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O! ma chère maison; mon nid, mon gîte
Le passé l’habite … O ma chère maison
Eine glückliche Kindheit zu haben, ist eines der wertvollsten Dinge, die einem im Leben passieren können. Ich hatte eine sehr glückliche Kindheit. Ich hatte ein schönes Zuhause und einen Garten, den ich liebte; eine weise und geduldige Kinderfrau; einen Vater und eine Mutter, die einander vergötterten, eine ausgezeichnete Ehe führten und wunderbare Eltern waren.
Wenn ich zurückblicke, habe ich das Gefühl, dass unser Haus ein wirklich glückliches Haus war. Das lag vornehmlich an meinem Vater, denn er war ein sehr liebenswürdiger Mann. Die Eigenschaft der Liebenswürdigkeit wird heutzutage nicht sonderlich hoch eingeschätzt. Die Leute wollen eher wissen, ob ein Mann klug und fleißig ist, ob er zum Wohl der Gemeinschaft beiträgt, ob er in der Ordnung der Dinge »zählt«.
Nach heutigen Vorstellungen würde man wohl keine sehr hohe Meinung von meinem Vater haben. Er war ein Nichtstuer. Zu seiner Zeit privatisierte man, und wenn man über ein eigenes Vermögen verfügte, arbeitete man nicht. Zudem vermute ich stark, dass Arbeit meinem Vater nicht besonders gelegen hätte.
Jeden Morgen verließ er das Haus in Torquay und begab sich in seinen Klub. In einer Kutsche kehrte er zum Mittagessen zurück. Anschließend eilte er abermals in den Klub, spielte den ganzen Nachmittag Whist und war rechtzeitig wieder daheim, um sich zum Dinner umziehen zu können. In der Sommersaison verbrachte er seine Tage im Cricket Club, dessen Präsident er war. Gelegentlich organisierte er auch Liebhaberaufführungen. Er besaß eine ungeheure Zahl von Freunden und liebte es, sie als Gäste bei sich zu sehen. Wir hatten jede Woche eine große Dinnerparty daheim, und für gewöhnlich dinierten er und Mutter zwei- oder dreimal in der Woche auswärts.
Erst später wurde mir klar, wie beliebt er war. Nach seinem Tod kamen Briefe aus aller Welt. Und die Handwerker der Stadt, Kutscher, Angestellte – immer wieder trat irgendein alter Mann auf mich zu und sagte: »Ach, ich erinnere mich noch gut an Mr Miller. Ich werde ihn nie vergessen. Heutzutage gibt es nicht mehr viele wie ihn.«
Dabei hatte er keine hervorstechenden Eigenschaften. Er war nicht besonders intelligent. Ich denke, er hatte ein schlichtes und gutes Herz und zeigte echtes Interesse an seinen Mitmenschen. Er besaß einen ausgeprägten Sinn für Humor, und es fiel ihm leicht, die Leute zum Lachen zu bringen. Es war nichts Niedriges an ihm, er kannte keinen Neid, und er war unglaublich großzügig. Er besaß natürliche Fröhlichkeit und heitere Gelöstheit.
Meine Mutter war ganz anders: eine fesselnde, nicht leicht zu durchschauende Persönlichkeit, zielbewusster als mein Vater, überraschend originell in ihrer Denkweise, in quälende Hemmungen verstrickt und im Grunde ihres Herzens, glaube ich, von einer angeborenen Schwermut befangen.
Dienstboten und Kinder waren ihr herzlich zugetan und gehorchten ihrem leisesten Wink. Sie hätte eine ausgezeichnete Erzieherin abgegeben. Was immer sie sagte, für uns war’s sogleich packend und bedeutsam. Wiederholungen langweilten sie, und sie sprang in einer Weise von einem Thema zum anderen, dass sich die Fäden eines Gesprächs zuweilen verwirrten. Vater pflegte ihr vorzuwerfen, sie hätte keinen Humor. Dann protestierte sie in gekränktem Ton: »Nur weil ich gewisse Geschichten von dir nicht komisch finde, Fred …«, und Vater brüllte vor Lachen.
Sie war etwa zehn Jahre jünger als er und hatte ihn schon als zehnjähriges Kind hingebungsvoll geliebt. In der Zeit, da er als flotter junger Mann zwischen New York und Südfrankreich hin- und herflatterte, war sie, ein schüchternes, stilles Mädchen, daheim gewesen, hatte an ihn gedacht, hin und wieder ein Gedicht in ihr Poesiealbum geschrieben und eine Brieftasche für ihn bestickt. Übrigens behielt Vater diese Brieftasche sein Leben lang.
Eine typisch viktorianische Liebesgeschichte, hinter der aber eine reiche Fülle tiefer Gefühle steckte.
Ich interessiere mich für meine Eltern nicht nur, weil sie meine Eltern waren, sondern auch, weil sie etwas überaus Seltenes zustande brachten: eine glückliche Ehe. Bis zum heutigen Tage habe ich nur vier wirklich erfolgreiche Ehen gesehen. Gibt es ein Rezept für diese Art von Erfolg? Ich glaube kaum.
Meine Mutter, Clara Boehmer, hatte selbst keine sehr glückliche Kindheit. Bei einem Sturz vom Pferd erlitt ihr Vater, ein Offizier im Argyll Highlanders Regiment, tödliche Verletzungen, und meine Großmutter, eine reizende junge Witwe von siebenundzwanzig Jahren, blieb mit vier Kindern und einer bescheidenen Witwenpension zurück. Ihre ältere Schwester, die kurz zuvor einen reichen Amerikaner als dessen zweite Frau geheiratet hatte, schrieb ihr und bot ihr an, eines der Kinder zu adoptieren und als ihr eigenes großzuziehen.
Dieses Angebot glaubte die bekümmerte junge Witwe, die verzweifelte Anstrengungen unternahm, mit Näharbeiten das Nötige dazuzuverdienen, um ihre vier Kinder zu ernähren und aufzuziehen, nicht ausschlagen zu können. Von den drei Jungen und dem Mädchen fiel ihre Wahl auf das Mädchen. Meine Mutter verließ daher Jersey und kam in ein ihr fremdes Haus im Norden Englands. Ich glaube, dass ihr Groll, das schmerzliche Gefühl, unerwünscht zu sein, ihre Einstellung zum Leben beeinflusste. Sie begann an sich selbst zu zweifeln und der Zuneigung ihrer Umgebung mit Misstrauen zu begegnen. Ihre Tante war eine liebenswürdige Frau, gutmütig und großherzig, jedoch außerstande, sich in die Empfindungen eines Kindes einzufühlen. Meine Mutter genoss alle die sogenannten Vorteile eines behaglichen Daheims und einer guten Erziehung – doch was sie verlor und was sich durch nichts ersetzen ließ, das war das sorglose Leben mit ihren Brüdern in ihrem eigenen Heim. In Leserbriefen in Zeitungen habe ich zu wiederholten Malen Anfragen besorgter Eltern gesehen, ob sie ein Kind »wegen der Vorteile, die ich ihm nicht bieten kann – wie etwa eine erstklassige Erziehung« –, der Obhut anderer Menschen anvertrauen sollten. Immer wieder drängt es mich, ihnen zuzurufen: »Tut es nicht!« Das eigene Heim, die eigene Familie, Liebe und das Gefühl, dazuzugehören – was ist dagegen die beste Erziehung der Welt?
Meine Mutter war todunglücklich in ihrem neuen Leben. Nacht für Nacht weinte sie sich in den Schlaf, wurde immer dünner und blasser und schließlich so krank, dass die Tante den Arzt kommen ließ. Er war ein älterer, erfahrener Mann, und nachdem er die Kleine untersucht und mit ihr gesprochen hatte, ging er zu ihrer Tante und sagte: »Das Kind hat Heimweh.« Die Tante war überrascht und wollte es nicht glauben. »Aber nein«, sagte sie, »das ist völlig unmöglich. Clara ist ein gutes stilles Kind, sie macht uns nie Ärger, und sie ist sehr glücklich.« Aber der alte Arzt ging zu dem Mädchen zurück und sprach noch einmal mit ihm. Sie hatte Brüder, nicht wahr? Wie viele? Wie hießen sie? Es dauerte gar nicht lange, und sie brach in bittere Tränen aus, und die ganze Wahrheit kam an den Tag.
Da sie sich nun den Kummer von der Seele geredet hatte, löste sich die Spannung, doch das Gefühl, »nicht erwünscht zu sein«, blieb. Ich glaube, sie hat es meiner Großmutter bis zu ihrer letzten Stunde angekreidet. Sie schloss sich eng an ihren amerikanischen »Onkel« an. Er war damals schon ein kranker Mann, hatte aber Zuneigung zu der stillen, kleinen Clara gefasst. Sie pflegte zu ihm zu kommen und ihm aus ihrem Lieblingsbuch Der König vom Goldenen Fluss vorzulesen. Doch die einzigen wirklichen Lichtblicke in ihrem Leben waren die regelmäßigen Besuche des Stiefsohns ihrer Tante – ihres sogenannten »Vetters« Fred. Er war damals ein junger Mann von etwa zwanzig Jahren und immer besonders freundlich zu seiner kleinen »Base«. Eines Tages, als sie knapp elf war, hörte sie, wie er zu seiner Stiefmutter sagte: »Was für schöne Augen Clara hat!«
Clara, die sich immer für furchtbar unansehnlich gehalten hatte, ging nach oben und musterte sich im großen Spiegel des Toilettentisches ihrer Tante. Vielleicht waren ihre Augen wirklich ganz hübsch? Sie fühlte sich unendlich ermutigt. Von diesem Tag an gehörte ihr Herz für immer Fred.
»Fred«, sagte ein alter Freund der Familie drüben in Amerika zu dem lebenslustigen jungen Mann, »eines Tages wirst du deine kleine englische Base heiraten.«
»Clara?«, erwiderte er erstaunt. »Sie ist doch nur ein Kind!«
Aber er empfand immer eine besondere Zuneigung zu dem Mädchen, das ihn so schwärmerisch verehrte. Er bewahrte ihre kindlichen Briefe auf, die Gedichte, die sie ihm schickte, und nach einer langen Reihe von Liebeleien mit amüsanten Mädchen und schönen Frauen der New Yorker Gesellschaft (darunter auch Jenny Jerome, die spätere Lady Randolph Churchill) kehrte er nach England in die Heimat zurück und bat die stille, kleine Base, seine Frau zu werden.
Es ist typisch für meine Mutter, dass sie ihn ohne Zögern abwies.
»Warum eigentlich?«, fragte ich sie einmal.
»Weil ich rundlich war«, gab sie mir zur Antwort.
Ein außergewöhnlicher, aber für sie durchaus triftiger Grund.
Mein Vater ließ es sich nicht verdrießen. Er kam ein zweites Mal, und bei dieser Gelegenheit überwand meine Mutter ihre Zweifel und willigte, wenn auch zögernd, ein, seine Frau zu werden – nicht ohne die Befürchtung zu äußern, er würde »von ihr enttäuscht« sein.
So heiratete sie also, und auf dem Hochzeitsbild, das ich besitze, ist ein ernstes,...