Vorbericht: Irren ist menschlich
Wenn Frauen und Männer über dasselbe sprechen, sprechen sie nicht immer über das Gleiche. Männer haben aus ihrer Sicht, und wir haben vorläufig keine andere, Staaten, Reiche und Religionen, Götter, Wissenschaften, Techniken und Künste geschaffen. Sie haben dafür gesorgt, dass ihre Schöpfungen auf Tontafeln, Sandsteinsäulen, Tierhäuten und in Büchern verewigt wurden. Daher wissen wir so ziemlich alles darüber, wie Männer die Welt sehen – und was wäre die Männerwelt ohne Frauen. Um ihre Überlegenheit über das schöne, das andere, das schwache oder meinetwegen das missverstandene, das unterlegene Geschlecht, the inferior sex, zu beweisen, haben sie Kriege geführt, Staaten gegründet, Schiffe und Raketen gebaut und Sinfonien komponiert. Als Göttinnen und Bestien, als Huren und Heilige haben sie uns dämonisiert, gefürchtet, verehrt und geliebt. Sie haben uns das Wort entzogen und zu Gebärmüttern, Ammen und Hausfrauen domestiziert, in Marmor gemeißelt, in Öl gemalt, in Gold gewogen, in Tragödien und Romanen als unsterbliche Heldinnen gefeiert. Wir sind ihre Träume, wir beherrschen ihre Fantasie und ihre Gedanken.
Was Frauen allenfalls dagegenhalten können, ist eine ganz andere Geschichte. In dieser anderen Geschichte erscheint das weibliche Geschlecht als Opfer männlicher Allmacht: politisch entmachtet, juristisch entrechtet, unter männliche Vormundschaft gestellt und roher Gewalt ausgesetzt, tödlicher Gebärsklaverei unterworfen, moralisch denunziert, sexuell ausgebeutet und erniedrigt, ferngehalten von den Machtzentralen der Politik und den Säulenhallen der Kunst. Frauen, die denken, waren in dieser man-made world nicht vorgesehen. Anders lässt sich kaum erklären, wie noch die einfältigsten Vorstellungen über weibliche Geisteskraft die glänzendsten Perioden der europäischen Philosophie – Hellenismus, Renaissance, Aufklärung – unbeschadet passieren und in die Moderne einwandern konnten, wo sie sich im Innern der Sprachen fortpflanzten. Im Spiegel des kollektiven Gedächtnisses ist das ewig Weibliche die hautfarbene Intarsie im Wimmelbild der Welt: Mutter, Muse, Heilige. Noch im Lächeln der Mona Lisa spielt die liebliche Ergebenheit der heidnischen Leda und die heitere Demut der biblischen Anna Selbdritt.
Auf dem Bild eines unbekannten Malers aus dem 17. Jahrhundert ist eine junge Frau zu sehen, reich gekleidet im Stil des Frühbarocks. Sie lächelt den Betrachter offen an. In der rechten Hand hält sie einen Handspiegel, der ihr Gesicht noch einmal im Dreiviertelprofil zeigt, in der linken eine Kugel, auf der ein Dreieck schwebt. Ihr Name ist Prudentia, die Klugheit, Schutzherrin der Geometrie. Ein anderes Gemälde, Bernardo Strozzis Allegorie der Mathematik, zeigt eine lichtumflossene Frauengestalt hinter einem alten Mann, der, halb im Schatten, in der Hand einen Zirkel führt. Zwischen ihnen, verborgen im Dunkel des Hintergrunds, ist der muskulöse Arm eines Mannes zu erkennen. Dreierlei, berichtet das Bild, braucht die Kunst des Denkens: männliche Kraft, Weisheit und Liebe. Als Allegorien der sieben freien Künste – Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie – schmücken sieben leichtbekleidete Frauenkörper das Portal der 1576 gegründeten deutschen Universität Helmstedt. Die Universität von Bologna, die erste in Europa, erhielt im Mittelalter den Namen der »nährenden Mutter«, alma mater studiorum. Die Dame universitas war (in der griechischen und lateinischen Sprache) die Mutter der universitären Idee. Und schließlich vertritt das Weibliche, als allegorische Gattin in der »göttlichen Ehe« zwischen Fürst und Volk, den absolutistischen Staatsgedanken. Die britische Nation verehrt ihre Britannia, die amerikanische ihre Miss Liberty, die französische ihre Marianne. Ähnliche ikonografische Motive finden sich in allen europäischen Staatsallegorien des 17. und 18. Jahrhunderts. Delacroix lässt die Freiheit als halbnackte Kriegerin, Vermeer die Malkunst als sittsames Mädchen auftreten. Frau Welt, Regina Ecclesia und Synagoge, Justitia und Phronesia regierten gemeinsam das mittelalterliche Reich der Gedanken. Frau Fama, das Gerücht, hat schon Hesiod »eine Art Göttin« genannt; bei Vergil zeigt sie sich als klatschsüchtige Nachbarin, in Chaucers House of Fame als launische Grundherrin, die Literatenruhm willkürlich verteilt. Und natürlich, auch das Glück ist eine Frau und muss, wie Machiavelli riet, wie eine Frau behandelt werden: »und es ist notwendig, wenn man sie beherrschen will, sie zu schlagen und zu stoßen«.
An der Spitze der edlen Frauenpyramide standen die Tugenden des Geistes: Prudentia, das moralisch besonnene Handeln, Sapientia, durch Bücherstudium erworbenes Wissen, Sophia, die angeborene Weisheit. Prudentia wurde mit Spiegel und Fernrohr dargestellt, Sophia mit Buch und Schreibgriffel, Sapientia als Verkörperung politischer Vernunft mit Fernrohr und Schriftrolle. Zusammen mit Justitia (Gerechtigkeit), Temperantia (Geduld) und Fortitudo (Tapferkeit) führt sie die vier platonischen Kardinaltugenden (virtutes principales) an. Der Schweizer Maler Joseph Werner d. J. stellte 1682 die »Bernia« als Allegorie der Republik in Gesellschaft von Prudentia und Justitia inmitten des Großen Rats im Berner Stadtparlament dar – wo vorher und bis ans Ende des 20. Jahrhunderts keine lebende Schweizerin je gesehen wurde. Überall thronen Frauenfiguren als Karyatiden und Torhüterinnen an den Pforten der Macht, nirgends finden sie Einlass.
Und so treiben in postmodernen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts uralte Ideenbilder, Ressentiments und Archetypen weiter ihr Unwesen, die während vier Jahrtausenden europäischer Kulturgeschichte in Umlauf gesetzt wurden. Sicher, es ist längst nicht mehr opportun, Frauen zu unterdrücken und von den Universitäten fernzuhalten. Es ist aber keineswegs unüblich, sie mit wirtschaftsliberalen oder sexistischen Argumenten als Konkurrentinnen zu verdrängen. Unter dem Sturm öffentlicher Entrüstung musste der Biochemiker und Medizin-Nobelpreisträger Timothy Hunt seinen Lehrauftrag am Londoner University College zurückgeben, nachdem er Frauen als emotionale Störfaktoren in Forschungslaboren bezeichnet hatte.
Aber selbst wenn es wahr sein sollte, dass Männer nicht nur die Pyramiden, den Nationalsozialismus, die Krawatte und die Atombombe geschaffen haben, sondern auch die Encyclopedia Britannica, den Rasenmäher, den Kontrapunkt und viele andere angenehme und nützliche Dinge, bleibt doch die Frage: Wer hat den »Mythos Mann« geschaffen? Sind seine Schöpfungen ex nihilo wie Gottes Welt aufgestiegen aus der kosmischen Ursuppe? Ist der Mann per definitionem Gott, nur weil Gott dem Vernehmen nach Mann ist? Durch welche Tricks hat man uns glauben lassen, es gebe nur eine Vernunft, obwohl es doch nachweislich mindestens zwei Geschlechter gibt? Welcher vernünftige Grund ließe sich also denken, dass den Frauen viertausend Jahre lang das erste Menschenrecht verweigert wurde: das Recht, sich ihrer eigenen Verstandeskräfte zu freien Zwecken zu bedienen?
Natürlich, es hat immer Frauen gegeben, die Reiche regierten, philosophische Werke schrieben, Mondeklipsen berechneten. Viele hat der Schleier des Schweigens verschluckt, andere blieben im Gedächtnis als Töchter der Götter, Mütter der Philosophen, Schwestern der Helden oder Zauberinnen, die nicht durch vernünftiges Denken, sondern durch geheimnisvolle Künste an ihr Wissen gekommen sind. Statt selbst zu denken, begnügte sich die Mehrheit damit, als Leserinnen, Bewunderinnen, Musen, Assistentinnen und Schülerinnen am Wissen der Männer zu partizipieren. Statt männlichen Überlegenheitswahn mittels ihres eigenen Intellekts zu schlagen, lasen sie sich durch die Bibliotheken ihrer Brüder und Väter. Statt Hochstapler mit galanten Komplimenten niederzumachen, profilierten sie sich als Kratzbürsten, verkleideten sich als Amazonen und Gotteskriegerinnen, träumten von der Wiedererrichtung mutterrechtlicher Gemeinschaften und bauten ihre Harems zu feministischen Trutzburgen aus. Wieder andere beherrschten ihre Herren, indem sie ihr einziges Kapital, ihren Körper, als Tauschobjekt investierten.
Mit einem Wort: Frauen haben an ihrer eigenen Unterdrückungsgeschichte mitgeschrieben, und einige tun es immer noch, indem sie sich dem Urteil der Männer unterwarfen, wie Helena dem Schiedsspruch des Paris. Als Musen, Göttinnen und Gattinnen haben sie mit ihnen Unterdrückungsgemeinschaften gebildet, von denen die bekannteste die Ehe ist. Sie haben der Entmündigung ihres angeborenen Verstandes im Tausch gegen ihre Macht über den männlichen Eros zugestimmt.
Was für ein fataler Irrtum zu glauben, Männer seien klüger als Frauen, falls sich herausstellen sollte, dass der Mythos männlicher Überlegenheit nichts anderes ist als ein ausgeklügeltes System von Ressentiments, Irr- und Aberglauben und tiefverwurzelten Vorurteilen, das sich mittels rigider politischer Herrschaft des einen über das andere Geschlecht durchsetzen konnte. Was für ein Desaster, wenn die »Tyrannei des Mannes in unserer Gesellschaft« (Kate Millett) sich am Ende als ein plumper Denkfehler herausstellen würde, ein lächerlicher Fehltritt in der geistigen Evolution des homo sapiens.
Aber wo anfangen? Die Geschichte dieses Denkfehlers ist wahrscheinlich so alt wie unsere Gattungsgeschichte und die Zahl der Irrtümer inzwischen so groß, dass jeder Versuch ihrer Widerlegung von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Denn die Chronik des geschlechtlichen Irrsinns folgt anderen Regeln als die offizielle Ideengeschichte. Sie erschafft in den Köpfen immer neue fantastische Fraktale, surreale Panoramen aus...