Christian Spieß
Asylrecht als Grundfreiheit – Aufenthalt als knappes Gut
Sozialethische Überlegungen zur Migration
◆ Wer hat Anrecht auf Asyl? Wie viele Flüchtlinge „verkraftet“ ein Nationalstaat? Der Autor, Vorstand des neu gegründeten Johannes Schasching SJ Instituts an der KU-Linz, beleuchtet zunächst das Recht auf Asyl aus der Perspektive einer liberalen und politischen christlichen Sozialethik. Im Anschluss diskutiert er, mit welchen möglichen Verfahren das Problem der Knappheit von Einwanderungsmöglichkeiten angegangen werden kann und welchem Verfahren aus sozialethischer Bewertung heraus der Vorzug gegeben werden sollte. Das Recht verfolgter Menschen auf ein Asylverfahren spielt dabei „eine Sonderrolle und ist mit einer äußerst starken normativen Verpflichtung verknüpft“. (Redaktion)
„Gemeinsam schaffen wir’s“ lautete der Slogan eines Wahlplakats der CSU zur bayerischen Landtagswahl 1946. Im verbindlichen „Du“ – „Eure Not ist unsere Sorge!“ – umwarb man die Heimatvertriebenen und pries sich als „einzige Partei, die Flüchtlings-Wahlkreise forderte!“1 Natürlich unterscheidet sich die gegenwärtige Herausforderung von der Situation der Nachkriegszeit, vor allem insofern es sich heute um Flüchtende aus anderen Weltregionen und – was für viele das größte Problem zu sein scheint – mit anderen religiösen und kulturellen Prägungen handelt. Allerdings war die „Belastungsgrenze“ der westdeutschen Gesellschaft der Nachkriegsjahre zweifellos deutlich niedriger als jene der Gegenwart. Doch trotz des gewonnenen Wohlstands wurde die Formel „Eure Not ist unsere Sorge“ von der Formel „Deutschland muss Deutschland bleiben“2 abgelöst – und an die Stelle des „Gemeinsam schaffen wir’s“ ist der Widerstand der Partei gegen die Losung „Wir schaffen das“ getreten, mit der die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel auf die Zunahme der Flüchtlingszahlen im Sommer 2015 reagiert hatte.
Eine besondere Zuspitzung erhält der aktuelle Diskurs um Zuwanderung in der Auseinandersetzung um die Begrenzung des Rechts auf Asyl, also in der Frage nach einer „Obergrenze“ für die Gewährung des Asyls bzw. entsprechender rechtsstaatlicher Verfahren. Diese Frage soll im Folgenden von einem sozialethischen Standpunkt aus in zwei Schritten erörtert werden. Zunächst wird mit Bezug auf zwei politisch-philosophische Referenztheorien eine grundlegende normative Einordnung verschiedener Formen der Migration und des Asylrechts vorgeschlagen. Im zweiten Schritt wird das Problem der Knappheit von Aufenthaltstiteln (also von Einwanderungsmöglichkeiten) diskutiert und mit Blick auf vier mögliche Verfahren der Allokation dieses knappen Gutes präzisiert.
1 Das Recht auf Asyl aus der Perspektive einer liberalen und politischen christlichen Sozialethik
Der hier vertretene sozialethische Standpunkt nimmt die – vor allem mit dem Ereignis des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 –1965) verbundene – Affirmation der katholischen Kirche und Theologie an das normative Projekt der Moderne auf und macht sich die entsprechenden Motive zu eigen: die Anerkennung der personalen Autonomie einerseits, die Anerkennung der liberalen Menschenrechte, der Trennung von Religion und Politik sowie der freiheitlichen Demokratie im säkularen Verfassungsstaat andererseits. Sozialethisch entfaltet wurden diese Motive vor allem in der Tradition der politischen Philosophie des Liberalismus. Die Theorie der Gerechtigkeit des Vertragstheoretikers John Rawls (1921– 2002) dürfte die einflussreichste Variante der liberalen politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart sein, die sich zugleich für eine christlich-sozialethische Rezeption eignet – sofern diese eben im Horizont der genannten Motive des normativen Projekts der Moderne entwickelt werden soll. Rawls entwickelt im Anschluss an den neuzeitlichen Kontraktualismus zwei Gerechtigkeitsprinzipien unter dem Kriterium der allseitigen Zustimmungsfähigkeit. Es geht ihm nicht, wie noch den „alten“ Vertragstheoretikern, um die Legitimation der politischen Gewalt als solche, sondern um die Begründung einer Konzeption der sozialen Gerechtigkeit in einem politischen Gemeinwesen. In einem bestimmten Verfahren – die Methodik kann hier nicht im Einzelnen erläutert werden3 – zeigt er, dass die folgenden beiden Grundsätze der Gerechtigkeit aus der Perspektive aller möglicherweise Betroffenen, unabhängig von deren je eigener Position innerhalb der Gesellschaft, zustimmungsfähig sind:
a) Jede Person hat den gleichen unabdingbaren Anspruch auf ein völlig adäquates System gleicher Grundfreiheiten, das mit demselben System von Freiheiten für alle vereinbar ist.
b) Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die unter Bedingungen fairer Chancengleichheit allen offenstehen; und zweitens müssen sie den am wenigsten begünstigten Angehörigen der Gesellschaft den größten Vorteil bringen […].“4
Wichtig – und kennzeichnend für einen liberalen Ansatz – ist, dass der erste Grundsatz Vorrang vor dem zweiten Grundsatz hat, dass also Grundfreiheiten Vorrang gegenüber der sozio-ökonomischen Gestaltung eines politischen Gemeinwesens zukommt. Angedeutet, wenn auch nicht mehr theoretisch ausgeführt hat Rawls außerdem, dass man dem ersten Prinzip „ein lexikalisch vorrangiges Prinzip voranstellen [kann], das die Erfüllung der Grundbedürfnisse verlangt, zumindest insofern ihre Erfüllung eine notwendige Bedingung dafür ist, daß die Bürger dazu in der Lage sind, die Grundrechte und -freiheiten zu verstehen und fruchtbar wahrzunehmen“5. Zu den Grundfreiheiten zählt Rawls klassische liberale Freiheitsrechte und politische Rechte, wie sie beispielsweise auch im Katalog der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte niedergelegt sind: „Gedanken- und Gewissensfreiheit, politische Freiheiten […] sowie jene Rechte und Freiheiten, die durch den Gedanken der Freiheit und der (physischen wie psychischen) Unverletzlichkeit der Person spezifiziert werden, wozu schließlich noch die Rechte und Freiheiten hinzukommen, die vom Prinzip der Rechtsherrschaft abgedeckt werden.“6
Nicht ganz einfach zu beantworten ist die Frage, ob das Asylrecht zu den Grundfreiheiten gehört. Hier wird die These vertreten, dass dies Rawls selbst zwar nicht vorgesehen hat, dass es aber systematisch zwingend aus seiner Theorie hervorgeht, soweit man davon ausgehen muss, dass Grundfreiheiten und Rechtsherrschaft nicht universell bzw. global realisiert sind.
Rawls wird ein „methodischer Nationalismus“ vorgeworfen, weil er seine Theorie der Gerechtigkeit auf Nationalstaaten bezieht und transnationale Phänomene nahezu vollständig ausblendet. Dies trifft zwar zu, wird von Rawls aber systematisch begründet. Legitimationsdiskurse und Limitationsdiskurse politischer Gewalt finden immer in einem Kontext statt, in dem politische Gewalt konstituiert und wirksam ausgeübt wird. Dieser Kontext der Rechtsherrschaft ist in unserer Zeit der Nationalstaat. Auch etwa der Prozess der europäischen Einigung hat nur zu einem Teil zur Verlagerung von politischer Verantwortung auf die europäische Ebene geführt. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass „europäische Lösungen“ und eine gemeinsame europäische Einwanderungspolitik etc. nicht wünschenswert wären. Tatsächlich aber beschließt derzeit nicht die Europäische Kommission oder das Europäische Parlament eine bestimmte Migrationspolitik, sondern die Verantwortungsträger der Nationalstaaten verhandeln darüber (und was dabei herauskommt, lässt Zweifel aufkommen, ob eine „europäische Lösung“ wirklich immer die bessere Lösung ist). Die Theorie der Gerechtigkeit bezieht sich zwar auf den Nationalstaat, ist aber universalistisch konzipiert; Rawls beansprucht also, dass sich die Menschen stets und im Prinzip überall für ein möglichst großes allgemeines System gleicher Grundfreiheiten entscheiden würden. Die Lösung des Problems der Migration aus politischen (!) Gründen ist demnach nicht der Wechsel von Personen von einem politischen System ins andere, sondern die Änderung des politischen Systems des Herkunftskontextes. Aus Rawls’ Perspektive „erledigt“ sich das Problem der Migration aus politischen Gründen, indem sich die Grundstruktur aller politischen Gemeinwesen am Kriterium der allseitigen Zustimmungsfähigkeit orientieren und die Grundsätze der Gerechtigkeit als Fairness universell realisiert werden. Vor dem Hintergrund dieser Annahme reduziert Rawls die Verantwortung der Nationalstaaten untereinander erheblich.7 Warum also dennoch der Rückgriff auf Rawls?
So dringend eine kosmopolitische Neuorientierung und eine „Erweiterung des Theorie-Horizonts“8 über die nationalstaatliche Ordnung hinaus grundsätzlich geboten erscheint,9 so plausibel erscheint doch nach wie vor die Orientierung am Nationalstaat als politische Organisationsform der Rechtsherrschaft, in der liberale Freiheitsrechte, demokratische Mitwirkungsrechte und soziale Anspruchsrechte rechtssicher durchgesetzt werden (können). Das gilt nicht zuletzt auch für das Recht auf Asyl, das von Nationalstaaten garantiert wird – und derzeit von niemandem sonst.
Wenn aber in einem politischen Gemeinwesen die Grundfreiheiten nicht gewährleistet sind...