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Die Wiener Philharmoniker

Band I: Das Orchester und seine Geschichte von 1842 bis heute. Aus dem Französischen von Uta Szyszkowitz. Band II: Die Musiker und Musikerinnen von 1842 bis heute. Aus dem Französischen von Michaela Spath

AutorChristian Merlin
VerlagAmalthea Signum Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl640 Seiten
ISBN9783903083646
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis49,99 EUR
Ein Orchester ist die Summe seiner Musiker. Christian Merlin hat erstmals die Lebensgeschichten aller Mitglieder der Wiener Philharmoniker von der Gründung des Orchesters bis heute gesammelt. Aus diesen Einzelschicksalen erzählt er die erste umfassende und vollständige Biografie des Klangkörpers, der seit 175 Jahren weltweit einen einzigartigen Ruf genießt. Das Naheverhältnis zur Wiener Staatsoper, die Erhaltung und Fortführung der Orchestertradition, inspirierende Musikerpersönlichkeiten und einflussreiche Musikerdynastien haben die Wiener Philharmoniker seit Beginn ihres Bestehens geprägt. Band I erzählt in 14 groß angelegten Kapiteln die Geschichte des Orchesters von der Gründung durch Otto Nicolai 1842 und dem ersten Abonnementkonzert 1860 unter Carl Eckert über die nicht immer konfliktfreie Zusammenarbeit mit Gustav Mahler um die Jahrhundertwende und die umstrittene Position des Orchesters in der NS-Zeit bis hin zur Entwicklung seiner aktuellen Gestalt. Das Orchester engagiert sich heute neben jährlich fast 300 Vorstellungen an der Wiener Staatsoper und zahlreichen Auftritten im Rahmen von Tourneen, Konzertabenden und den Salzburger Festspielen auch sozial sowie in der Nachwuchsförderung. Band II gibt einen systematischen Überblick über die Besetzung des Orchesters und der einzelnen Instrumentengruppen sowie Informationen zur internen Nachfolge, zur Lehrtätigkeit und zu den Familiendynastien. Er bietet die einmalige Gelegenheit, jede(n) der 851 Musiker und Musikerinnen, die zwischen 1842 und 2016 Mitglied der Wiener Philharmoniker waren, in spannenden Kurzporträts kennenzulernen.

Christian Merlin, geboren 1964, ist Germanist, Musikwissenschaftler und Musikkritiker u. a. für 'Le Figaro' sowie Autor mehrerer musikhistorischer Werke ('Au c?ur de l'orchestre', Paris 2012; 'Les Grands Chefs d'orchestre du XXe siècle', Paris 2013). Zahlreiche Forschungsaufenthalte in Wien. Er lebt in Paris.

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Leseprobe

1. KAPITEL


1842. Die ersten Philharmoniker


In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die einzigen professionellen und fest engagierten Orchester in Wien die Theaterorchester und die Hofmusikkapelle, abgesehen von einigen wenigen noch existierenden Privatorchestern von Adligen. Keines dieser Orchester veranstaltete selbstständig Konzerte: Alle wurden von Fall zu Fall engagiert. So griff auch Ludwig van Beethoven für die Uraufführung seiner 1. Symphonie am 2. April 1800 im Burgtheater auf das Hofopernorchester zurück und für die 5. und 6. Symphonie am 22. Dezember 1808 auf das Orchester des Theaters an der Wien. Auch für die Uraufführung seiner 9. Symphonie hatte er das Opernorchester engagiert, aber durch einige Mitglieder des Orchesters der Gesellschaft der Musikfreunde verstärkt. Dieser 1812 gegründete Verein war der einzige Konzertveranstalter in Wien, beschäftigte jedoch hauptsächlich Amateurmusiker, denen manchmal Berufsmusiker an den ersten Pulten zugeteilt wurden. Der erste Versuch, eine Gesellschaft für professionelle Symphoniekonzerte zu gründen, war der »Künstlerverein«, der 1833 von Komponist Franz Lachner gegründet wurde. Er war damals Kapellmeister der Hofoper im Kärntnertortheater. Seine Absicht, mit dem Opernorchester im Großen Redoutensaal der Hofburg vier Abonnementkonzerte zu veranstalten, war eine Vorwegnahme der späteren philharmonischen Konzerte, es blieb bei einer einmaligen Umsetzung.

1842 kam der entscheidende Anstoß von Otto Nicolai (1810–1849): Das Kernstück österreichischer Kultur geht auf einen Preußen zurück. Der brillante Dirigent und spätere Komponist der Lustigen Weiber von Windsor war 1841 vom damaligen Pächter des Kärntnertortheaters, Carlo Balochino, auf den Posten des ersten Hofopernkapellmeisters berufen worden. Da er feststellen musste, dass Wien kein ständiges professionelles Symphonieorchester besaß, kam ihm die Idee, das Opernorchester, dessen Leiter er war, in ein Konzertorchester zu verwandeln. Die meisten der noch heute gültigen Grundprinzipien standen von Anfang an fest: ein demokratisch gewähltes Orchesterkomitee, eine Konzertsaison zusätzlich zum Operndienst (anfangs mit einer variierenden Zahl an Konzerten), die Pflege des klassischen Repertoires (Beethoven war erst 15 Jahre tot, und zwei der ersten Philharmoniker, der Fagottist Theobald Hürth und der Hornist Eduard Lewy, waren noch an der Uraufführung der 9. Symphonie beteiligt gewesen). Zugleich stellten die Konzerte einen nicht unbeträchtlichen Nebenverdienst für die schlecht bezahlten Musiker dar. Die soziale Komponente ist von Anfang an vorhanden, wie man in den Memoiren des Politikers Ludwig Ritter von Przibram nachlesen kann: »Die Gage eines Angehörigen dieses Körpers, dem alle Meister, Richard Wagner nicht ausgenommen, den ersten Rang zuerkannten, stand tief unter der Stufe, die heute als Existenzminimum eines Amtsdieners gilt. Eine Aufbesserung erreichten nur diejenigen, welche zugleich eine Stelle in der zum Kirchendienst bestellten Hofkapelle erlangten.« Das Thema der Entlohnung der Opernorchestermitglieder blieb die ganze Orchestergeschichte hindurch heiß umstritten und bildete wiederholt den Gegenstand erbitterter Gehaltsverhandlungen in der Oper und Konflikte mit der Theaterverwaltung, die die Zunahme an Konzerten als schädlich für die Dienstverpflichtungen in der Oper ansah.

Beim ersten Konzert der Wiener Philharmoniker am 28. März 1842 im Redoutensaal zählte das Orchester 64 Mitglieder. Der Almanach für Freunde der Schauspielkunst von 1843 gibt für das Jahr 1842 allerdings eine Anzahl von 70 Musikern im Orchester des »k. k. Hoftheaters nächst dem Kärntnertor« an. Möglicherweise waren nicht alle Stellen besetzt, was durch die Bemerkung des Gründers Otto Nicolai gestützt wird, er habe die Streicher verstärken müssen, indem er sich an »einige andere Künstler aus der Stadt« gewendet habe. Es kann aber auch sein, dass entgegen der Formulierung des Gründungsdekrets, nach der »das sämmtliche Orchester-Personal« beim Gründungskonzert auftrat, einige Musiker der Oper nicht oder nicht sofort zu den Philharmonikern gehörten.

Dies trifft zum Beispiel auf den Geiger Joseph Mayseder zu, einen der wichtigsten Wiener Musiker der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mayseder, 1789 geboren, war schon im Alter von elf Jahren im Augarten aufgetreten und hatte in Anwesenheit Beethovens im Schuppanzigh-Quartett gespielt, bevor er 1810 Konzertmeister des Hofopernorchesters, 1816 Mitglied der Hofmusikkapelle wurde und 1835 den Titel »kaiserlicher Kammervirtuose« verliehen bekam. Man kann daher vermuten, dass er 1824 bei der Uraufführung der 9. Symphonie von Beethoven am ersten Pult mitwirkte. Bis 1858 erscheint der Name Mayseders ohne Unterbrechung auf den Listen des Opernorchesters mit dem Titel »Solospieler«, und zwar unmittelbar nach den beiden »Orchesterdirektoren« Georg Hellmesberger und Franz Grutsch. Demnach bestand damals noch ein Unterschied zwischen den Konzertmeistern, die nicht selten mit Dirigierverpflichtung vom Pult aus betraut wurden, und den rangniederen Solospielern, denen die Violinsoli zukamen. In den Dokumenten der Philharmoniker scheint Mayseder genauso wenig auf wie in ihrem Mitgliederverzeichnis. Der Komponist von 63 im Druck erschienenen Werken, der für die Eleganz seines Spiels gerühmte Virtuose, der als einer der Pioniere der Wiener Geigenschule gilt (so es sie gibt), muss einen Sonderstatus genossen haben und als Komponist, Kammermusiker und Solist in der Oper zu beschäftigt gewesen sein, um Mitglied der neuen philharmonischen Gesellschaft zu werden. Er war aber sehr wohl beim Gründungskonzert beteiligt, denn er ist es, der das Violinsolo der von der Sopranistin Jenny Lutzer gesungenen Mozart-Arie Non temer, amato bene spielte.

Das Orchester hatte 1842 folgende Besetzung beziehungsweise folgenden Stellenplan: 10 Primgeiger (12 Planstellen in der Oper), 7 Sekundgeiger (10 Planstellen in der Oper), 5 Bratschisten (6 Planstellen in der Oper), 5 Cellisten (6 Planstellen in der Oper), 5 Kontrabassisten (6 Planstellen in der Oper), 1 Harfenist, 3 Flötisten, 3 Oboisten, 4 Klarinettisten, 3 Fagottisten, 6 Hornisten, 4 Trompeter, 4 Posaunisten, 4 Schlagwerker (2 Paukisten und 2 Schlagwerker). Insgesamt sind es 64 Philharmoniker (anstatt 70 gemäß dem Stellenplan der Oper). Damit ist man weit entfernt von der idealen Zahl von 16 ersten Geigen, die sich Nicolai für die Konzerte vorgestellt hatte, desgleichen von den 15 Primgeigern und 15 Sekundgeigern, die in einer Anmerkung aus dem Jahr 1843 erwähnt werden: daher der notwendige Rückgriff auf Substituten für die ersten philharmonischen Konzerte. Im Lauf der 1840er Jahre bemühte sich die Oper, die reale und die im Stellenplan vorgesehene Zahl in Einklang zu bringen: So kam man 1845 auf 67 Mitglieder, durch die Einstellung eines sechsten Bratschisten und eines sechsten Cellisten sowie durch die Schaffung einer Stelle für die Tuba, die damals noch Bombardon hieß. In den Stellenplänen wird der Tubist nicht eigens erwähnt, sondern zusammen mit den Posaunen.

Auch einen Harfenisten gab es erst seit Kurzem: Bis dahin hatte es aufgrund der Seltenheit des Instruments im Opernrepertoire genügt, fallweise externe Musiker heranzuziehen. Doch die zunehmende Häufigkeit der Opern Donizettis, Bellinis und Meyerbeers im Spielplan, in denen es immer mehr Harfensolos gab, rechtfertigte eine feste Stelle. Der Erste auf diesem Posten war der Mailänder Antonio Zamara, ein Star seines Instruments und Gründer der Wiener Harfenschule, die später von seinem Sohn Alfred und seiner Tochter Theresa weitergeführt wurde. Da Meister seines Instruments eine Rarität waren, konnte er ein überdurchschnittliches Gehalt aushandeln. Seine Starallüren und Disziplinlosigkeit wurden allerdings nicht toleriert. Als er am 23. Dezember 1862 unentschuldigt fehlte, rügte ihn die Direktion: »Wo bliebe denn die Ordnung in einem großen Kunstinstitute wie die k. k. Hofoper, wenn jedes Mitglied bloß nach Bequemlichkeit oder freiem Willen handelte?«

Bereits in der ersten Saison der Philharmoniker kam es zu Streitereien, die sich durch die ganze Geschichte des Orchesters zogen, darunter der Konflikt zwischen den Vorrechten des Dirigenten und den Unabhängigkeitsbestrebungen der Musiker. So kam es am 14. November 1843 zu einem heftigen Streit zwischen Nicolai und Solohornist Eduard Lewy, einer wichtigen Stütze des Orchesters. Er konnte sich zwar rühmen, bei der Uraufführung von Beethovens 9. Symphonie das vierte Horn gespielt zu haben, war aber offenbar mit 46 Jahren nicht mehr ganz auf der Höhe seines Könnens. Für das Konzert am 26. November wollte Nicolai ihn austauschen, denn auf dem Programm standen mit dem Rondo Per pietà aus Così fan tutte und der Eroica zwei Werke mit äußerst schwierigen Hornpartien. Der Streit eskalierte derart, dass Nicolai gegen den Hornisten Anzeige erstattete und seinen Rückzug aus dem Komitee und von den philharmonischen Konzerten forderte, indem er sich auf Artikel 13 der im Oktober 1842 beschlossenen Statuten bezog: »Wer sich den Anordnungen des Kapellmeisters oder des Orchester-Directors widersetzt, wird sich dadurch von der...

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