ERSTES KAPITEL
ACHTSAMKEIT ALS BEWUSSTSEINSWEG – EINE SEGENSREICHE LEBENSPHILOSOPHIE
Ein achtsames Leben
Beginnen wir mit dem Ziel und lassen wir vor unseren Augen die Achtsamkeit lebendig werden. Ich möchte Sie gern ein wenig neugierig machen. Setzen wir voraus, Sie hätten das Buch bereits gelesen, die verschiedenen Anregungen integriert und würden jetzt ein gesegnetes, achtsames Leben führen. Was glauben Sie: Wie sieht es aus?
Hier einige Beispiele:
- Wenn Sie am Morgen die Augen öffnen, sind Sie sich Ihrer universellen, göttlichen Kraft bewusst.
- Der Tag beginnt in harmonischem Einklang mit dem Leben.
- Das Leben zeigt sich so, wie es ist – weder besser oder schlechter.
- Sie verändern mit Leichtigkeit das, was möglich ist.
- Sie nehmen liebevoll an, was nicht verändert werden kann.
- Sie erkennen die Illusion der Zeit als ein individuelles Resultat des Bewusstseins.
- Ihre Wahrnehmung ist gelassen, klar und absichtslos.
- Sie haben aufgehört, sich, andere Menschen, Situationen und Handlungen negativ oder positiv zu bewerten.
- Durch Ihre gelebte Achtsamkeit enttarnen sich alle Unwahrheiten, alle künstlichen Masken und gespielten Rollen – bei Ihnen selbst ebenso wie bei anderen.
- Sie nehmen die Wirklichkeit wahr.
- Sie leben in absoluter Authentizität.
- Sie öffnen sich dem universellen Strom und lieben das Leben.
Es gäbe noch viele weitere Kriterien für ein achtsames Leben. Die Aufzählung lässt jedoch bereits erahnen, welch großen Segen uns die gelebte Achtsamkeit schenken kann. Sie dient der menschlichen Bewusst-Werdung, und somit können wir sie als Lebenskunst oder auch Lebensphilosophie bezeichnen. Es ist eine Möglichkeit, das Leben einfach und wertfrei zu betrachten und es folglich lieben zu lernen, wohl bemerkt unter Ausschluss der uns sehr vertrauten, weit umherschweifenden Interpretationen des Verstandes. Sobald Sie denken, leben Sie nicht mehr im Augenblick und verschenken einen beträchtlichen Teil eines erfüllten Lebens. Sie können es natürlich trotzdem tun, nichts spricht dagegen. Es ist immer Ihre Wahl, wie Sie Ihr Leben gestalten möchten. Ich jedoch habe mir angewöhnt, mich des Denkens nur dann zu bedienen, wenn ich es wirklich brauche. In einem achtsamen Leben gibt es keine ehrgeizigen Gedanken oder Pläne mehr – das, was der Mensch benötigt, fließt ihm ohnehin zu. Ich muss es dem Leben nur gestatten.
Manche Menschen glauben die gelebte Achtsamkeit bereits vollkommen integriert zu haben und vermissen dennoch den Fluss des Lebens, diese absolute Leichtigkeit im Sein. Oftmals ist der Intellekt die Ursache, der die Tiefe einer achtsamen Wahrnehmung mit ihren wunderbaren Geschenken verhindert. Achtsamkeit wird manchmal mit der präzisen intellektuellen Interpretation einer erlebten Situation verwechselt. Damit Ihnen dieser Umweg von vornherein erspart bleibt, unterscheiden wir im Folgenden zwischen subjektiver Beobachtung und klarer Wahrnehmung.
»Achtsamkeit beginnt bei dir selbst: Achte dich in jedem Augenblick und du wirst Achtung ernten.«
Subjektive Beobachtung versus klare Wahrnehmung
Normalerweise verstehen wir unter achtsamer Beobachtung z. B.: Ich sehe einen Hund und konzentriere mich darauf. Und statt nun ausschließlich diesen Hund in seiner ganzen Individualität wahrzunehmen, setzt augenblicklich der Verstand ein.
In Bruchteilen von Sekunden zieht dieses durchaus sehr wertvolle Überlebensinstrument Vergleiche mit ähnlichen Erlebnissen aus der Vergangenheit. Kategorisiert und eingeordnet präsentiert sich dann das jeweilige Ergebnis; beispielsweise: »Vor fremden Hunden muss man Angst haben …« Zugleich schüttet der Körper entsprechende Hormone aus, und die Person wird von einem Schwall an Gefühlen erfasst, die es sofort zu kontrollieren gilt. Die Konsequenz der Beobachtung könnte dann etwa lauten: »Ein großer, brauner, schlabbernder und stinkender Hund, unangenehm und unfreundlich. Er tut mir nicht gut!« – unabhängig davon, wie der Hund wirklich ist. Ein anderer wird vielleicht genau den gleichen Hund in der gleichen Situation als liebevoll, treuherzig und verspielt wahrnehmen.
Von klarer Wahrnehmung und Vertrauen ins Leben zeugt eine solche Art der Beobachtung wohl kaum. Das, was wir erleben, ist eine verzerrte Illusion, gespeist aus den interpretierten Erfahrungen der Vergangenheit. Anhand dieses Beispiels erkennen wir in aller Deutlichkeit, wie subjektiv die Wahrnehmungen, genauer gesagt: die Interpretation des Erlebten, sind. Gehen wir noch einen Schritt weiter, wird uns tief in unserem Gewahrsein bewusst, dass ausnahmslos alle Erlebnisse im Außen aufgrund innerer Mängel, nicht verarbeiteter Erfahrungen und antrainierter Muster registriert werden. Doch ich will nichts vorwegnehmen – kehren wir wieder zur Beobachtung zurück.
Im Gegensatz zur subjektiven Beobachtung steht die klare Wahrnehmung. (Um den Unterschied zu erklären, verwende ich die Begriffe »Beobachtung« und »Wahrnehmung« als voneinander getrennt und gegensätzlich.) Ich sehe einen Hund und lasse mich vollkommen auf diesen Augenblick ein. Es ist wie ein Hineinfallen und Vertrauen in die Energie des jetzigen Moments. Keine Gedanken vergleichen oder urteilen und keine Gefühle trüben die Wahrnehmung. Ich sehe den Hund, wie er ist, und enthalte mich jeder Eingliederung in ein vorgefertigtes System oder eine gegebene Struktur. Diese Enthaltung fällt ganz leicht. Im Gewahrsam taucht keinerlei Gedanke an eine Bewertung auf. Ich lasse mir von den wahrgenommenen Objekten zeigen, was sie sind – und das jedes Mal aufs Neue. Es ist wie die unschuldige Wahrnehmung eines Kindes, das zum ersten Mal einen Stein, eine Blüte, ein Auto erblickt. Mit dieser Achtsamkeit erfahre ich das Leben selbst in seinem Ursprung und bin zugleich eingebettet in unendliches Vertrauen. Dieses Vertrauen kann ich nicht aufgrund äußerer Sicherheiten oder mentaler Anstrengungen gewinnen, es offenbart sich als immerwährend unmittelbar. Die Erfahrung und der Erfahrende selbst transzendieren sich dank der universellen Kraft. In Asien bezeichnet man dieses Erleben als das Tao selbst, eine Weisheit, die dem Denken vorenthalten bleibt und nur in sich selbst erfahren werden kann.
In späteren Kapiteln werden wir uns noch tiefer auf die Ebenen der Wahrnehmung einlassen, doch so viel sei hier bereits gesagt: Subjektive Beobachtung verlangt stets nach Konzentration und ist immer mit geistiger Anstrengung verbunden. Die klare Wahrnehmung dagegen geschieht sehr leicht durch einfaches Sich-Öffnen und Geschehenlassen. Es ist ein passiver Vorgang, aus dem Aktivität entsteht; eine Lebensweise, die uns in den westlichen Industrieländern eher fremd erscheint, sind wir es doch gewohnt, an erster Stelle aktiv zu sein, um die gewünschten Erfolge zu erzielen. So mag es Sie bitte nicht verwundern, sollten Sie anfangs Schwierigkeiten damit haben, sich ein scheinbar passives Geschehenlassen zu erlauben. Mithilfe der Übungen, die gegen Ende der Kapitel dieses Buches vorgestellt werden, werden Sie jedoch ein Meister darin werden. Haben Sie Geduld und vertrauen Sie bedingungslos sich selbst.
»Es gibt drei Wahrheiten: meine Wahrheit, deine Wahrheit und die Wahrheit.«
CHINESISCHES SPRICHWORT
Das Beispiel der Wahrnehmung des Hundes verdeutlicht, dass die gelebte Achtsamkeit tatsächlich ein Bewusstseinsweg ist. Die klare Wahrnehmung ist ein wesentlicher Bestandteil davon. Je mehr getrübte Gedanken, Vorstellungen und Erwartungen in der Beobachtung weichen, desto klarer und eindeutiger wird die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Sogar Physiker sprechen von einem Unterschied zwischen Wirklichkeit und Realität. Wirklichkeit ist das, was ist. Realität ist stets die subjektiv gefärbte Wahrnehmung der scheinbaren Wirklichkeit. Achtsamkeit lässt uns die Wirklichkeit so erleben, wie sie ist. Nicht mehr, nicht weniger und so einfach.
Wenden wir uns nun der ersten Achtsamkeitsübung zu. Wählen Sie dafür eine Umgebung, in der Sie ungestört sind, und bemessen Sie die Zeit, die Sie darauf verwenden, großzügig. Nichts ist störender, als sofort nach einer wohltuenden Übung zum nächsten Termin hetzen zu müssen und dadurch ihren nachhaltigen Effekt nicht wahrnehmen zu können. Erlauben Sie sich diesen persönlichen Freiraum mit möglichst viel Selbstverständnis und innerer Freude.
Wenn Sie wollen, setzen Sie jetzt bewusst die Absicht: »Ich nehme mir jetzt Zeit nur für mich und lasse mich mit spielender Leichtigkeit und wacher Aufmerksamkeit auf diese Übung ein.«
Sind Sie bereit? Wir beginnen mit einer einfachen und doch sehr intensiven Übung, die unsere Aufmerksamkeit vom Außen abzieht und nach innen lenkt. Führen Sie jeden Schritt entspannt und in Ruhe durch, bevor Sie zum nächsten übergehen.
Praxis der Achtsamkeit: Der einfache Atem
- Schließen Sie die Augen und atmen Sie ganz ruhig ein und...