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E-Book

Moderne Gesprächstherapie

AutorStephan Seidel
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl120 Seiten
ISBN9783743148543
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,99 EUR
Aus dem Inhalt: Sehe ich die Welt, wie sie wirklich ist? Ist der Mensch frei? Wer bin ich? Was will ich? Lebt der Mensch nur einmal? Warum kann der Mensch böse sein? Das vorliegende Buch ist Arbeits- und Lehrbuch: es wird in Theorie & Praxis das Konzept der Therapeutischen Dichtung dargelegt wird und zugleich gezeigt, inwiefern sie die Grundlage für eine moderne Gesprächstherapie bildet.

Der Autor ist Heilpraktiker in eigener Praxis; Schwerpunkte sind Homöopathie, Spagyrik und Gesprächstherapie.

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Leseprobe

1.4 Sieh mit Geistes-Augen!


Kants Kritik der reinen Vernunft [...] lag aber völlig außerhalb meines Kreises. Ich wohnte jedoch manchem Gespräch darüber bei, und mit einiger Aufmerksamkeit konnte ich bemerken, daß die alte Hauptfrage sich erneure, wie viel unser Selbst und wie viel die Außenwelt zu unserem geistigen Dasein beitrage. (1982, Bd. 2, 27)

Mit dieser Aussage lässt sich bereits zu Beginn darauf hinweisen, wie Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) Kant nicht folgen wollte, ja seine Auffassung diametral zu der des Königsberger Philosophen lag. Goethes Prosa-Hymnus „Die Natur“ gibt einen deutlichen Hinweis, worauf dies zurückzuführen ist:

Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend aus ihr herauszutreten, und unvermögend tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen. […] Alles ist neu und doch immer das Alte. [...] Sie hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue mich ihr. (HA, Bd. 13, 45-47)

Während Kant zwischen der vom Menschen vorgestellten und einer zweiten, transzendentalen Welt der „Dinge an sich“ unterschied und somit einen Gegensatz zwischen Mensch und Welt konstruierte, sah Goethe das Menschliche als Glied der Natur. Dementsprechend, so folgerte er, muss es möglich sein, diese zu erkennen, wenn der Mensch sich weiter entwickelt. Der Anfangspunkt, der zu dieser Erkenntnis führte, ist in einem Erlebnis zu finden, dass Goethe hatte, als er einen gefangenen Schmetterling sah:

[...] das arme Thier zittert im Netze, streifft sich die schönsten Farben ab; und wenn man es ia [sic!] unversehrt erwischt, so stickt es doch endlich steif und leblos da; der Leichnam ist nicht das ganze Thier, es gehört noch etwas dazu, noch ein Hauptstück, und bei der Gelegenheit, wie bey ieder andern, ein sehr hauptsächliches Hauptstück: das Leben [...]. (WA-IV, Bd. 1, 238-239)

Bis zu diesem Zeitpunkt war es in der Wissenschaft üblich, das Organische aus dem Anorganischen zu erklären: Pflanze, Tier und Mensch waren lediglich die Summe anorganischer Teile, die durch ein unbekanntes „Lebensprinzip“ lebendig, d.h. organisch wurden. Für Goethe lag hingegen eine Trennung von Anorganischem und Organischem vor und im Zuge jener Überlegungen betrieb er botanische Studien, in deren Verlauf er die Idee der Urpflanze finden wollte:

Eine solche muß es denn doch geben! Woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären? (HA, Bd. 11, 266-267)

Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt: die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen. (HA, Bd. 11, 324)

1789 beschreibt Goethe das Prinzip der Metamorphose, wie es ihm an der Idee der Urpflanze bereits während seiner Italienischen Reise aufgegangen war. Die Metamorphose der Pflanzen geschieht in dreimal zwei Schritten: vom keimenden Samen hin zur Bildung des ersten Blattes, „Knoten auf Knoten getürmt, immer das erste Gebild [...]“ (BA, Bd. 1, 206), abschließend in einer Zusammenziehung der Kräfte mit dem Ergebnis der Kelchbildung; erneut zieht sich die Gestaltung zusammen und bildet dann die Staubfäden und Stempel, um dann in der Fruchtbildung zum dritten und letzten Male das Gesetz der Ausdehnung zu offenbaren. Das systolische und diastolische Prinzip der Metamorphosenlehre lässt sich auf alles Lebendige anwenden und auch an diesem beobachten. Die Natur und die sich innerhalb ihr vollziehenden Umwandlungen werden dem Menschen damit zu einem „Übungsbuch“, durch das er die Verwandlungsdynamik des Lebendigen nachvollziehen kann. Während Goethe diese Urpflanze als aus der (geistigen) Anschauung gewonnen präsentierte, machte ihn Schiller im Anschluss an ein Gespräch darauf aufmerksam, dass sie auch als Idee aufgefasst werden kann. Goethe teilt diesbezüglich mit:

[...] da trug ich die Metamorphose der Pflanzen lebhaft vor [...], als ich aber geendet, schüttelte er den Kopf und sagte: „Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.“ [...] ich nahm mich aber zusammen und versetzte: „Das kann mir sehr lieb sein, daß ich Ideen habe ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe.“ (1982, Bd. 1, 111-112)

Der (scheinbare) Unterschied löst sich sofort auf, wenn der Begriff „Idee“ näher betrachtet wird: Zu Goethes Zeiten wurde mit „Idee“ lediglich der abstrakte Begriff, abgeleitet aus der Vorstellung, assoziiert. Da Goethe von Schillers Beschäftigung mit Kant wusste, glaubte er anfangs, dass Schiller die Urpflanze nicht erfasst hat, wenn er sie für eine Idee hielt; Schiller hingegen hatte den Ideenbegriff Kants überwunden und erkannte, dass Goethes Urpflanze durchaus Idee genannt werden kann, wenn damit nicht einfach die abstrahierte Idee, sondern die lebendige, reale (mit „Geistes-Augen“ geschaute) Idee bezeichnet wird (vgl. Steiner 1985, 170-171). Als sich beide darüber verständigt hatten, war Goethe bereit, seine Urpflanze als Idee zu betrachten. Goethes Verdienst ist es, den Beweis geführt zu haben, im Denken ein Organ zur Auffassung und Auffindung von Ideen zu besitzen. Er nennt „das Vermögen, wodurch wir die organische Natur begreifen, anschauende Urteilskraft.“ (Steiner 1987 a, 86) Auch dies ist von der Goethe-Forschung bislang nicht verstanden worden, was sich zeigt, wenn Neubauer im Goethe-Handbuch weiter schreibt: „Urtier und Urpflanze erscheinen also in diesen späteren Texten im Sinne von Kant und Schiller als Idee und Begriff, nicht als Erfahrung [...].“ (751) Die Tatsache, Ideen sehen und somit erfahren zu können, erscheint Neubauer als so absurd, dass er ein reales Vorhandensein der „anschaulichen Urteilskraft“ von vornherein ausschließt und Urpflanze und Urtier als Idee bzw. Begriff und eben nicht als Erfahrung betrachtet. Die Verbindung von „Idee, anschaulicher Urteilskraft, Erfahrung“ bleibt nämlich solange unverständlich, als nicht die Bereitschaft vorhanden ist, sich von der materialistischen Vorstellungsweise zu lösen, die nur das gelten lässt, was mit den physischen Sinnen wahrnehm- oder mit Apparaten messbar ist:

Die «Urpflanze» kann nur erfaßt werden, wenn man den Begriff in sich belebt, wenn die Gedanken nicht mehr bloße Abbilder der Wirklichkeit sind, sondern zur schöpferischen Produktion im Menscheninnern gelangen, wenn im Geiste etwas tätig wird, das den Bildekräften, die vom Kosmos wirken, entspricht: ein lebendiges Organ. (Steffen 1964, 265)

In der Tat dachte Goethe an ein solches „inneres/ geistiges Organ“ wie die folgenden Äußerungen belegen: „Wir lernen mit Augen des Geistes sehen, ohne die wir, wie überall, so besonders auch in der Naturforschung, blind umhertasten.“ (1982, Bd. 1, 262), oder auch: „Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.“ (BA, Bd. 16, 386), sowie: „[...] dieses einfache Experiment mit den Augen des Leibes erblicken; wer es mit Geistesaugen beschaut, wird von tausend und aber tausend irrtümlichen Paragraphen befreit sein.“ (BA, Bd. 18, 495) Die einzige Möglichkeit diese Hinweise Goethes auf ein „neues Sehen/ geistiges Organ“ für die weitere Forschung nicht heranzuziehen, besteht darin, sie als Metapher zu deuten und zu behaupten, Goethe hätte auf „poetische Weise“ nur das normale Vorstellungsvermögen im Sinn gehabt. Dem widersprechend soll als letztes Zitat eine Aussage Goethes aus seiner Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“ entgegengestellt werden, in der er rückblickend ein Erlebnis vom Herbst 1771 beschreibt:

Nun ritt ich auf dem Fußpfade gegen Drusenheim, und da überfiel mich eine der sonderbarsten Ahndungen. Ich sah nämlich, nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst, denselben Weg, zu Pferde wieder entgegen kommen, und zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen: es war hechtgrau mit etwas Gold. (HA, Bd. 9, 500)

Wer seine Weltanschauung auf Goethe oktroyieren will, wird genügend „Gegenargumente“ finden, um die „anschauliche Urteilskraft“ und das Sehen mit den „Augen des Geistes“ lächerlich zu machen; so schreibt Goethe nach obigem Erlebnis: „Sobald ich mich aus diesem Traum aufschüttelte, war die Gestalt ganz hinweg.“ (ebenda, 500) Mit diesem Satz lässt sich die gesamte bisherige Ausführung recht einfach auf einen „Tagtraum“ reduzieren, weshalb zum Abschluss noch eine frühe Äußerung Goethes herangezogen werden soll, die unmissverständlich nicht nur von einem Erleben der Idee, sondern ganz klar von übersinnlichen Welten...

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