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E-Book

Ende einer Flucht?

Die Geschichte des syrischen Flüchtlings Chalid (7. bis 10. Klasse)

AutorArwed Vogel
VerlagPersen Verlag in der AAP Lehrerfachverlage GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl120 Seiten
ISBN9783403800484
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Die Lektüre bietet einen linearen Text in 6 Kapiteln zu den Themen Flüchtlinge in Deutschland und Freundschaft am Beispiel der Jugendlichen Chalid, Kirsten, Andi, Tom und Tobias.

Chalid ist aus Syrien geflüchtet und lebt nun seit einigen Tagen bei einer Pflegefamilie und deren Sohn Andi in Trögau. Doch Chalid hat ein Geheimnis, welches Tobias, der an einem Herzfehler leidende Bruder von Tom, unbedingt lüften möchte. Er begibt sich auf Chalids Fährte, während sein Bruder Tom, der heimlich in Kirsten verliebt ist, mit ganz anderen Problemen und vor allem mit sich und seiner Eifersucht zu kämpfen hat. Die Ereignisse überschlagen sich, als Tobias eines Tages nicht nach Hause kommt, wobei Chalid sich als wahrer Freund entpuppt. Schlussendlich wird Chalids Geheimnis gelüftet und auch Tom findet den Weg zu seinem Glück.

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Leseprobe

1. Träume und Erinnerungen


Der Zug ratterte durch die Nacht. Chalid konnte nicht schlafen, starrte mit offenen Augen in das matte Licht, das auf die Körper fiel, die dicht gedrängt im Abteil nebeneinander schliefen. Er würde nie mehr schlafen können. Nie mehr. Bis er ihn gefunden hatte. Auf dem Boden zwischen seinen Füßen spürte er den warmen Körper eines Mannes. In diesem Zug fuhren sie schon den ganzen Tag und eine halbe Nacht. Da tauchte vor dem Fenster des Abteils das Gesicht auf. Chalid versuchte aufzustehen, um ans Fenster zu kommen, das Gesicht zu greifen, aber er kam nicht an den anderen vorbei. Da verschwand das Gesicht. Chalid schrie.

Er öffnete die Augen. Er hatte geträumt. Er war nicht mehr im Zug. Er lag in einem Bett, in einem Zimmer. Der Schweiß rann ihm von den Schläfen. Es war Samirs Gesicht gewesen, wieder hatte er von ihm geträumt.

Chalid richtete sich auf, rieb sich die Augen. Seine Hand tastete zum Knopf der Stehlampe. Das Licht blendete ihn kurz, dann atmete er langsam ruhiger. Er schlug die Decke zurück, stand auf. Über dem Stuhl hingen sein neuer Pulli und die Hose, die sie heute gekauft hatten. Durch das Fenster konnte er den warmen Schein der Straßenlaterne sehen. Es war ganz still. In seiner Heimatstadt, in Hama, war es nie still. Immer waren Menschen und Musik und Autohupen zu hören. Und Tag und Nacht das knarrende Quietschen der riesigen Wasserräder am Fluss.

Chalid drehte den Kopf, als an seiner Zimmertür geklopft wurde. „Komm“, rief er leise.

Die Tür öffnete sich und Birgit stand im Bademantel in der Tür und fragte ihn etwas mit sorgenvollem Gesicht. Er verstand nur das Wort „okay“.

„Okay“, wiederholte er. „Gut’ Nacht“, sagte er auf Deutsch.

„Gute Nacht, Chalid.“ Birgit schloss die Tür.

Chalid lehnte sich zurück. Er war gerettet. Er hatte ein Zimmer, neue Kleidung und eine Art Familie. Birgit und ihr Mann und Andi, ihr Sohn, der war jetzt so etwas wie sein Bruder. Aber das half ihm nichts. Samirs Gesicht konnte er nicht vergessen, wollte er auch nicht vergessen. Der Schmerz bohrte sich von unten unaufhaltsam in seinen Kopf und brachte ihn fast zum Zerspringen. Chalid schloss die Augen, warf sich auf sein Bett, drückte den Kopf in das Kissen, damit er nicht zerplatzte.

„Es werden immer mehr.“ Andi zeigte auf die Menschen, die auf der anderen Straßenseite vorbeigingen. Zwei Männer, zwei Frauen und kleine Kinder, die neben ihnen herliefen.

Tom, Andi und Alfred Griebl, der das Laub zusammengekehrt hatte, standen vor dem Jugendraum am Bürgerhaus unter den Kastanien.

„Syrer wahrscheinlich“, sagte Alfred leise und wollte weitermachen. Andere arbeiteten in seinem Alter nicht mehr, aber er konnte dank seiner Hausmeistertätigkeit hier im Bürgerhaus mietfrei in der kleinen Wohnung im ersten Stock wohnen.

Er musste das Grundstück sauber halten und darauf achten, dass im Jugendraum alles seine Ordnung hatte. Das war mit Tom, Andi und Kirsten als Vorstand der Jugendgemeinschaft nicht sonderlich schwer. Es gab nicht einmal Beschwerden der Anwohner. Wenn man von der einen wilden Party am 1. Mai absah, bei der sich die beiden Jungen aus der Bergsiedlung ziemlich daneben benommen hatten.

„Vierzehn Flüchtlinge sind jetzt hier“, sagte Andi.

Wie damals, dachte Alfred, der nicht verhindern konnte, dass die Erinnerungen an den Treck wieder in ihm aufflackerten, mit dem er nach Kriegsende hierher nach Trögau gekommen war. Damals war er noch ein Kind gewesen, aber die Bilder von den hungernden, frierenden Menschen in den abgerissenen, stinkenden Kleidern hatte er nie ganz vergessen können.

„Mit eurem Flüchtling?“, fragte Tom unkonzentriert, weil er an Kirsten gedacht hatte. Nicht nur an Kirsten, sondern vor allem an die Frage, ob sie heute auch kam.

„Unser Flüchtling …“, sagte Andi, „er heißt Chalid.“

Kurz dachte er nach: „Ja, ich glaube mit ihm sind es vierzehn.“

„Und?“ fragte Tom.

„Was … und? Ich habe nicht viel mit ihm geredet. Er spricht ja kein Englisch. Nur ein paar Worte. Außerdem ist er erst zwei Tage da. Er hat jetzt erst mal Kleidung bekommen. Der hatte ja überhaupt nichts.“

„Ist ja auch ein langer Weg bis hierher“, sagte der Hausmeister. Siebzig Jahre war es nun her. Er sah es wieder vor sich. Ein langer Zug von Menschen stapfte über eine verschneite Straße Richtung Westen. Er ging als Kind an der Hand seiner Mutter, die Großmutter saß, in Decken eingehüllt, auf dem Leiterwagen.

„Die Familien wohnen alle im Lindenwirt. Nur Chalid ist über das Jugendamt zu uns gekommen.“

„Spannend“, sagte Tom.

„Ich weiß nicht“, sagte Andi, „ich finde es gut, dass meine Eltern das machen, aber ich werde deswegen nicht mein Leben ändern.“

„Er wird ja nicht ewig bleiben“, sagte Tom, „der hat doch auch Familie, oder nicht?“

„Ich weiß nicht“, sagte Andi, „er ist allein gekommen und hat wohl Schlimmes erlebt. Deswegen brauchte er ja nicht in Ziemstadt zu bleiben. Außerdem ist er erst sechzehn.“

Im Lindenwirt, dachte Alfred Griebl, da war er noch vor zehn Jahren am Stammtisch gesessen. Dann stand er jahrelang leer. Jetzt wohnte zumindest wieder jemand dort. Alfreds Gedanken kehrten langsam in die Wirklichkeit zurück: „Habt ihr die Pfandflaschen schon weggebracht oder sind die noch in der Küche?“

„Wenn Kirsten kommt, bringen wir die Flaschen weg“, sagte Tom.

Alfred Griebl legte seinen Kopf schief: „Allein schafft ihr Burschen das nicht?“

„Wollen wir vielleicht nicht“, sagte Tom und sah Kirsten vor sich. Seltsam. Er kannte sie schon so lange, aber vor zwei Wochen hatte er sich in sie verliebt. Vielleicht an dem Tag, als sie allein am See waren und er plötzlich den Wunsch hatte, mit ihr immer allein zu sein. Nicht immer nur mit Andi und den anderen oder mit seinem Bruder oder mit allen zusammen etwas machen. Es war nur dieses eine Mal gewesen, dass er mit ihr allein gewesen war. Ein Zufall, der sich nicht wiederholen ließ.

Er musste mit ihr reden oder ihr einen Brief schreiben. Aber seitdem er es wollte, konnte er nicht mehr normal mit ihr reden. Ihm versagte die Stimme und er kam sich in ihrer Gegenwart auf einmal klein und dumm vor.

„An wen denkst du“, fragte Kirstens Mutter beim Abendessen.

„Was?“ fragte Kirsten, die aus ihren Gedanken gerissen wurde.

„An wen du denkst, hatte ich gefragt. Doch sicher nicht an deine Hausaufgaben.“

„Sind schon fertig“, sagte Kirsten mit einem Seitenblick zu ihrem Vater. Ihre Gedanken waren noch beim Nachmittag mit Tom und Andi. Sie hatten die leeren Getränkekisten mit dem Fahrradanhänger zum Supermarkt gebracht. Andi war völlig normal gewesen, aber Tom hatte sich ganz seltsam benommen. So als hätte er etwas gegen sie, als würde sie ihm auf die Nerven gehen. Sie hatte aus den Augenwinkeln beobachtet, wie er sie angesehen hatte, dann aber wie ertappt wegschaute, wenn sie zu ihm hinübersah. Eigenartig. Vielleicht gab es ein Problem mit Tobias. Es war bestimmt nicht leicht, einen Bruder zu haben, der immer krank war, auf den man immer Rücksicht nehmen musste. Der zweimal in der Woche nach Ziemstadt zum Arzt musste, um gespritzt zu werden, damit er nicht innerlich verblutete. Einmal hatte sie erlebt, wie Tom versucht hatte, seinen Bruder davon abzuhalten, mit ihm in den Jugendraum zu gehen. Das war auch so eigenartig. Wenn ich eine kranke Schwester hätte, überlegte Kirsten, ich würde sie überall hin mitnehmen. Oder vielleicht auch nicht. Aber sie war ein Einzelkind. Das hatte Vorteile, aber eigentlich hatte sie sich immer eine Schwester gewünscht. Eine kleine Schwester.

„Du schaust, als hättest du Kummer.“

„Eigentlich nicht“, sagte sie und wusste, dass sie ihre Mutter jetzt ablenken musste, weil sie sonst immer weiter bohrte. Das ging nur mit einem Thema, das mit anderen Menschen, am besten mit Nachbarn zu tun hatte.

„Schon gehört, dass Andi einen Bruder bekommen hat?“

„Nein, wie denn? Das hätte ich doch mitbekommen müssen.“

Das hatte gesessen: Ihre Mutter schaute so schockiert, als müsste sie gleich zum Telefon greifen und bei Andis Mutter anrufen, um zu fragen, wie ihr das entgangen sein konnte.

„Keinen echten Bruder“, sagte Kirsten sanft, „ein Pflegekind, einen syrischen Flüchtling. Er ist ein bisschen älter als Andi, aber genau weiß man das nicht.“

„Ach je“, sagte ihre Mutter, „die trauen sich was.“

„Sind doch Psychologen“, sagte Kirsten, „die kennen sich doch aus.“

„Trotzdem“, sagte die Mutter, „so eine Belastung, das möchte ich nicht. Obwohl es sehr nett von ihnen ist.“

„Nett?“, sagte Kirstens Vater, „ich weiß nicht. Das Ganze läuft doch völlig aus dem Ruder. Hier in Trögau. Der arme Kerl. Kann kein Deutsch, wahrscheinlich hat ihn die Familie losgeschickt, damit er hier Asyl kriegt und die anderen nachholen kann.“

„Wahrscheinlich“, sagte die Mutter, „und was sagt Andi?“

„Chalid kann nicht mal Englisch“, sagte Kirsten.

„Diese Psychologen. Wenn die wirklich helfen wollten, dann sollten sie lieber Hilfsorganisationen unterstützen. Was bringt es denn, die Menschen aus ihrem Land herauszureißen und in ein völlig fremdes Land zu bringen?“

„Ich glaube, er ist von allein gekommen“, sagte Kirsten leise und ärgerte...

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