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Wege aus dem Dunkelfeld

Aufdeckung und Hilfesuche bei sexuellem Missbrauch an Jungen

AutorPeter Mosser
VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl323 Seiten
ISBN9783531913643
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis40,00 EUR
Sexualisierte Gewalt an Jungen gilt immer noch als Tabuthema. Der Zwang zur Geheimhaltung ist Teil des Problems. Dieses Buch versucht nun eine neue Perspektive zu eröffnen: Erstmals im deutschsprachigen Raum wird eine systematische Analyse von 'Bedingungen des Gelingens' vorgelegt. Anhand qualitativer Interviews mit betroffenen Jugendlichen und deren Eltern zeigt der Autor, wie das Schweigen gebrochen werden kann. Auf diese Weise entsteht das Bild einer vielfältigen psychologischen Landschaft, in die mögliche Wege aus dem Dunkelfeld eingeschrieben werden können. Ein Buch mit vielen Denkanstößen und Handlungsanregungen sowohl für Menschen aus der psychosozialen und juristischen Praxis als auch für Betroffene und deren Familien. Fazit: Hilfesuche muss nicht unbedingt unmännlich sein.

Dr. Peter Mosser arbeitet als Psychologe in der Beratungstelle kibs in München mit männlichen Opfern sexualisierter Gewalt.

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Leseprobe
6. ERGEBNISTEIL B « PROZESSKATEGORIEN UND VERLAUFSTYPEN (S. 236-237)

6.1. Geschwindigkeit

Die Schilderungen der Interviewpartner enthalten eine Reihe von Hinweisen darauf, dass die Geschwindigkeit, in der die Aufdeckungs- und Hilfesuchprozesse vonstatten gehen, einen erheblichen Einfluss auf das subjektive Erleben sowohl der Betroffenen als auch ihrer Eltern hat. Zunächst unterscheiden sich die beschriebenen Fälle in der Latenzzeit, die zwischen den ersten Missbrauchshandlungen und der Aufdeckung vergeht.

Diese erstreckt sich in einem Bereich zwischen wenigen Minuten (Rainer) und fünf bis sieben Jahren (Erich, Ralf ). Die Jungen unterscheiden sich also darin, wie lange sie einen erlebten sexuellen Missbrauch geheim halten oder abspalten mussten. Anders formuliert heißt dies, dass die beschriebenen Missbrauchssysteme unterschiedliche Zeiträume zu ihrer Entfaltung zur Verfügung hatten. Es wird deutlich, dass die Fälle von Rainer und Lothar in vielerlei Hinsicht anders verlaufen als die übrigen: Die beiden Jugendlichen reagieren schnell und unterbinden auf diese Weise die Entwicklung der für die Verstrickung innerhalb eines Missbrauchssystems typischen Dynamiken (Ängste, mangelnde Bewusstheit durch Abspaltung, Schuld, Probleme der Zugehörigkeit).

Ein wesentliches Charakteristikum der Aufdeckung besteht darin, dass sich in kurzer Zeit Entscheidendes verändert. Wenn ein über Jahre verborgenes Geheimnis plötzlich gelüftet wird, tre.en auch völlig verschiedene Formen des Zeitemp.ndens aufeinander: Ein zum Teil sehr umfassender Abschnitt der Biographie der Jungen wird in der zeitlich komprimierten Situation der Aufdeckung zur Disposition gestellt. Mit der Aufdeckung endet für die Jungen etwas, nämlich die Verstrickung im Missbrauchssystem sowie die Geheimhaltung. Für die, die informiert wurden [zumeist die Eltern(teile)] beginnt etwas: Der Versuch der Rekonstruktion eines wesentlichen biographischen Abschnitts ihrer Söhne.

Betroffene Söhne und ihre Eltern bewegen sich gleichsam in zwei entgegengesetzten Richtungen um die Vergangenheit des sexuellen Missbrauchs: Die einen bewohnten gewissermaßen diesen geheimen Ort und verlassen ihn nun durch das Zeitfenster der Aufdeckung. Die anderen nutzen dieses Fenster, um diesen erschreckenden Raum zu erkunden. Im Kommunikationsstil der dosierten Aufdeckung findet das Aufeinandertreffen verschiedener Geschwindigkeiten seinen Ausdruck (Erich, Markus, David, Ralf, Christian, Klaus): Die Eltern beschleunigen. Sie werden angetrieben von ihrem Bedürfnis nach Aufklärung. Sie wollen so schnell wie möglich „Licht in die Sache" bringen, Unklarheiten beseitigen. Die Jungen bremsen. Sie loten das Mindestmaß an Information aus, das notwendig ist, um den sexuellen Missbrauch zu bestätigen, ohne das Ausmaß und die Form ihrer Betro.enheit o.en legen zu müssen.

Fast alle Aufdeckungsszenen beinhalten dieses Muster aus Beschleunigung und Verlangsamung. Dieses findet sich sowohl in der sozusagen mikroskopischen Szene des ersten Aufdeckungsdialogs (Erich, Klaus) als auch in der daran anschließenden innerfamiliären Kommunikation (Markus, David, Klaus, Ralf ). In dieser Situation geht es um elementare Entscheidungen: Sind die Eltern in der Lage Rücksicht zu nehmen auf die Geschwindigkeit ihres Sohnes (siehe z. B. Frau H., die ihren Sohn zum Fußballspielen schickt)? Kann durch diese zentrale Form der Rücksichtnahme Zugehörigkeit angeboten werden?
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
INHALT6
VORWORT10
1. THEORIE18
1.1. Sexueller Missbrauch an Jungen – Spuren im Dunkelfeld18
1.2. Zur Prävalenz sexuellen Missbrauchs an Jungen21
1.3. Die Aufdeckung sexuellen Missbrauchs – eine Literaturübersicht27
1.4. Erweiterte Modelle von Aufdeckungsprozessen52
1.5. Theoretische Fundierungen von Aufdeckungsprozessen68
1.6. Mann oder Opfer?5 – zur sozialen Konstruktion und psychologischen Situation männlicher Opfer79
1.7. Probleme der Hilfesuche bei männlichen Opfern sexualisierter Gewalt86
1.8. „Frauen suchen Hilfe – Männer sterben“ – geschlechtsspezi.sche Aspekte des Hilfesuchverhaltens97
2. FRAGESTELLUNG103
3. METHODE106
3.1. Begründung des qualitativen Forschungsdesigns106
3.2. Auswahl der Fälle – das theoretical sampling und seine Grenzen107
3.3. Darstellung der Stichprobe114
3.4. Datenerhebung mittels Leitfaden-Interview117
3.5. Ort des Interviews122
3.6. Tonbandaufzeichnung und Transkription123
3.7. Die Subjekt-Seite des Erkenntnisprozesses – die Doppelrolle als Berater und Forscher123
3.8. Beziehungsdynamiken126
3.9. Gemeinsame Wirklichkeitskonstruktionen131
3.10. Auswertung132
4. KURZE DARSTELLUNG DER UNTERSUCHTEN FÄLLE149
5. ERGEBNISTEIL A - SYSTEME UND SYSTEMUBERGREIFENDE RELEVANZBEREICHE155
5.1. Das Missbrauchssystem156
5.2. Das Aufdeckungssystem181
5.3. Das Hilfesystem217
6. ERGEBNISTEIL B - PROZESSKATEGORIEN UND VERLAUFSTYPEN236
6.1. Geschwindigkeit236
6.2. Linearität239
6.3. Retrospektivität242
6.4. Verlaufstypen247
7. ERGEBNISTEIL C - DIE SPRACHE DER AUFDECKUNG UND HILFESUCHE249
7.1. Schweigen und Sprechen249
7.2. Aktualsprachliche Aspekte258
8. ERGEBNISTEIL D - FAMILIÄRE ASPEKTE273
8.1. Veränderungen familiärer Beziehungsgefüge: Dyaden – Exklusion – Reversibilität273
8.2. Familiäre Co-Konstruktionen277
9. ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE283
10. DISKUSSION285
10.1. Zusammenhänge der Ergebnisse mit empirischen Befunden285
10.2. Soziale Positionierungen als Entwicklungsanforderung im Aufdeckungs- und Hilfesuchprozess – eine identitätstheoretische Perspektive289
10.3. Implikationen für die Praxis305
LITERATUR312
ANHANG323

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