2. Kreuzzug und Djihād
Die Kreuzzüge aus muslimischer Sicht
Für die islamische Geschichte liegt die wichtigste politische Folge der Kreuzzüge darin, daß sie die dauerhafte Vereinigung von Ägypten und Syrien unter einer Herrschaft bewirkten. Die von ihnen ausgehende Gefahr für die islamisch beherrschten Länder darf allerdings nicht überschätzt werden, denn nach der Eroberung Jerusalems und aller Hafenstädte der Levante bedrohten die Kreuzzüge zwar Damaskus und mehrmals auch das reiche Ägypten, niemals jedoch die Kalifenstadt Bagdad oder die beiden heiligen Städte Mekka und Medina.
Unverkennbar auch bedeutete die Rückeroberung Jerusalems durch Sultan Saladin im Jahre 1187 für die meisten Christen in Europa weit mehr als für die Muslime im Orient. Obwohl Jerusalem den Muslimen als heilige Stadt und Ort des Jüngsten Gerichts galt, im Ansehen freilich hinter Mekka und Medina zurückstand, hielt sich ihr Einsatz für den dem Heiligen Krieg der Christen vergleichbaren Djihād gegen die Kreuzfahrer deutlich in Grenzen – trotz des Versprechens jenseitigen Lohnes und aller propagandistischen Anstrengungen Saladins.
Die Zeit der Kreuzzüge war eine Blütezeit der Geschichtsschreibung in Syrien und Ägypten. Der Kampf mit den Kreuzfahrern bildete aber keineswegs ihr Hauptthema, so wie überhaupt das Interesse an den Verhältnissen in Europa auf muslimischer Seite gering war. Den Ersten Kreuzzug hielten die Muslime zunächst für ein Unternehmen der Byzantiner, mit denen sie seit Jahrhunderten immer wieder Krieg geführt hatten. Zwar läßt sich der Vergleich von christlichem Kreuzzug und islamischem Djihād auf der Seite der Muslime bereits im Jahre 1105 belegen, doch der auch den Byzantinern fremde Charakter eines Kreuzzuges als eines mit einer Wallfahrt verbundenen Kriegszuges zur Befreiung Jerusalems und die Rolle des Papstes als Initiator wurde den Muslimen erst Jahrzehnte später klar – vor allem wohl durch Saladins Propaganda während des Dritten Kreuzzuges. Schon früh sah man allerdings einen Zusammenhang zwischen der spanischen Reconquista, der normannischen Rückeroberung Siziliens und den Kreuzzügen in den Orient.
Die Eroberung Jerusalems und die Gründung der Kreuzfahrerstaaten führten auf muslimischer Seite nicht etwa zum geschlossenen Widerstand der benachbarten Herrscher und trotz einer langen Tradition freiwilliger Glaubenskämpfer auch nicht zum spontanen Massenaufbruch. Muslimische Freiwillige im Djihād gegen die Kreuzfahrer blieben selbst in späteren Jahrzehnten unter Saladin eine kleine Minderheit. Zum Erfolg des Ersten Kreuzzuges trug erheblich die abnehmende Macht des ismā‘īlitisch-schiitischen Kalifats der Fātimiden in Ägypten bei, mehr aber noch die Zersplitterung des Großreiches der Seldschuken und die damit einhergehenden Rivalitäten zwischen den türkischen Machthabern in den großen syrischen Städten. Außerdem kam es zunächst zu keiner nennenswerten militärischen Kooperation zwischen Ägyptern und Türken im Kampf gegen die als «Franken» (arab. ifrandj oder farandj) bezeichneten Kreuzfahrer.
Vielmehr waren Ägypter wie Türken bereit, sich mit den Franken zu arrangieren. Den türkischen Stadtherren in Syrien gelang es, die Fremden in ihr diplomatisches Spiel einzubeziehen und als neuen Machtfaktor den eigenen Interessen nutzbar zu machen. Für sie stellte die Existenz der Kreuzfahrerstaaten gegenüber einer drohenden Machterweiterung des fātimidischen Kalifen in Ägypten oder des seldschukischen Sultans im Zweistromland das kleinere Übel dar. Die Franken gingen auf die ihnen gemachten Bündnisangebote ein und scheuten sich alsbald ebensowenig wie die Muslime, mit dem Glaubensfeind gegen Glaubensbrüder gerichtete Verträge zu schließen. Es ist ein Charakteristikum dieses syrischen «Staatensystems», daß die fränkischen und türkischen Herrschaftseliten im Falle der Bedrohung durch eine nichtsyrische Macht zur Wahrung des politischen Gleichgewichts sogar gegen den Widerstand der (nichtfränkischen bzw. nichttürkischen) Bevölkerung zusammenstanden. So ließ 1115 der Sieg einer großen Koalition zwischen den Kreuzfahrerstaaten, Aleppo, Damaskus und Mārdīn den Versuch des seldschukischen Sultans scheitern, Syrien zurückzuerobern. Derartige Allianzen bedeuteten aber keineswegs den Verzicht auf Expansion zum Nachteil ehemaliger Bündnispartner, sobald die Gefahr von außen gebannt war.
Die Instrumentalisierung des Djihād-Gedankens
Auf muslimischer Seite kam es zu keiner Reaktion auf den Ersten Kreuzzug, die diesem vergleichbar gewesen wäre. Ein auch nur verbales Engagement für den Kampf gegen die Franken findet sich weder bei dem ‘abbāsidischen Kalifen in Bagdad noch bei seinem fātimidischen Rivalen in Kairo, sondern nur beim seldschukischen Sultan. Die von diesem ab 1106 befohlenen, von Nordmesopotamien aus als Djihād geführten Kriegszüge türkischer Heere nach Syrien sind jedoch nicht als Reaktion einer sich etwa im Zeichen eines Gegenkreuzzuges einigenden islamischen Welt zu betrachten. Die Propagierung des Djihād-Gedankens und der Ruf nach der Vereinigung aller Muslime zum Kampf gegen die Franken diente den Machthabern im nördlichen Mesopotamien ebenso wie denen im nördlichen Syrien lediglich zur Legitimierung ihrer Fehden untereinander. Zwar wurden die vom Zweistromland aus unternommenen Vorstöße nach Syrien, die – abgesehen von 1115 – keine Operationen des seldschukischen Sultans, sondern der Atābaks von Mosul waren, als Aktionen zur Unterstützung der syrischen Muslime gegen die Franken dargestellt, aber diese Feldzüge waren nicht die Folge muslimischen Einheitsdenkens. Vielmehr sind sie durch Konflikte im ‘Irāq und Expansionsbestrebungen des seldschukischen Sultans sowie der Machthaber in Mosul zu erklären. Sie dienten nicht in erster Linie dem Zweck, der Herrschaft der Franken ein Ende zu machen, obwohl die Resonanz syrischer Hilferufe am Kalifenhof und in den Moscheen von Bagdad maßgeblich dazu beitrug, daß sie überhaupt unternommen wurden.
Die Wende im Verhältnis der Kreuzfahrerstaaten zu ihren muslimischen Nachbarn in Syrien erfolgte nicht etwa durch die Kraft des Djihād-Gedankens, sondern durch die Vereinigung Mosuls und Aleppos unter der Herrschaft des Türken ‘Imādaddīn Zankī, dem Aleppo 1128 die Tore öffnete, nachdem ihn der seldschukische Sultan ein Jahr zuvor mit der Regierung in Mosul betraut hatte. Damit entstand ein überregionaler Machtbereich. Aleppo fiel künftig als auf Unabhängigkeit bedachter Vertragspartner der übrigen syrischen Mächte aus.
Zankī gilt üblicherweise als Protagonist des Djihād und Vorreiter bei der Vereinigung der islamischen Partikularstaaten für den Kampf gegen die Franken. Tatsächlich jedoch diente ihm die Bedrohung der Muslime durch die Franken lediglich als Argument, um mit der Investitursurkunde des seldschukischen Sultans für Mosul auch die nominelle Oberhoheit über Syrien zu erlangen. Wie schon seine Vorgänger in Mosul und der seldschukische Sultan, so nutzte auch Zanki den Djihād-Gedanken nur als Instrument zur Erweiterung der eigenen Macht. Bis zum Jahre 1137 kann unter seiner Herrschaft nicht einmal von einer offiziellen Djihād-Propaganda die Rede sein und ebensowenig von einem besonderen Interesse Zankīs an den Kreuzfahrerstaaten. Der Gedanke der Vertreibung der Franken aus Jerusalem und der Küstenregion wurde sogar erst unter seinem Sohn und Nachfolger Nūraddīn, d.h. nach 1146, zum Thema der Propaganda.
Als Zankī 1135 erfolglos versuchte, seine Herrschaft auf Damaskus auszudehnen, wurde er für die anderen – muslimischen wie christlichen – Mächte in Syrien zu einer ernsten Gefahr. Aber das militärische Eingreifen der Byzantiner in Nordsyrien 1137 und 1138 mit ihrem Angriff auf Aleppo (1138) ließ auch Zankī an die Tradition syrischer Gleichgewichtspolitik anknüpfen und den Ausgleich mit Damaskus und den Kreuzfahrerstaaten suchen. Der byzantinische Feldzug führte zu einer Annäherung aller syrischen Mächte. So heiratete Zankī 1138 die Mutter des Fürsten von Damaskus und erhielt Hims als Mitgift.
Die Ermordung des Schihābaddīn Mahmūd von Damaskus am 23. Juni 1139 nahm Zankī zum Anlaß, einen erneuten Angriff auf diese Stadt zu unternehmen. Wie schon 1135 war dort jedoch der Widerstand gegen ihn so groß, daß er es vorzog, die Stadt Baalbek anzugreifen, die vermutlich am 10. Oktober in seine Hände fiel. Die Garnison der dortigen Zitadelle bot einige Tage später die Kapitulation an, sofern ihre Sicherheit (arab. amān) garantiert würde. Zankī gab ein derartiges Versprechen, hielt sich aber nicht daran und ließ von der Garnison alle, die nicht zu fliehen vermochten, ans Kreuz schlagen.
Damaskus und Jerusalem
Dieser Vertragsbruch erwies sich als folgenschwerer Fehler, denn er machte im Falle von Damaskus die Aussicht auf eine kampflose Übergabe zunichte, weil die Damaszener ein ähnliches Schicksal befürchteten. Der militärische Widerstand, den Damaskus im Herbst und Winter 1139 gegen Zankī leistete, wurde von der ganzen Bevölkerung getragen. Im...