3 Methodisches Handeln in Zwangskontexten
Die bisherigen Ausführungen belegen, dass es von den institutionellen Bedingungen und von den eigenen Einstellungen und Vorannahmen abhängt, wie Fachkräfte auf Anforderungen in Zwangskontexten reagieren. Wie also den herausfordernden Problemen begegnet wird, die in der Sozialen Arbeit mit Zwangskontexten auftauchen, hängt – neben anderen Einflussgrößen – erheblich von den Voraussetzungen der Fachkräfte ab, mit denen sie an Fragen herangehen, wie sie von Trotter (2001, 99) formuliert wurden:
„Wie kann jemandem geholfen werden, der keinerlei Interesse an Hilfe hat?“
„Was können Sie mit KlientInnen im Wohlfahrts- oder Justizsystem tun, die zu einer Änderung nicht motiviert sind?“
„Wie können Sie jemanden beraten, der nicht einmal bemerkt hat, dass er ein Problem hat?“
„Wie arbeiten Sie mit Menschen, deren Wertvorstellungen komplett unterschiedlich von Ihren sind?“
„Wie können Sie jemandem gleichzeitig bei der Lösung der Probleme helfen und Macht über ihn ausüben?“
Obwohl diese und ähnliche Fragen schwer zu beantworten sind, wird dies von den Fachkräften der Sozialen Arbeit erwartet:
„[…] KlientInnen zu helfen, die sich diese Hilfe nicht ausgesucht haben, die Widerstand leisten oder sogar mit offener Gegnerschaft auf die angebotene Unterstützung reagieren; KlientInnen zu helfen und gleichzeitig Informationen zu sammeln, die später gegen sie verwendet werden könnten; bei Gericht gegen KlientInnen aussagen zu müssen und dann eine helfende Beziehung aufzubauen und auf gemeinschaftliche Art und Weise zusammenzuarbeiten, aber doch autoritäre Entscheidungen über das Leben der Klienten treffen zu müssen“ (Trotter 2001, 100).
Für die Fachkräfte bedeutet dies, einen Dauerspagat auszuhalten: einerseits mit dem Ziel, zunächst eine tragfähige Arbeitsbeziehung mit den Klienten aufzubauen, ihre Sichtweisen zu verstehen und ihre sozialen Probleme zu verhindern, zu lindern oder zu lösen, andererseits den öffentlichen Interventions- und Kontrollauftrag zu erfüllen. Sie sind „Diener mindestens zweier Herren“ (Conen 2013, 102). Es gilt, hier ein Gleichgewicht herzustellen, wie es bereits Böhnisch und Lösch 1973 formuliert haben. Die Fachkräfte müssen es schaffen, „ein stets gefährdetes Gleichgewicht zwischen den Rechtsansprüchen, Bedürfnissen und Interessen der Klienten einerseits und den jeweils verfolgten sozialen Kontrollinteressen seitens öffentlicher Steuerungsagenturen anderseits aufrecht zu erhalten“ (Böhnisch / Lösch 1973, 368). Dieses Verhältnis von Hilfe und Kontrolle betrifft nicht nur die Soziale Arbeit, sondern auch andere helfende Berufe, die im öffentlichen Auftrag tätig sind: Zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit wird den Berufsvertretern in der Psychiatrie der Auftrag erteilt, Personen mit psychisch bedingtem abweichendem Verhalten auch gegen ihren Willen auszugliedern und derart zu behandeln, dass sie gesellschaftlichen Normen wieder entsprechen (Voelzke 1998). Dies betrifft auch Kontexte in der Psychotherapie (Wagner / Russinger 2002). Nach Steinert (2013, 431) zeigt sich im Spannungsfeld zwischen Autonomie und ärztlicher Fürsorgepflicht „der janusköpfige Doppelcharakter psychiatrischen Handelns, das deshalb auch immer wieder sowohl von der einen Seite (mangelnder Respekt vor der Autonomie) als auch von der anderen Seite (mangelnder Schutz der Öffentlichkeit vor gefährlichen Kranken) der Kritik ausgesetzt ist“.
Fachkräfte der Sozialen Arbeit stehen an verschiedenen Stellen zwischen „kundenorientierten Dienstleistungsaufgaben“ und „wächterorientierten Eingriffsaufgaben“ (Schone 2001, 65). Soziale Arbeit als Institution, die Schutz- und Ordnungsinteressen der Gesellschaft zu erfüllen hat, bewegt sich folglich immer – wenn auch in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen – einerseits zwischen Ordnungs-, Schutz- und Kontrollaufträgen und andererseits der Aufgabe, den an den Rand gedrängten Individuen dabei zu helfen, ihr Leben zu meistern und gegebenenfalls wieder in die Gesellschaft integriert zu werden (Conen 2013). Die Doppelfunktion von Hilfe und Kontrolle verdeutlicht, dass bei einer Begegnung zwischen Klient und Sozialarbeiter ein unsichtbarer Dritter mit im Spiel ist: der Auftraggeber, der Gesetzgeber, die Person im Hintergrund, die – aus welchen Gründen auch immer – dazu beigetragen hat, dass es zu dieser Begegnung gekommen ist. Der Dialog zwischen Sozialarbeiter und Klient hat deshalb ansatzweise den Charakter eines „Trialogs“ oder „Multilogs“. Anstatt von einem doppelten Mandat lässt sich häufig von mehrfachen oder – nimmt man etwa die Finanzierungsquelle hinzu – multiplen Auftraggebern sprechen (Pleyer 1996; Wagner / Russinger 2002; Conen 2013). Betrachtet man die Auftragskonstellation der Sozialen Arbeit zusätzlich aus professionstheoretischer Perspektive und nimmt man an, dass die Profession (gestützt auf ihre Wissensbestände) mit ihrer Ethik zusätzlich einen „Auftrag“ erteilt, darf vom ständigen „Triplemandat“ ausgegangen werden (Staub-Bernasconi 2007, 198 ff.). Diese Auftragskonstellationen und ihre Klärungen zu Beginn der Beratungsarbeit sind methodisch bedeutsam (Kap. 4). Bevor auf die Annahmen und Haltungen (Kap. 3.2) und auf das methodische „ABC“ in Zwangskontexten eingegangen wird, soll zunächst die Frage erörtert werden, ob Zwangskontexte überhaupt Veränderungen bewirken können.
3.1 Änderungschancen in Zwangskontexten
Kann die Soziale Arbeit in Zwangskontexten überhaupt Veränderungen erzielen? Diese Frage ist in methodischer Hinsicht entscheidend und auch für die Beantwortung sozialarbeitstheoretischer Fragen, ob Zwangskontexte und / oder Zwangselemente zur Sozialen Arbeit gehören oder nicht, wichtig. Bevor Interventionen als „Irrweg“ (Lutz 2011) bezeichnet werden, wäre zu fragen, ob und wie sie wirken, weshalb sie zur Anwendung gelangen etc. Während sich die Methodik in Zwangskontexten seit Beginn des 21. Jahrhunderts weiterentwickelt hat, bleibt ihre empirische Grundlage eher bescheiden. Gleichzeitig ist es in einigen Feldern wie der Jugend- oder Suchthilfe gelungen, Wirkfaktoren herauszuarbeiten, die mit Blick auf die Zwangskontextvariable handlungsleitend sein sollten.
In der Erkundungsstudie von Kähler (2005) wurden die Fachkräfte gebeten, den Prozentsatz der Fälle bei fremdinitiierten Kontaktaufnahmen zu schätzen, bei denen trotz aller Widrigkeiten nachhaltige positive Veränderungen gelingen. Die 74 Fachkräfte gaben einen durchschnittlichen Erfolgsanteil von knapp der Hälfte der Fälle an (48 %). Zwischen den Fachkräften unterschiedlicher Einrichtungshintergründe gab es keine signifikanten Unterschiede (Kähler 2005). Trotz fehlender Repräsentativität deutet diese Zahl an, dass eine große Chance auf nachhaltige Veränderung der Situation besteht. Dies ist ein wichtiges Ergebnis, widerspricht es doch der teilweise noch verbreiteten Annahme, dass unter den ungünstigen Voraussetzungen von eingeschränkten Handlungsspielräumen kaum mit positiven Ergebnissen zu rechnen ist.
Die empirischen Studien zu den Effekten in Zwangskontexten wurden mehrheitlich im Bereich der psychiatrischen Versorgung, in der Suchthilfe, in der Jugendhilfe und im Kontext der Resozialisierung durchgeführt. Bei diesen Effektivitätsstudien sind allerdings methodische Probleme zu bedenken, die beispielsweise bereits bei der Operationalisierung von „Unfreiwilligkeit“ oder „Zwang“ beginnen, weil „Freiwilligkeit“ meistens durch die Absenz gesetzlicher Gründe für die Kontaktaufnahme definiert wird. Außerdem lassen sich anspruchsvolle randomisierte Kontrollgruppendesigns in Zwangskontexten nicht ohne Weiteres umsetzen. Die Datenlage ist daher häufig ungenügend (Rooney 2009, für die Situation im angelsächsischen Raum). Das subjektive Erleben des Zwangs seitens der Klienten ist – unabhängig vom rechtlichen Status – für die Wirkung der Effekte ebenfalls von Bedeutung, da sich nicht alle Zwangskontextklienten als solche empfinden (Vogt 2012, mit Verweis auf weitere Studien). Ebenfalls kann nicht immer zwischen institutionellen Zwangskontexten als Rahmenbedingungen und dem Einsatz von Zwangselementen differenziert werden (Kap. 2.4). Trotz dieser Einschränkungen sollen einige Ergebnisse aus den Forschungen zu Zwangskontexten angeführt werden, die es erlauben, sich einen ersten Eindruck zu verschaffen und Faktoren zu erkennen, die wiederholt in den Befunden auftauchen:
Empirische Studien zur stationären psychiatrischen Behandlung unter Zwang bei psychotischen Patienten deuten darauf hin, dass die initiale Zwangsbehandlung die Aufenthaltsdauer reduziert und die Autonomie der Klienten erhöht (Frank et al. 2005). Steinert / Schmid (2004) fanden ebenfalls keinen Zusammenhang zwischen Freiwilligkeit und Behandlungserfolg bei Schizophreniekranken und arbeiteten heraus, dass der Erfolg vor allem kurzfristig wirksam ist. Evaluationen von gezielten partizipativen Interventionen bei Psychiatriepatienten haben ergeben, dass solche Techniken die Aufenthaltsdauer reduzieren und weniger Zwangseinweisungen notwendig machen (Thornicroft et al. 2010). Eine Katamnesestudie aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie zeigte, dass die Eingangsbefindlichkeiten der zwangsweise eingewiesenen Jugendlichen gegenüber den freiwillig eingetretenen Patienten schlechter waren, die Therapieeffekte beider Gruppen nach der...