II. 1: Vorm Gebirg – München – 1964 bis 1975
Oktoberfest – Theater
Das Studium mit seinen Ängsten und den verdienten wie unverdienten Triumphen lag hinter mir, und so glaubte ich an ein neues Leben in München, wohin ich nach meiner Promotion (Juli 1964) mit meiner Frau im Herbst dieses Jahres übersiedelte. Ich konnte nun endgültig die - glücklich erlangte - Stellung eines Redakteurs der „Neuen Deutschen Biographie“, hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayer. Akademie der Wissenschaften, übernehmen, die ich schon vor der Doktorprüfung seit dem 1. April 1964 vorläufig innegehabt hatte.
Im Frühjahr und im beginnenden Sommer 1964, als ich während meiner vorläufigen Anstellung und der Vorbereitung auf die Doktorprüfung hin und wieder durch München gegangen war, hatte ich noch nicht den Slogan von der „Weltstadt mit Herz“ gehört oder gelesen, eher schon den vom „Millionendorf“. Ich fand ihn zutreffend für die sympathische, manchmal skurril-charmante Stadt. So wird man sie jetzt – 2009/10/12 – mit ihren weitverzweigten U- und S-Bahnen und den Konglomeraten der ständig wie wahnwitzig weiterwachsenden Blech-Stahl-Plastik- und Glas-Hochhäuser, von denen viele wie ohne Scham die Türme der Frauenkirche überragen, nicht mehr nennen wollen. Zu vieles auch, was ich mit diesem Namen verbunden hatte, ist verschwunden: die hausgroße Bedürfnisanstalt am Stachus, mit dem halben Wäldchen in ihrem östlichen Rücken, ebenso die dichten Bäume an der Münchner Freiheit und an Straßen, die dem Mittleren Ring sowie dem sog. Altstadtring und ihren Zubringern weichen mußten.
Weg und durch ein Café ersetzt ist der „Pißort“ unter der Terrasse der Kirche St. Peter, dem „Alten Peter“. Anscheinend ist vom alten Uringestank im Café nichts mehr zu riechen, aber die Geister der Homosexuellen, die sich hier vor nicht allzu langer Zeit zum Schwanzvergleich trafen, werden wohl da noch herumspuken.
Von vielem, was mir damals München liebenswert machte und jetzt verschwunden ist oder ersetzt wurde durch Modernes, scheinen mir noch immer Bilder in Tag- und Nachtträumen hinter den Augenlidern auf, schieben sich vor das moderne München und lassen es – in betäubendem Schein – wiederauferstehen. Die Lebensmittelgeschäfte und die Läden für den alltäglichen Bedarf, die es noch in vielen Straßen, auch in der Innenstadt gab, die erst kürzlich liquidierte Post im Stadtzentrum, mir einst vertraute Geschäfte und Wirtschaften, besonders in Schwabing, auch Kinos wie den „Türkendolch“ dort, Feinkostgeschäfte, wie jenes am Anfang der Theatiner-Passage, die Lebensmittel- und Feinkost-Etage des ehemaligen Neckermann-Kaufhauses und die verwandte Etage im Souterrain des gekappten Hertie-Hochhauses in Schwabing, wo du samstags, kurz vor Geschäftsschluß um 14 Uhr, Ketten von langschläfrigen Filmgrößen und -Sternchen an den Kassen bewundern konntest. Von den zahlreichen kleineren Brunnen, die für mich 1962/64 eine ständig plätschernde Erfrischung waren, scheinen nur noch wenige erhalten zu sein. Damals erlebte ich München als eine Stadt der Brunnen.
Schon bald gingen wir –am Vormittag – aufs Oktoberfest Wir sahen den Einzug der Festwirte mit den von festlich geschmückten Gäulen gezogenen Festwägen und der Kapelle in der Tracht des Oberlandes. Es wurde Mittag, dann Nachmittag und noch immer war die „Wiesn“ mit den riesigen Bierzelten, Buden, Hendl- und Fischbratereien und unzähligen Fahrgeschäften übersichtlich. Die Menschen konnten sich ungehindert auf dem Festplatz bewegen. Die Zelte waren bald voll, wirkten aber bei aller lautstarken Blasmusik ruhig, die Leute saßen auf den Bänken, schwatzten miteinander und tranken ihre „Maß“ Bier (1 Liter, das aber im Ausschank selten erreicht wurde), aßen Brezn, Hendl oder Braten, der vor ihren Augen von einem Ochsen geschnitten wurde, der überm Feuer am Spieß briet.
Niemand tanzte auf den Tischen, und die Angst-Lust-Schreie von den Tempomaschinen etc. blieben die einzigen extremen Laute dieses gemütlichen Volksfestes. Wir setzten uns in einen „Vorgarten“ vor einem Bierzelt, aßen unsere erste Brezn und tranken zusammen eine Maß.
München: Oktoberfest 1964, Kapelle an der Spitze des Einzugs der Festwirte
Foto: Martin Glaubrecht, 1964
Wir hatten durch Vermittlung eines Bruders meiner Frau, der in München ein Architekturstudium absolvierte, eine Wohnung im Norden Schwabings gefunden: 2 Zimmer, eine Kochnische und ein Bad in einem neu erbauten Wohnhaus mit 8 Stockwerken aus Beton und Glas, nördlich des Schwabinger Krankenhauses.
Die Wohnung schien uns zunächst einen angenehm modernen Komfort zu bieten: Fußbodenheizung, genügend große Räume, ein gefliestes warmes Bad, Aufzug, Balkon, Müllschlucker und Waschmaschinen samt Trockner im Keller. Mit der Zeit spürte ich aber auch die Pferdefüße der Moderne: Der Müllschlucker lärmte Tag und Nacht, die Betonwände und - böden übertrugen noch den geringsten Schall, Nägel oder Haken waren nicht einzuschlagen, eine Bohrmaschine hatte ich nicht, um so mehr erschreckte mich das Höllenkreischen von Werkzeugen aus Nachbarwohnungen. Die Fußbodenheizung war nur schlecht zu regulieren: Sie trocknete die Luft in den Zimmern aus und brachte selbst den Sisalbelag, den wir im Wohnzimmer verlegt hatten, zum staubigen Vertrocknen. Der Balkon war fast nur in den Übergangszeiten zu benützen, im Sommer heizten sich Beton-Boden und -Brüstung allzu heiß auf. Um Wohn- und Schlafzimmer vor der sommerlichen Hitze effektiv schützen zu können, hätte man Außenjalousien anbringen müssen, die von der Hausverwaltung zu „genehmigen“, aber vom Mieter zu bezahlen waren.
Pointiert gesagt, konnte man es in diesen modernen Wohnungen nur aushalten, wenn man sich am Wochenende dem Strom jener anschloß, die aus der Stadt heraus- und vorzüglich in die Berge hinein flohen. Wir flohen die Stadt nicht. Ich hatte den Reiz der Berge noch nicht entdeckt, und es gab noch viel in der Stadt zu entdecken: Vergnügen und geistigen und künstlerischen Genuß für jedermann in dem atemberaubenden Angebot der Museen, der städtischen, staatlichen und privaten Theater und Kleinkunstbühnen und der Kabaretts, der zig Kinos, der offenen und Hallen-Bäder, der Bäche, Kanäle und dem Isarfluß, der Biergärten und der Gastwirtschaften mit ihrer bayerischen Küche und den Genüssen aus vielen Ländern der Welt. Wissen und Bildung vermittelten zwei Universitäten, die Volkshochschule, und die großen Bibliotheken von Staat und Stadt sowie städtische und private Sprachenschulen und weitere private und öffentliche Bildungsanstalten.
Ausflüge boten sich an zum Starnberger, Ammer- und Chiemsee, auch zum Tegernsee und zum Schliersee mit ihren Übergängen in die Berge und nach Österreich. In wenigen Stunden wäre man schon in Italien gewesen, zum Beispiel in Verona, und hätte nicht nur die antike Arena oder Balkon und Haus der Julia bewundern können, sondern auch die Pracht der mittelalterlichen und der Renaissance-Architektur, vor allem um die Piazza dei Signori und die Piazza delle Erbe, sehr viel später für mich die schönste Oberitaliens. Noch aber zog es uns, wie unzählige Besucher Bayerns, zu den Schlössern des verschwenderischen Königs Ludwig 11., der eigenbrötlerisch bis zum Wahnsinn wohl deshalb wurde, weil er seine anstößige homosexuelle Orientierung verbergen mußte.
Wir gingen gern und häufig ins Theater, besonders in die städtischen Kammerspiele, an denen eine Zeitlang noch Fritz Kortner wirkte. Seine Klassiker-Inszenierungen (u. a. „Leonce und Lena“, „Kabale und Liebe“ und „Othello“) verschlugen mir in ihrer sprachlichen Kraft und Reinheit und in ihrer so strengen wie präzisen Führung der Schauspieler den Atem. Ich hatte schon bei einer Theaterexkursion von Würzburg aus in München in dem berühmten Rokoko-Schmuckstück des Cuvilliés-Theaters eine Schauspielerin in Lessings „Emilia Galotti“ bewundert, die tonlos, mit nur einer winzigen Handdrehung nach außen, bei leicht angewinkeltem Arm, einen Ansturm von Gefühlen zugleich ausgedrückt und gebändigt hatte. Als derart sparsam in den Gesten bei gleichzeitiger stärkster Expression erlebte ich vor allem die von Kortner, zum Teil von seinem Assistenten Peter Stein geführten Schauspieler.
Auch in der Ära nach Kortner hatten wir noch große Theatererlebnisse. Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wienerwald“ in der Inszenierung von Otto Schenk bewegten uns am heftigsten, nach zuvor schon gespielten Stücken desselben Autors. Aufruhr im Kopf und Krämpfe im Magen machten zwei Stücke: Slawomir Mrozeks „Tango“, in dem erstmals Hannelore Elsner auftrat, in einer kurzen Sequenz, nackt und als Gewaltopfer des ebenfalls noch jungen Klaus Löwitsch, der spätestens hier auf sein „Fach“, den „Brutalo“, festgelegt wurde. Dann Edward Bonds „Gerettet“, das im „Werkraum“ in der...