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Hoffnungsland

Eine neue deutsche Wirklichkeit

AutorOlaf Scholz
VerlagHoffmann und Campe Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl280 Seiten
ISBN9783455001143
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
»Die neue Wirklichkeit birgt mehr Chancen als Risiken.« Wir erleben derzeit einen fundamentalen Wandel in der Wahrnehmung unseres Landes. Deutschland ist für viele Menschen in der Welt zu einem Hoffnungsland geworden. Unsere offene, liberale und säkulare Gesellschaft verheißt ein attraktives Leben in Freiheit und Sicherheit. Zuwanderung ist damit eine neue deutsche Wirklichkeit, die es zu gestalten gilt. Jetzt ist eine pragmatische Politik gefragt, die die Risiken zwar sorgsam abwägt, aber zugleich die Chancen erkennt, die in der Zuwanderung liegen. Olaf Scholz plädiert für eine Politik der selbstbewussten Zuversicht und zeigt Wege auf, wie Deutschland diese globale Herausforderung meistert - und auch noch davon profitiert.

Olaf Scholz, 1958 in Osnabrück geboren, ist in Hamburg aufgewachsen, wo er Rechtswissenschaften studierte und als Rechtsanwalt arbeitete. Er war von 2011-2018 Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg sowie von 2009-2019 stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD. Seit März 2018 ist er Bundesminister der Finanzen und Stellvertreter der Bunudeskanzlerin. Zur Bundestagswahl 2021 kanidiert er als Kanzlerkandidat der SPD. Hoffnungsland ist sein erstes Buch.

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Leseprobe

Neue deutsche Wirklichkeit


Was war das, was da im Jahr 2015 so scheinbar unerwartet über Europa und über Deutschland gekommen ist? Wieso haben sich Hunderttausende von Schutzsuchenden aus dem Irak, aus Eritrea, aus Afghanistan und vor allen Dingen aus Syrien auf den Weg nach Europa gemacht, zu uns? Weshalb hat die Europäische Union so zögerlich auf diese Massenbewegung reagiert? Warum ist auch die deutsche Verwaltung mit der Bewältigung dieser Aufgabe lange nicht ordentlich hinterhergekommen?

All diese Fragen spielen eine Rolle in den aktuellen politischen Debatten. Hierzulande diskutiert man mit großer Verve darüber, ob die überwiegend muslimischen Schutzsuchenden zu unserer »deutschen Leitkultur« passen, ob es Transitzonen im deutschen Grenzgebiet bedarf – und vor allen Dingen über die Frage, wann die Bundeskanzlerin diesen einen ikonischen Satz vom Herbst 2015 widerruft und damit dem Vorsitzenden ihrer bayerischen Schwesterpartei endlich Genüge tut.

Viel zu selten wird darüber gesprochen, welche Folgen diese letztlich umwälzenden Ereignisse des Jahres 2015 tatsächlich und auf lange Sicht haben – für uns, für unser Land, für unsere Gesellschaft. Darüber, was es bedeutet, wenn knapp 900000 Frauen, Männer und Kinder innerhalb eines Jahres nach Deutschland kommen, hier wohnen und leben, lernen und arbeiten sollen. Was es für unser Land bedeutet. Für unser Selbstverständnis. Für unsere Rolle in der Welt. Für unsere Zukunft. Für unsere säkulare, liberale und offene Gesellschaft.

Die öffentlichen Wortmeldungen lassen sich ohne viel Mühe grob in zwei Blöcke unterteilen: jene, die davon ausgehen, dass sich in unserem Land so gut wie nichts verändern wird und muss. Deutschland sei groß und stark, alles andere werde sich (ein)fügen. Und die anderen, die teils in schrillem Ton buchstäblich das Ende des Abendlandes prophezeien. Sie marschieren gerne montags in Dresden, sie sitzen noch lieber in den Fernsehtalkshows dieses Landes, verbreiten ihre Horrorgeschichten und ziehen immer öfter mit ihren platten Parolen auch in die Landtage der Republik ein.

So gegensätzlich und unversöhnlich diese beiden Positionen sind, eint sie die Tendenz, einen genaueren Blick auf die tatsächlichen Gegebenheiten zu verweigern und sich an »gefühlten« Wahrheiten festzuhalten.

Es ist Zeit für einen nüchternen Blick auf die Herausforderungen, die sich unserem Land mit dem Zuzug von Hunderttausenden Schutzsuchenden stellen. Und es ist Zeit, einmal genau zu benennen, welche Chancen darin liegen, dass Deutschland für viele Menschen in der Welt zu einem Hoffnungsland geworden ist.

Wir alle sind bewegt, wenn wir uns an die Bilder aus dem Herbst 2015 erinnern, als Zehntausende freiwillige Helferinnen und Helfer, aber auch mindestens so viele engagierte Beamtinnen und Beamten fast Übermenschliches leisteten, als es darum ging, die Hunderttausenden Schutzsuchenden zu begrüßen, sie zu versorgen, einen Platz für die Nacht, Nahrung und frische Kleidung zu organisieren. Bewegt sind wir – und etwas ungläubig; bei vielen von uns mischt sich zu dem Stolz auf das Geleistete auch ein Gefühl der Ernüchterung darüber, was nicht so gut geklappt hat. Eine Ernüchterung über eine Europäische Union, die seither zerstritten scheint in zu vielen Fragen und bald nur noch aus 27 Staaten bestehen wird. Über eine Außenpolitik, der es trotz aller Anstrengung nicht gelungen ist, den Krieg in Syrien und den islamistischen Terror zu stoppen. Eine Ernüchterung über die politischen Verschiebungen in unserem eigenen Land, in dem plötzlich Rechtspopulisten viel Zulauf erhalten. Und nicht zuletzt auch Ernüchterung darüber, dass die Aufnahme von so vielen Flüchtlingen nicht ohne Schwierigkeiten und Rückschläge abläuft und sich nicht jeder, der zu uns gekommen ist, als unendlich dankbar und leicht integrierbar erweist. Eine Ernüchterung darüber, dass es auch bei uns zu Terroranschlägen kommt.

Natürlich war es nicht gut, dass wir damals kurzfristig nicht mehr die volle Kontrolle darüber hatten, wer zu uns kam. Das darf sich nicht wiederholen. Niemand war auf einen solch immensen Zulauf von Schutzsuchenden vorbereitet, weil wir zu lange die Augen verschlossen hatten vor den Entwicklungen in der Welt. Das darf uns nicht wieder passieren, dafür müssen wir Vorsorge treffen – beispielsweise indem wir dazu kommen, dass die Europäische Union gemeinsam ihre Außengrenze wirksam schützt und zugleich legale Wege der Zuwanderung in die EU öffnet. Die EU muss sich darauf einigen, wie die Gemeinschaft die Flüchtlinge fair auf alle Mitgliedstaaten verteilt.

Die Ernüchterung mag schmerzhaft sein – schlecht ist sie nicht. Wer nüchtern auf eine Sache blickt, hat eine realistischere Vorstellung von den Herausforderungen, vor denen wir stehen – in der großen weiten Welt wie in unseren großen und auch kleineren Städten. Und: eine realistischere Vorstellung von unseren Möglichkeiten und Kräften. Wir dürfen jetzt nicht einfach abwarten, sondern müssen die nötigen Entscheidungen treffen, damit Deutschland gut gerüstet ist für die Zukunft.

Wir erleben gegenwärtig einen fundamentalen Wandel in der Welt, der nur unzureichend mit dem Begriff Globalisierung beschrieben ist. Jahrelang haben wir teils fasziniert, teils verängstigt auf das Zusammenrücken der Welt geblickt. Globalisierung schien zuvorderst ein wirtschaftliches Phänomen zu sein, das sich beispielsweise an der wachsenden Zahl von Containerschiffen ablesen ließ, die an den Kais im Hamburger Hafen festmachten. Oder daran, dass Produktionen und damit viele Arbeitsplätze in Niedriglohnländer verlagert wurden.

Inzwischen müssen wir feststellen, dass sich auch die geopolitische Balance zwischen den Mächten verschiebt. Spätestens mit der Annexion der Krim hat Russland das Völkerrecht und damit unsere globale Sicherheitsarchitektur infrage gestellt. Zugleich erleben wir, dass das wirtschaftliche und politische Erstarken aufstrebender Länder keineswegs automatisch auch ihre Demokratisierung bedeuten muss. Und die Terroranschläge in Paris, Brüssel, in Istanbul und in Berlin sorgen zusätzlich für Verunsicherung. Diese Verunsicherung ist in nahezu allen Lebensbereichen spürbar.

Spätestens mit dem Krieg in Syrien spüren wir die Auswirkungen dieses fundamentalen Wandels direkter in unserem Alltag – weil sich mehr und mehr Frauen, Männer und Kinder von dort auf den Weg nach Mitteleuropa gemacht haben, um hier Schutz, Sicherheit und Zukunft zu finden. Offensichtlich wurde dabei, dass für Deutschland ohne eine einige, handlungsfähige Europäische Union kaum eine Möglichkeit besteht, das Geschehen in der Welt wirksam zu beeinflussen. Das betrifft die äußere Sicherheit genauso wie die wirtschaftliche Globalisierung oder die Aufnahme von Flüchtlingen. Europa ist für die Zukunft Deutschlands entscheidend. Dass die Institutionen der EU nur unzureichend in der Lage sind, schnell auf akute Herausforderungen zu reagieren, hat die Flüchtlingskrise einmal mehr bewiesen. Bewiesen hat sie aber auch, dass wir eine handlungsfähige Europäische Union tatsächlich brauchen und dass es für die zentralen Aufgaben in der immer weiter zusammenwachsenden Welt keine erfolgversprechenden nationalen Lösungsansätze gibt.

Deutschland sollte die Zuwanderung von so vielen Menschen in so vergleichbar kurzer Zeit als positives Signal sehen. Als ein Signal für einen fundamentalen Wandel in der Wahrnehmung unseres Landes: Die Bundesrepublik Deutschland ist zu einem Land geworden, auf das viele Menschen ihre Wünsche und Hoffnung projizieren. Ihren Wunsch nach einem lebenswerten Leben, einem Leben in Sicherheit, in Freiheit – und ihre Hoffnung, bei ihrem Streben nach Glück nicht enttäuscht zu werden.

Es sind nicht nur Flüchtlinge, die ihre Hoffnung auf ein besseres Leben mit Deutschland verbinden. Hunderttausende kommen jedes Jahr aus anderen Staaten der Europäischen Union nach Deutschland. Es gibt auch Arbeitskräftezuwanderung von außerhalb der EU.

Die weltweiten Migrationsströme sind ein langfristiger Trend, eine Tatsache, auf die wir uns einstellen müssen. Europa wird sich auf Dauer nicht zur Gänze dagegen abschotten können; genauso wenig wird Europa unbegrenzt Zuwanderer aufnehmen können. Deshalb müssen wir einen klugen Mittelweg finden, um gewappnet zu sein für die Zukunft.

Mit der Losung »Life, Liberty and the Pursuit of Happiness« haben die Gründungsväter der Vereinigten Staaten von Amerika in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 den »amerikanischen Traum« umschrieben. Ein Zukunftsversprechen an jeden, der ins Land kam: Sicherheit, Freiheit und die Chance auf Glück. Ein Versprechen, das zugleich eine Aufforderung war an alle, sich anzustrengen. Dieses Versprechen mag sich in den Vereinigten Staaten etwas relativiert haben, es hat aber über mindestens zwei Jahrhunderte für die Zuversicht gestanden, die Amerika groß gemacht hat.

Die Garantie von Sicherheit und Freiheit sowie die Chance, sein Glück zu machen, sind starke Antriebsmotoren. Auch wenn viele bei uns das längst noch nicht wahrgenommen haben und nicht wahrhaben wollen: Deutschland ist für viele Menschen in der Welt zu einem Hoffnungsland geworden – so wie die USA, deren Gründungsmythos davon erzählt, wie sich die Hoffnung auf ein gutes Leben in ein Streben nach dem guten Leben verwandelt hat. Barack Obama hat in einem Buch, noch als junger Senator, von der »Kühnheit der Hoffnung« gesprochen, der Audacity of Hope. Auch viele von...

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