu finden.

Vergrößern Partnerschaftsprogramme die Chance auf den richtigen Kontakt? Hier wird schließlich aufgrund der eigenen Selbstdarstellung und der Wunschvorstellungen für eine Partnerschaft eine elektronische Vorauswahl getroffen. Und hier ist es auch sinnvoll, weil zielgerichtet, möglichst korrekte Angaben zu machen. Auch Fotos können diese Angaben über die eigene Person ergänzen. Dann kann der oder die Suchende auf die althergebrachte Art zunächst über den Augenschein eine Vorauswahl treffen sowie über solche Details wie Körpergröße, Gewicht, Haar- und Augenfarbe, Ausbildung und Beruf, Religion, Herkunft, Freizeitgewohnheiten, Rauch- und Trinkgewohnheiten, sowie musikalische, kulinarische oder sexuelle Präferenzen. Manche geben sogar einen dezenten oder aufschneiderischen Einblick in die Finanzsituation, um Mitleid oder Neugier zu wecken. Oder versichern, keine finanziellen Interessen zu haben.

Alle 11 Minuten verliebt sich ein Single in so einer Kontaktbörse, verspricht die Fernsehwerbung. Das klingt zunächst ja auch ganz überzeugend. Aber wenn man darüber nachdenkt, kommt man ganz schnell darauf, wie klein die Trefferquote bei den vielen Millionen Nutzern dieses Programmes ist. Und wenn sich jeweils auch nur ein Single verliebt, war das ja eher ein Flop solange die Liebe nicht erwidert wird.

Ganz anders geht es in den Chat-Räumen zu, die bei vielen Providern zum Standardservice gehört. Auch wenn es möglich ist, eigene Fotos in die Visitenkarten zu integrieren, verzichten die meisten darauf, weil sie sich unerwünschte Gesprächspartner vom Leib halten wollen. Viele verzichten völlig darauf, sich selbst für alle User (Nutzer) sichtbar vorzustellen, sofern sie den Internetzugang ohnehin nicht nur als Mail-Adresse verwenden, und begeben sich je nach Stimmung und aktuellen Interessen unter wechselnden Namen ins Netz.

So findet man sehr viele interessante und aufschlussreiche Selbstdarstellungen schon beim Einblick in die "Visitenkarten" oder Profile. Aber ob das alles wahr und korrekt ist, kann man nicht nachprüfen. Viele Männer geben sich auch gerne mal als Frauen aus oder umgekehrt, Ältere als Jüngere, Kinder und Jugendliche als Erwachsene. So trifft man sich also anonym und nicht identifizierbar zu Plaudereien mit vielen Unbekannten. Ob die dort ausgetauschten Informationen stimmen, kann man glauben - muss man aber nicht. So ist alles möglich: von schlichten, belanglosen und chaotischen Plaudereien in überfüllten Chat-Räumen, in denen alle durcheinander schreiben, in denen sich infantiler Buchstabensalat mit ernsthaften Diskussionsbeiträgen vermischt, bis zu engagierten Diskussionen über Politik, Religion, Ernährung, Familie. Kein Thema ist tabu, wer nicht interessiert ist, wechselt den Raum. Die meisten wechseln häufig bis ständig, getrieben von zielloser Suche.

Und natürlich gibt es auch solche Chats und Foren in denen man fachliche Informationen austauscht. Die Waschmaschine ist kaputt, wo kriege ich die richtigen Teile her und wie baue ich sie ein? Der Computer ist abgestürzt, wie richte ich ihn wieder neu ein? Hilfe kommt online - sofern man wenigstens online gehen kann - wie rette ich meine Daten, wie aktiviere ich meine Firewall und wie erneuere ich mein Antivirenprogramm? Einige Firmen haben Onlinechats zur Soforthilfe oder helfen über Remote Control, indem sie direkt über das Internet über Maus und Tastatur die Kontrolle über den Rechner der Hilfesuchenden übernehmen.

Den Gang zur Apotheke und hohe Kosten für Medizin kann man sich sparen. Auch Internetapotheken beliefern Patienten an der Haustür. Und die medizinische Beratung übernehmen Patientenforen. Krebs-, Tumor- oder Herzkranke berichten von ihren Erlebnissen und Problemen, beraten und beruhigen oder beunruhigen sich gegenseitig. Das ersetzt dann zwar nicht (oder sollte ich sagen: noch nicht) den Arztbesuch aber vielleicht das Gespräch im Wartezimmer. Durch Preisvergleich kann man die zu teuren Medikamente durch gleichwertige Produkte ersetzen. Ob es sich dabei um Produktpiraterie handelt, interessiert den Patienten erst dann, wenn sich herausstellt, dass die Medikamente nicht die versprochenen Inhaltsstoffe enthalten. Nach Angaben der Vereinten Nationen wird bereits die Hälfte der medizinischen Produkte in Billiglohnländern zusammengemixt und lukrativ in alle Welt verkauft. Die Spamwerbung, mit der unsere virtuellen Briefkästen täglich vollgestopft werden, machen das deutlich.

Manche verbringen ihr Leben dann auch direkt im Internet. Programme wie "Second Life" machen es möglich, Grundstücke zu kaufen, Häuser zu bauen und einzurichten. Hier erstellt man sich zunächst eine eigene Identität, man schlüpft in einen Avatar, der nun stellvertretend für die eigene Person durch das Programm geht. Diese virtuellen Püppchen kann man dann selbst gestalten, mit einem attraktiven Körper versehen, Frisuren und Kleidung ergänzen. Anziehen, ausziehen. Auch den Avatar verändern und einem Wunschalter anpassen. Verschiedene Landschaften besuchen, zu Fuß, per Fahrrad, Auto, Eisenbahn, Schiff oder Fantasiefahrzeugen. So entstehen von Hobbybastlern wahre Kunstwerke. Mit einer eigenen Währung kann man sie verkaufen oder erstehen. Die Welt ändert sich ständig. Es entstehen neue Landschaften und bei mangelnder Pflege verfallen sie wieder. Und die menschlichen Beziehungen und Probleme regeln die Avatare untereinander. Wie im richtigen Leben.

Mit 3D-Brillen wird diese Betrachtungsweise der virtuellen Welt noch verfeinert. Computerspiele füllen jetzt schon ganze Messehallen. Wild zusammengewürfelt treffen sich virtuell Menschen aus allen Teilen der Republik und darüber hinaus. Einziges Zugangskriterium ist die Verwendung der deutschen Sprache, jedenfalls, wenn man sich für deutschsprachige Chats entschieden hat. Da machen sich Politiker so viele Gedanken darüber, wie sie denn nun die Rechtschreibung verbindlich vorschreiben wollen, und schreiben das sogar gesetzlich vor.

Da hätten die Gerichte aber viel zu tun, wenn sie online über die "Rechtschreibung" Recht sprechen sollten. Und anfangen müssten sie dann sicher bei den staatlichen Stellen, den Kommunen: Geldstrafen verhängen für jedes fehlerhaft geschriebene Straßenschild, für unverständliches Deutsch in Behördenkorrespondenz, für unbelehrbare Wiederholungstäter natürlich auch Gefängnis oder Sicherungsverwahrung. Und richtig zu tun kriegen sie erst, wenn die Onlinedurchsuchung den Zugriff auf alle PCs ermöglicht und sie über private Aufzeichnungen, Korrespondenz und Chats urteilen können. Wer nicht richtig Deutsch kann, wird des Landes verwiesen - ganze Landstriche würden menschenleer werden.

Viel zu viel Zeit verbringt man im Internet - man spricht sogar schon von der Internetsucht als einer neuen Volkskrankheit. Aber die vermeintlich guten Freunde, die online so viel Spaß miteinander haben und sich stets vermissen, wenn die gewohnten Chatter sich mehrere Tage nicht blicken lassen, täuschen vielfach nur über die...

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