Ich bin nicht gerne ein Mönch geworden
Universität und Kloster (1501–1517)
Im Frühjahr 1501 nimmt Luther im Alter von 17 Jahren an der Universität in Erfurt das Grundstudium auf, das er Anfang 1505 mit der Graduierung zum Magister abschließt. Dieses Grundstudium hat vor allem Latein und Philosophie zum Inhalt. Für das sich anschließende Hauptstudium stehen an den Universitäten drei Fachrichtungen zur Wahl: Theologie, Rechtswissenschaften und Medizin. Martin wählt das Fach Jura, ganz nach dem Willen des Vaters, der hier berechtigterweise die besten Karrierechancen und Berufsaussichten sieht für den Herrn Sohn, der es einmal noch weiter bringen soll als er selbst. Doch es kommt anders.
Am 2. Juli des Jahres wird Martin auf der Rückreise von einem Besuch bei seinen Eltern bei Stotternheim, kurz vor Erfurt, von einem schweren Gewitter überrascht. Ein Blitz schlägt in seiner Nähe ein, der Student fällt zu Boden, ruft in Todesangst die Mutter Marias und Patronin der Bergleute um Hilfe an und gelobt: »Hilf, heilige Anna, ich will ein Mönch werden!« Sehr zum Verdruss des Vaters löst er gut zwei Wochen später das Gewitter-Gelübde auch ein. Mitte Juli begibt sich der 21-Jährige in das Schwarze Kloster der Augustiner-Eremiten zu Erfurt. Nach seinen Abschiedsworten »Heute seht ihr mich und dann nimmermehr« schließen sich die Pforten des Klosters hinter ihm.
Dennoch gelingt uns ein Einblick in seine weitere Entwicklung.
Nach dem Noviziat legt Bruder Martin die Mönchsgelübde ab, wird 1507 zum Priester geweiht und hält seine erste Messe, die Primiz. Dann studiert er Theologie und wird schließlich im Auftrag seines Ordens Professor. Er macht also doch Karriere, wenn auch äußerlich weniger prunkvoll als gedacht. Zwischen seinem 22. und 42. Lebensjahr lebt Luther als Mönch, also etwa das zweite – äußerst aktive und produktive – Drittel seines Lebens.
Abb. 13: Im selben Jahr 1507, in dem Luther zum Priester geweiht wird und damit die Beichte abnehmen kann, malt der Nürnberger Maler Albrecht Dürer (1471–1528) mit dem Doppelporträt »Adam und Eva« die erste lebensgroße Aktdarstellung in Deutschland. Dürer ist neben Lucas Cranach der überragende deutsche Maler, weshalb die Epoche um 1500 im Blick auf die Kunstgeschichte auch als »Dürerzeit« bezeichnet wird.
Das Leben des Mönchs galt im Christentum lange Zeit als vollkommenes christliches Dasein. Äußerlich erkennbar waren die Mönche an der einfachen Kleidung (Kutte) und dem bis auf einen Haarkranz geschorenen Kopf (Tonsur). Die Mönche gelobten Armut, Gehorsam und Keuschheit. Das Leben hinter Klostermauern wurde in ständiger Buße geführt, mit wöchentlicher Beichte und Absolution und ständigen Werken der Buße oder Genugtuung (Satisfaktion), insbesondere Fasten und Beten. Sieben gemeinsame Gebets- bzw. Gottesdienstzeiten verteilten sich über den Tag, lange vor dem Morgen beginnend, bis hin zur Mitternacht. Als Lohn schien die Krone des ewigen Lebens zu winken und eine höhere, glanzvolle Form des himmlischen Daseins.
Der Orden der Augustiner-Eremiten (OESA) war einer der Reform- und Bettelorden, der es, vor allem in seiner strengen Version (der sogenannten »Observanz«), mit Frömmigkeit, Entsagung und den Mönchsgelübden besonders ernst nahm.
Über die Motive für seinen Eintritt ins Kloster ist viel spekuliert worden. Es mag nicht nur das Gewitter gewesen sein. Die ganze Lebensphase ist nicht einfach. Zuvor hatte sich der Student bei einem Unfall mit dem Degen eine Hauptschlagader am Bein verletzt und war fast verblutet. Als junger Magister in Erfurt litt er an Depressionen und ging – nach eigenem Bekunden – »immer traurig einher«. Religiöse Skrupel und Sehnsüchte spielten daneben eine nicht unerhebliche Rolle: »O, wenn ich in ein Kloster gehe und ihm diene«, charakterisiert er im Rückblick sein Kalkül, »so wird Gott mir lohnen und mich willkommen heißen.« Und er beschreibt sein Gefühlsleben beim Anblick eines Fürsten, der, zum Skelett abgemagert, sein Leben als Bettelmönch fristete: »Wer ihn ansah, der schmatzte vor Andacht und musste sich seines weltlichen Standes schämen.« Zuletzt ist da das Verhältnis zum Vater, der ihm einen glänzenden Weg ermöglicht und vorgezeichnet hatte. Nun trifft der Sohn eine eigene Entscheidung und riskiert damit einen schweren Konflikt. Hans Luder, der den Jura studierenden Herrn Sohn mit dem respektvollen »Sie« angeredet hatte, kehrt jetzt zum plumpen »Du« zurück und bricht aus Zorn den Kontakt mit ihm nahezu ab. Erst bei der festlichen Primiz ist er wieder zugegen und wohl auch nicht wenig stolz und zufrieden, denn er bezahlt ein großzügiges Fest. Doch macht er seinem Ältesten wegen dessen Eigensinn weiterhin schwere Vorhaltungen.
Dem Sohn aber geht es hinter den Klostermauern wieder nicht gut. »Ich bin nicht gerne ein Mönch geworden«, urteilt er später im Rückblick. Und: »Ich war der Welt rein abgestorben.« Zwar führt Bruder Martin als Mönch ein untadeliges Leben: »Denn ich habe das Gelübde nicht getan um des Bauches, sondern um der Seligkeit willen und habe unsere Regeln peinlich streng gehalten.« Die traditionellen Mönchsgelübde der Armut, Keuschheit und des Gehorsams – Luther hat damit keine Probleme: »Als Mönch habe ich nicht viel Begierde gespürt. Pollutionen hatte ich aus leiblicher Nötigung. Die Weiber schaute ich nicht einmal an, wenn sie beichteten.«
Abb. 14 und 15: Die beiden ersten Lutherporträts des Hofmalers Lucas Cranach (1472–1553) zeigen, wie der kursächsische Hof planmäßig ein öffentliches Lutherbild schuf. Das erste Bildnis, das einen von Nachtwachen erschöpften, aber eben auch sehr eigenwilligen, kantigen und rebellischen Augustinermönch zeigt, wurde vom Hof zurückgehalten und ein neues Werk in Auftrag gegeben, das dann wunschgemäß die charakteristischen Züge abmilderte, zur Gottergebenheit umdeutete und außerdem Luther wie einen Heiligen vor eine Nische setzte. Dieser Kupferstich verbreitete sich rasch und wurde sehr bekannt. In der Folgezeit schuf Cranach dann Lutherporträts für die unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten: Luther als Gelehrter, als Ritter, Bürger und als Kirchenvater …
Die (hier nicht sichtbare) lateinische Unterschrift unter dem Porträt zeigt, dass sich Lucas Cranach sehr bewusst das Recht herausnahm, ein Lutherbild zu erschaffen und zu gestalten: »Die unvergänglichen Abbilder seines Geistes bringt Luther selbst hervor, seine sterblichen Züge jedoch das Wachs des Lucas.«
Doch nicht der Mangel an Eifer, vielmehr gerade die Erfüllung der Regeln schafft Probleme: »Ich habe auch wollen ein heiliger und frommer Mönch sein und habe mich mit großer Andacht zur Messe und zum Gebet bereitet. Aber wenn ich am andächtigsten war, so ging ich als Zweifler zum Altar, und als Zweifler ging ich wieder davon. Hatte ich meine Buße gesprochen, so zweifelte ich trotzdem.«
Die Anfechtungen verdichten sich zur Identitätskrise und verschaffen sich in Angstzuständen Luft. Mit aller Macht wehrt sich der frisch geweihte 23-jährige Priester gegen den Albtraum, er sei vom Teufel besessen, und schreit nach seiner ersten Messe in einer Art Anfall im Chor der Kirche entsetzt: »Ich bin kein Besessener!« Ein andermal packt ihn bei einer Fronleichnamprozession hinter seinem Vorgesetzten und Beichtvater Johann von Staupitz (um 1468–1524) die nackte Angst. Der aber versucht ihn zu beruhigen: Nicht Christus kann dich erschreckt haben, denn Christus tröstet! Und wenn der mutlose Mönch zerknirscht stöhnt: »O meine Sünde, Sünde, Sünde!«, ruft ihm sein Beichtvater zu: »Lass deine Puppensünden! Nicht Gott zürnt dir – du zürnst Gott!«
Doch Bruder Martin scheint von seiner Schlechtigkeit und Schuld wie besessen. Im Rückblick macht er die kirchlichen Drohungen mit den Höllenstrafen für seine schweren Schuldgefühle und Angstzustände verantwortlich: »Also ist es eine schädliche Sache, dass man unter dem Papst die Leute gelehrt hat, vor Christus zu fliehen«, aus Angst vor dem Jüngsten Gericht. »Wenn ich ihn gemalt sah, erschrak ich vor ihm wie vor dem Teufel, weil ich sein Gericht nicht ertragen konnte.« Die Schrecken fasst er später in ein anschauliches Bild: Wie bei einer auf einer Linie entlangrollenden schweren Kugel hat die Seele den Eindruck, als ein einzelner Punkt der Linie die ganze gewaltige Last dieser Kugel tragen zu müssen – eine »Höllenstrafe, das heißt der unerträgliche Schrecken, gegen den es keinen Trost gibt«. Nicht weniger anschaulich charakterisiert Luther die schrecklichen Folgen seiner Gewissensangst: »Da wurde ich wie eine Leiche.«
Manche Psychiater und Tiefenpsychologen haben aus diesen Zuständen eine Angstneurose oder Psychose herauslesen wollen. Eine Identitätskrise und ein schwerer Autoritätskonflikt waren es auf jeden Fall. Theologen aber fügen hinzu, dass die tiefe Gewissensnot (scrupulositas) geradezu als Merkmal der Zeit angesehen werden kann, auch unter Geistlichen. Eine unwürdig gelesene Messe etwa stellte nach der herrschenden Auffassung für den schuldigen Priester eine doppelte Todsünde dar, da er den Leib Christi unwürdig austeilte und zugleich Leib und Blut unwürdig empfing. Ein Leben in ständiger Buße und Beichte, mit nur kurzfristig befreiender und erleichternder Absolution war die Folge.
Wahr ist’s, ein frommer Mönch bin ich gewesen und habe so streng die Ordensregeln beachtet, dass ich sagen darf: Ist je ein...