DAS ANTIKE CHRISTENTUM – RAUM UND ZEIT
Der geographische Raum der antiken Christentumsgeschichte – seine Prägung und Erschließung
Der geographische Schauplatz der antiken Christentumsgeschichte war für lange Jahre fast ausschließlich mit dem römischen Kaiserreich, dann mit dessen Nachfolgestaaten identisch. Nur ganz partiell sind die Nachbarreiche – etwa Persien und vor allem Armenien – betroffen gewesen, und im Unterschied zum europäischen Mittelalter betrieb die christliche Kirche auch kaum Mission außerhalb der Reichsgrenze. Weltmission hieß hier, die Grenzen des Imperium Romanum, des römischen Reiches, erreicht zu haben. Darin darf man kein christliches Spezifikum sehen – im Gegenteil: Die Christengemeinde zeigte sich in dieser Beschränkung als Glied einer antiken Welt, die neben dem imperium meist nur noch ein Barbarenoder Ödland kannte. Imperium war «oikoumene», die ganze bewohnte Welt. Orbis terrarum, Erdkreis, wurde mit orbis Romanus identifiziert. Wo – wie zum Beispiel in Trier – in der Wandelhalle einer Ausbildungseinrichtung eine Weltkarte an die Wand gemalt war,[1] konnte der Betrachter diese Identifikation auch nachvollziehen. Wer in der Hauptstadt Rom vor dem Mausoleum des 14 n. Chr. verstorbenen Kaisers Augustus stand und dort (oder an irgendeiner der anderen Stellen im Reich, wo er angebracht war) den Tatenbericht las, den der imperator kurz vor seinem Tode abgefaßt hatte, wurde bereits in der Überschrift jenes Textes an diese Vorstellungen erinnert: «[Bericht] der Taten des göttlichen Augustus, durch die er den Erdkreis der Befehlsgewalt des römischen Volkes unterwarf». Dank entsprechender Bemühungen des Augustus, so signalisierte bereits der Titel dieses – nach der besten erhaltenen Kopie im türkischen Ankara auch monumentum Ancyranum genannten – Textes, umfaßte das imperium nun die ganze bewohnte Welt, die «oikoumene». Die christliche Kirche hat, solange das römische Kaiserreich bestand, nur äußerst selten mit dieser Ideologie gebrochen und ihre Botschaft außerhalb der Staatsgrenzen verkündigt.
Aber der geographische Raum der Geschichte der antiken Christenheit ist trotzdem nicht einfach mit dem des römischen Kaiserreiches identisch; sein ideelles Zentrum liegt anderswo, und das verschiebt in jeder Hinsicht die Gewichte. Kern und Metropole des paganen Reiches bildete bekanntlich das geographisch vergleichsweise zentral gelegene Rom – als urbs die Stadt schlechthin, andere Städte hießen oppidum, um den kategorialen Abstand deutlich zu machen. Auf Rom war das imperium in jeder Hinsicht zentriert, daneben bestanden nur noch wenige weitere Großstädte wie Alexandria oder Antiochia. Diese Städte waren wegen ihrer teils monströsen Zusammenballung ohne ihr Umland nicht lebensfähig. Neben der Hauptstadt waren viele andere Metropolen (wie beispielsweise Antiochien, Athen und Ephesus) auf Lebensmittelimporte angewiesen, die in den Händen von privaten, allerdings staatlich kontrollierten Geschäftsleuten lagen.
Das Christentum entstand aber gerade nicht dort, in Rom oder im Schmelztiegel der Kulturen, den die anderen größeren Städte bildeten. Es begann seinen Siegeszug durch die antike Welt vielmehr von einigen kleinen Dörfchen im nördlichen Palästina aus. Man kann noch heute den Wirkungsraum Jesu von Nazareth am Nordufer des Sees Genezareth an einem Nachmittag bequem ablaufen: Vier Kilometer Wegstrecke sind es von Kapernaum, seiner Heimat (Mt 9,1), nach Chorazin, wo er viele Wunder gewirkt hat, etwas über fünf Kilometer liegen zwischen Kapernaum und Bethsaida, wo Petrus herstammte.[2] Städte am See meidet Jesus, Wirkungsorte dieses einfachen Handwerkersohnes ohne theologische Ausbildung sind die galiläischen Dörfer. Und so nimmt es nicht wunder, wenn ein gebildeter Heide wie der römische Kaiser Julian die Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu an ihre schlichten Ursprünge erinnert und durchgängig «Galiläer» nennt. Ein paar Heilungen in solchen Dörfchen – so der Herrscher polemisch – könne man kaum als große Taten bezeichnen.[3] Bedeutsamer noch als diese kleinen Örtlichkeiten, die für die reichsweite Christenheit schon bald weniger wichtig geworden sind und erst seit dem vierten Jahrhundert wieder in größerem Umfang von Pilgern besucht worden sind, wurde Jerusalem.
Diese aus der Perspektive eines gebildeten Römers fernab an der Peripherie des Reiches in einer relativ jungen und unruhigen Provinz gelegene jüdische Hauptstadt wurde zum Sitz der ersten größeren Gemeinde, die sich nach der Hinrichtung Jesu im Jahr 30 n. Chr. bildete. Das Neue Testament berichtet, wie die verstörten Anhänger durch Erscheinungen des Auferweckten erneut gesammelt wurden und ihn als Messias (Maschiach, griechisch «christos») bzw. Herr (griechisch «kyrios») bekannten (z.B. Lk 24,13–34). Schnell dominierten Verwandte Jesu diese Gruppe, und man erwartete getreu den biblischen Verheißungen seine baldige Wiederkunft auf dem Zionshügel mitten in Jerusalem (so auch Paulus, Röm 11,26f.). In den ersten Jahren der Geschichte des Christentums bildet Jerusalem nicht nur den ideellen, sondern auch den geographischen Mittelpunkt dieser jungen Gemeinschaft. Paulus trägt das Evangelium «von Jerusalem aus» (Röm 15,19) in die ganze bewohnte Welt und sammelt unter denjenigen Gliedern seiner Missionsgemeinden, die nicht aus dem Judentum stammen (sogenannte «Heidenchristen»), eine Kollekte «für die Armen unter den Heiligen in Jerusalem». Erst als Jerusalem im Zusammenhang mit zwei jüdischen Aufständen 70 und 132–135 n. Chr. durch römische Truppen gründlich zerstört und Juden das Betreten der als Aelia Capitolina wiederaufgebauten Stadt untersagt worden war, ging die reale Bedeutung dieses ideellen Zentrums der Christenheit zeitweilig sehr stark zurück. Trotzdem hielt man in vielen Kreisen weiter daran fest, daß die endzeitliche Wiederkunft Christi auf dem Zion in Jerusalem zu erwarten sei. So erklärt der ursprünglich aus dem heutigen Nablus stammende, dann aber in Rom lehrende Justinus um die Mitte des zweiten Jahrhunderts seinem jüdischen Gesprächspartner, Jesus werde an demselben Ort wieder herrlich erscheinen, wo er einst durch seine äußerst schmachvolle Hinrichtung entehrt worden sei.[4]
Jerusalem als Zentrum der frühen Christenheit wurde nach seiner Zerstörung im Jahr 70 n. Chr. durch eine Reihe anderer Zentren abgelöst. Bezeichnenderweise befinden sich darunter diejenigen drei Orte, die wir – etwas anachronistisch – als antike «Großstädte» bezeichnen: Antiochia, Rom und Alexandria. Daneben spielen die zum Teil von Paulus auf seinen Missionsreisen gegründeten Gemeinden im dichtbesiedelten Zentrum der Provinz Asia (beispielsweise Ephesus, aber auch Smyrna) eine gewisse Rolle und gegen Ende des zweiten Jahrhunderts dann auch die Provinzialhauptstadt der Africa proconsularis, Karthago. Das Christentum hatte sich im Laufe von nur einer Generation aus einer ursprünglich im dörflichen Raum beheimateten Bewegung innerhalb der jüdischen Religion in eine zuallererst städtisch geprägte eigene Religion verwandelt. Diese recht drastische Änderung des Charakters dieser Gemeinschaft bildet ein erstes und frühes Phänomen der Akkulturation und hängt ohne Zweifel stark – wenn auch nicht ausschließlich – mit dem Wirken des im kleinasiatischen Tarsus geborenen Missionars Scha’ul (Saul) zusammen. Der besser unter seinem lateinischen Beinamen Paulus bekannte Theologe trug die christliche Botschaft auf drei Missionsreisen in sehr viele Orte im östlichen Mittelmeerraum, an der Ägäis und in Kleinasien: nach Zypern, in die südkleinasiatischen Landschaften Lykien und Pamphylien, ins mittelkleinasiatische Galatien und an die kleinasiatische Küste nach Ephesus und Milet. Er wandte sich mit seiner Predigt zunächst an die jüdischen Synagogengemeinden und bevorzugte wohl schon aus reisetechnischen Gründen eher die Städte, in denen sich solche Gemeinden fanden. Während sein Aufenthalt in Athen offenbar keine großen Wirkungen zeitigte, hinterließ er an der kleinasiatischen Westküste, in Korinth und an der makedonischen Küste (Thessaloniki, Philippi) blühende christliche Gemeinden, nachdem er in der Regel relativ schnell aus der Synagoge herausgeworfen worden war. In Rom traf er dann auf dem Wege zu seinem Prozeß etwa in den Jahren 60/61 n. Chr. auf eine schon existierende Gemeinde, in der er vielleicht noch eine Weile gelebt und gelehrt hat (nach Apg 28,30 mindestens zwei Jahre in einem städtischen Mietshaus), bevor er in Rom hingerichtet wurde. Die ganze paulinische Missionspraxis zeigt, wie römisch dieser kleinasiatische Jude dachte, der das begehrte Bürgerrecht also keineswegs nur als ein äußerliches Rechtsinstitut verwendete: Schon vor seiner letzten Reise richtete er seine Aufmerksamkeit auf die römische Gemeinde (Röm 1,10) und wollte bis in das lateinischsprachige Spanien missionieren. Das parthisch-persische Grenzgebiet, die nördlicheren Regionen der germanischen...