Einleitung
Als der frühere US-Präsident Woodrow Wilson, der die Vereinigten Staaten 1917 in den Krieg gegen das Deutsche Reich geführt hatte, am 3. Februar 1924 starb, wies Reichsaußenminister Gustav Stresemann den deutschen Botschafter in Washington an, «von irgendwelchen Beileidskundgebungen offizieller Art Abstand [zu] nehmen». Im Unterschied zu allen anderen diplomatischen Missionen unterließ es die deutsche Botschaft, ihre Flagge auf halbmast zu setzen. Auf Nachfrage amerikanischer Journalisten erklärte sie, die Reichsregierung betrachte Wilson als «Privatperson». In der US-Presse brach daraufhin ein Sturm der Entrüstung über das mangelnde Taktgefühl der «Teutonen» los, die nicht einmal den Anstand aufbrachten, dem ehemaligen Kriegsgegner die letzte Ehre zu erweisen. Dass selbst ein so kluger Politiker wie Stresemann einen diplomatischen Affront gegen die US-Regierung und das amerikanische Volk riskierte, obwohl Deutschland in den gerade laufenden internationalen Verhandlungen zur Neuregelung seiner Reparationslasten dringend auf amerikanische Unterstützung angewiesen war, wirft ein grelles Licht auf den unversöhnlichen Hass, den weite Teile der deutschen Öffentlichkeit gegen Woodrow Wilson hegten. Wilson galt vielen Deutschen als «salbungsvoller, scheinheiliger Heuchler», wie ihn der Althistoriker Eduard Meyer 1920 titulierte, der die Deutschen zuerst mit dem Versprechen auf milde Friedensbedingungen dazu gebracht hatte, die Waffen zu strecken, sie dann aber zum schändlichen Diktatfrieden von Versailles gezwungen habe. Als die Washingtoner Botschaft nachträglich doch noch halbmast flaggte, tobte die nationalistische Rechte.[1]
Das negative Wilson-Bild der Deutschen war äußerst zählebig. Der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel beklagte noch 1959, die bloße Nennung des Namens Wilson rufe sofort die «affektbetonte Reaktion ‹Versailles›» hervor. Die jüngere deutsche Geschichtsschreibung hat zumeist mehr Verständnis für Wilson gezeigt, pflegte aber weiterhin das Image des idealistischen Moralpolitikers, der den Vorwurf der Heuchelei nicht ganz zu Unrecht auf sich gezogen habe.[2] In der deutschen Öffentlichkeit wird die eng mit dem Namen Woodrow Wilsons verbundene Tradition, US-Außenpolitik mit dem historischen Auftrag Amerikas zur weltweiten Verteidigung und Förderung der Demokratie zu begründen, gern als zynische Bemäntelung materieller Interessen abgetan. Deutsche Historiker, die sich intensiv mit der Geschichte der amerikanischen Außenpolitik beschäftigt haben, bemühen sich hingegen schon länger um ein besseres Verständnis dieser amerikanischen Tradition, das nationale Interesse auf der Grundlage ökonomischer und sicherheitspolitischer Interessen ebenso wie ideeller Werte zu definieren.[3]
Obwohl Woodrow Wilson einer der wirkmächtigsten Präsidenten der amerikanischen Geschichte war, erschien die letzte deutschsprachige Biografie 1971. Sie umfasst gerade einmal 113 Seiten und ist längst vergriffen.[4] Wilsons Präsidentschaft von 1913 bis 1921 markiert den Höhepunkt der als «Progressive Ära» bezeichneten Reformperiode des frühen 20. Jahrhunderts, als die amerikanische Gesellschaft neue Antworten auf die drängenden Probleme der Industrialisierung, Urbanisierung und Masseneinwanderung suchte. Sein Reformprogramm der «Neuen Freiheit» zielte insbesondere auf eine Neudefinition der Rolle des Staates in der Wirtschaft. Zu den wichtigsten Maßnahmen seiner ersten Amtszeit zählen die Beschränkung von Kartellen, die Einführung einer Bundeseinkommenssteuer und die Schaffung des Zentralbanksystems, des Federal Reserve Boards, um das chaotische Bankensystem der USA zu ordnen. Der 28. US-Präsident darf mithin als einer der Architekten des modernen Amerika gelten.
Wilsons historische Bedeutung und sein Bild in der Geschichte gründen sich jedoch in erster Linie auf seine Außenpolitik und seine Vision einer internationalen Ordnung, die auf kollektive Sicherheit, nationale Selbstbestimmung, freien Handel und Demokratie gebaut sein sollte und für die sich die Begriffe «Wilsonianism» beziehungsweise «liberaler Internationalismus» eingebürgert haben. In den Jahren 1917 bis 1919 wurde der US-Präsident zur Schlüsselfigur der Weltpolitik, von dem sich Menschen auf der ganzen Welt Frieden und Gerechtigkeit erhofften. Die oft zu lesende Behauptung, im Jahre 1917 hätten mit Woodrow Wilson und Wladimir Iljitsch Lenin zwei gleichrangige weltpolitische Rivalen die historische Bühne betreten,[5] ist insofern irreführend, als der russische Berufsrevolutionär bis Ende 1917 außerhalb Russlands kaum bekannt war und auch nach der sogenannten Oktoberrevolution noch lange lediglich über eine äußerst prekäre Machtbasis verfügte. Wilson dagegen führte eine Weltmacht, deren unerschöpfliche Ressourcen über den Ausgang des Weltkrieges entschieden. Während Lenin und die Bolschewiki von der Pariser Friedenskonferenz ausgeschlossen blieben, prägte der US-Präsident maßgeblich die Friedensverhandlungen und den Friedensvertrag. Sein Projekt eines Völkerbundes, in dem demokratische Nationalstaaten gemeinsam den Frieden sichern sollten, zielte auf nicht weniger als eine nach liberalen Prinzipien gestaltete Neuordnung der Welt unter amerikanischer Führung. Dass er mit diesem Projekt innenpolitisch scheiterte, bedeutete nicht nur eine persönliche Tragödie, die sich Wilson bis zu seinem Tod nicht eingestehen konnte, sondern hatte gravierende Konsequenzen für die internationale Sicherheitsarchitektur der Nachkriegszeit.
Wilson war der erste wirklich globale Präsident der Vereinigten Staaten, allerdings nicht, weil er von Anfang eine weltpolitische Strategie verfolgt hätte, sondern weil ihn der Weltkrieg mit einer qualitativ neuartigen Herausforderung konfrontierte, der sich die USA als eine der führenden Weltwirtschaftsmächte stellen mussten. Wilson brach mit der auf die Präsidenten George Washington (1789–1797), Thomas Jefferson (1801–1809) und James Monroe (1817–1825) zurückgehenden Tradition, dass sich Amerika nicht in die Querelen der Alten Welt verstricken dürfe und von allen Bündnisverwicklungen fernhalten müsse.[6] Auch wenn bereits sein Vorgänger und Erzrivale Theodore Roosevelt (1901–1909) den Anspruch auf weltpolitische Mitsprache anmeldete, war Wilson der erste Präsident, der die nationalen Interessen wie die internationale Verantwortung der USA global definierte und der als Weltpolitiker in Erscheinung trat. Tatsächlich war er sogar der erste amtierende Präsident, der das Land in offizieller Mission verließ. Als er Ende 1918 in Europa eintraf, wurde er wie ein globaler Superstar gefeiert. Weltweit inspirierte er nationale Bewegungen, die unter Berufung auf seine programmatischen Grundsätze das Selbstbestimmungsrecht forderten.[7] In vielen Ländern wurden Plätze und Straßen nach Wilson benannt; die Tschechoslowakei errichtete ihm nach seinem Tod sogar ein Denkmal.
Bei den regelmäßig unter US-Historikern durchgeführten Umfragen nach den größten und bedeutendsten Präsidenten der amerikanischen Geschichte landet Woodrow Wilson regelmäßig unter den ersten zehn, kommt jedoch nicht an die großen Drei heran – den Gründervater George Washington, den Bürgerkriegspräsidenten Abraham Lincoln und den charismatischen Franklin D. Roosevelt, der Amerika durch die Große Depression und den Zweiten Weltkrieg führte. Im Unterschied zu diesen Nationalhelden werden Wilson und sein historisches Erbe bis heute extrem kontrovers diskutiert. Seit beinahe einhundert Jahren haben sich zunächst die Zeitgenossen und dann Generationen von Historikern darüber gestritten, ob der 28. Präsident der USA ein weitsichtiger Realist war oder doch ein weltfremder Idealist, der die innen- und außenpolitischen Realitäten ignorierte und so selbst dazu beitrug, dass seine Vision einer Neuordnung der Welt scheiterte.[8] Der Streit um den Wilsonianism ist keinesfalls nur von historischem Interesse, sondern prägt bis heute die Grundpositionen in den Debatten um Amerikas Rolle in der Welt: Erfordern die nationale Sicherheit, die wirtschaftliche Prosperität und die politischen Werte der USA ein permanentes aktives Eintreten für eine liberal-demokratische Weltordnung, wie die Wilsonianer meinen? Oder hat der Wilson’sche Missionseifer letztlich zu einer imperialen Hybris und einem blindem Interventionismus geführt, der Amerika in alle ...