Vor der Klinik
Der Start
Das bin ich. Und dieses Buch wird peinlich. Sehr peinlich.
Sonntag, 24. April
Es ist Ostersonntag 2011 und ich hätte nicht gedacht, diesen Tag zu erreichen. Jetzt geht es los, mein Suchttagebuch. Seit fünf Monaten bin ich spielfrei (so nennt man die Abstinenz in der Spielsucht), seit 17 Jahren bin ich trocken.
Ich habe jahrelang gezockt, jede Menge Geld und vieles mehr verloren, meine Frau und alle Menschen um mich herum an der Nase herumgeführt. Ich habe allen etwas vorgemacht. Auch mir.
Dann hatte ich einen lichten Moment, in dem ich erkannte, was ich gemacht hatte – und dass ich es nicht ungeschehen machen konnte. Ich konnte es nicht glauben – DAS hatte ICH gemacht? Was war nur los mit mir?
Ich hatte Selbstmordgedanken. Meine Ärztin meinte, bei meinen Fantasien bliebe mir nur die geschlossene Abteilung eines Krankenhauses. Nun ja, nach einigen Wochen wurde ich wieder nach Hause entlassen. Noch in der Klinik hatte ich den Entschluss gefasst, mein Leben wieder neu aufzubauen, Stein auf Stein – auch mit Hilfe einer Therapie.
Dazu werde ich Euch noch einiges erzählen. Aber jetzt ist es Ostersonntag.
Momentan warte ich auf die Genehmigung meiner stationären Entwöhnungsbehandlung – das ist die Langzeittherapie in einer Klinik. Ich hoffe, sie wird mir genehmigt, ich hoffe, ich komme in meine Wunschklinik Marienstift Dammer Berge und ich hoffe – ich schaffe es.
Der Tag ist sonnig, gleich kommt die Familie. Ich werde hier schreiben, wie und was ich denke, ohne Hemmungen – weil ich hoffe, dass es jemandem weiterhelfen kann, der ähnliches erlebt hat wie ich und der ähnlich verzweifelt ist oder war.
Vielleicht liest es ja auch niemand ... dann aber hat es wenigstens mir selbst geholfen. Denn wenn man manche Gedanken ausspricht oder schreibt, werden sie einem noch einmal so klar.
Das erlebe ich immer wieder in den Suchtgruppen, an denen ich teilnehme. Das sind fünf Stück in der Woche, drei davon im Klinikum Bremen–Nord und jeden Donnerstagabend in der Selbsthilfegruppe GGG – Gemeinsam gegen Glücksspielsucht, die ich seit kurzem besuche.
Ich bin jetzt sehr aktiv im „Kampf“ gegen meine Sucht. Mir bleibt ja nichts anderes, wenn ich mein Leben nicht komplett wegwerfen möchte.
Süchtige und Gefühle
Donnerstag, 28. April
Gestern Mittag war ich wieder im Klinikum Bremen–Nord zur Suchtinfo. Frau U. macht das immer richtig gut, sie lässt kein Gelaber zu und bringt die Dinge auf den Punkt, dabei ist sie aber stets freundlich und zeigt Mitgefühl. Thema sollte eigentlich sein „Folgeerkrankungen des Alkoholkonsums“ – nach einer Weile aber ging es über zu den Ursachen von Wut und Ärger.
Was sind die Ursachen von Wut und Ärger? Verletzung, Angst, Unsicherheit, Traurigkeit, Enttäuschung – sucht Euch was aus ... Sie legte uns vier Schritte ans Herz, die jeder Süchtige besonders beachten und erlernen sollte:
1.Gefühle wahrnehmen
2.Gefühle annehmen
3.über Gefühle reden
4.Gefühle zeigen
Na Bravo, ich bin ja schon bei Schritt eins. Das kann nur besser werden. (Anmerkung lange Zeit später: Heute habe ich es drauf, meine Gefühle wahrzunehmen, sie zu akzeptieren und auch zu äußern. Das mit dem Zeigen der Gefühle klappt noch nicht so ganz, aber schon ganz gut. Diese vier Stufen, der Leser wird es noch merken, waren von Anfang extrem wichtig für mich. Sie sind extrem wichtig für alle Süchtigen.)
Nah dran, die Explosion!
Sonnabend, 30. April
Gestern Morgen habe ich eine Situation erlebt, die mich sehr verärgert hat.
Ich war sehr aufgeregt. Und da Süchtige besonders auf ihre Gefühle achten sollen, weil sie während des Konsums ihrer Droge – Alkohol, Spielen, was auch immer – generell ihre Gefühle weggedrückt oder zumindest manipuliert haben, habe ich mich selbst einmal beobachtet: Was fühle ich gerade?
Und da waren Ärger, Wut, Enttäuschung, Angst. Der Ärger war eigentlich mehr der Ärger über mich selbst als über andere – ich hatte nicht erreicht, was ich erreichen wollte – und da saß ich dann, völlig aufgeregt und sah mir zu.
Also Licht aus, Spot an: was fühle ich gerade und (ja ich weiß, klingt abgedroschen ...) was macht das mit mir?
Mir wurde dann erst klar, was ich und warum ich es fühle und dass ich dadurch erst so aufgedreht bin und dann habe ich mir Hilfe geholt und mit meiner Frau telefoniert.
Also ich habe geredet ... und noch dazu über meine Gefühle! Unfassbar! Noch vor fünf Monaten hätte ich in der Situation sofort gespielt, also meine Droge genommen und mich „zugemacht“ – bloß keine Gefühle wahrnehmen, jedenfalls keine unangenehmen – sofort spielen, weil das ja ein gutes Gefühl machte – jedenfalls für mich Süchtigen.
Glücklicherweise war mittags auf der Station P1, wo ich ja momentan noch ambulant in Behandlung bin, wieder Suchtgruppe. Ich habe mein Erlebnis zum Thema gemacht. Es war nur eine kleine Runde, vier Patienten insgesamt und eine Therapeutin – und je kleiner die Runde, desto besser – diese Erfahrung habe ich mittlerweile gemacht. Es tat mir gut, noch einmal darüber zu reden.
Warum schreibe ich das alles? Weil ich gemerkt habe: Es war eine brenzlige Situation, früher hätte ich sofort gespielt, aber ich habe diese Gefühle ausgehalten und mir Hilfe geholt: Ich habe darüber geredet! Das ist für mich ein bedeutender Etappensieg gewesen – für jeden Gesunden wäre das ein völlig normales Erlebnis gewesen, wahrscheinlich ohne jede Bedeutung.
Aber für mich war der Freitagmorgen wichtig.
... and counting down!
Sonntag, 1. Mai
Je mehr mir aufgeht, wie wichtig Gefühle für mich als Spielsüchtiger sind, wenn ich von meiner Droge des Spielens dauerhaft lassen, also spielfrei sein will, desto mehr wird mir klar, dass ich gar nicht so viele Gefühle kenne, jedenfalls nicht mit Namen.
Also habe ich ein wenig herumgesucht und erst mal folgende Liste der Gefühle zusammengestellt, die gerne ergänzt werden kann (muss):
aggressiv allein angegriffen ängstlich ärgerlich ausgelaugt bedroht bedrückt belästigt bestätigt bestraft betäubt betrogen bevormundet dankbar eingeengt eingeschüchtert einsam erleichtert erniedrigt erregt fit frei freudig geborgen geduldig gefühllos gelangweilt geschmeichelt gespannt gesund glücklich hilflos hoffnungslos jähzornig krank leer leicht lustlos lustvoll minderwertig müde nervös nichts niedergeschlagen ohnmächtig provoziert reuevoll ruiniert sauer Scham schuldig schwach stark stolz traurig überrascht ungeliebt unglücklich unsicher unterfordert unterschätzt unterstützt unwichtig verachtet verbittert verfolgt verlassen verletzt verstanden verzweifelt wütend zornig
Mehr kenne ich nicht – und hatte auch nicht gedacht, dass ich überhaupt so viele Gefühle kenne. Wahrscheinlich habe ich sogar alle diese Gefühle schon mal selbst gefühlt, wenn ich nicht gerade meiner Sucht genüge getan habe ... also spielend oder, ja, saufend. Das reicht für heute. Komme mir ja schon merkwürdig vor mit dieser Gefühlsduselei.
SHG OK? *
Sonnabend, 7. Mai
In der letzten Woche war ich zum ersten Mal nicht in allen fünf Suchtgruppen, weil ich Handwerker zu Hause hatte und aufpassen musste.
Deshalb fiel für mich am Montag die Suchtgruppe auf der P1 aus und ebenso die Motivationsgruppe auf der P2, auch am Mittwoch war ich nicht zur Suchtinfo auf der P1.
Natürlich hatte ich mich abgemeldet, klar zu sein ist ja wichtig für mich als Süchtigen, aber es war trotzdem ein komisches Gefühl, nicht dort zu sein. Es war in Ordnung und ich habe ja nicht wegen Faulheit gefehlt, aber trotzdem habe ich mich nicht so ganz wohl gefühlt.
Das habe ich am Freitag dann auch in der Suchtgruppe zum Thema gemacht. Und ich habe gesagt, dass wer ohne triftigen Grund an einer Suchtgruppe nicht teilnimmt – Arbeit, Krankheit, Behördenbesuch oder ähnliches – anfängt, die Suchtgruppen nicht ernst zu nehmen.
Und wer das tut, nimmt dadurch auch seine Suchtkrankheit nicht ernst. Was daraus unweigerlich folgt, ist klar: der Rückfall.
Jeder Diabetes–I–Typ muss seine Krankheit ernst nehmen und stets wachsam sein, und zwar, solange er krank ist. Dann kann ich als Süchtiger das erst recht.
Wo ist das Problem?
Ohne triftigen Grund eine Suchtgruppe zu versäumen, ist ein absoluter Fehler und mehr noch: ein Anzeichen für höchste Gefahr – der Rückfall ist im Anmarsch!
Da denke ich doch an meinen Gruppenfreund Thomas, der stets sagt: „Der Besuch der Selbsthilfegruppe ist meine Medizin, die ich mir jede Woche abhole. Oder mein Rettungsring, der mich über Wasser hält!“
* Wer‘s nicht weiß: SHG heißt natürlich Selbsthilfegruppe
Ach, bei Dir auch?
Montag, 9. Mai
Neulich war ich auf einer Hochzeit. Im Standesamt war es sehr feierlich und wir hörten einiges darüber, wie eine gute Ehe aussieht.
Meiner Frau kamen die Tränen vor Rührung und als ich das sah und überlegte, wie ich mich ihr gegenüber die letzte Zeit verhalten hatte, spürte ich schon, dass mir auch gleich die Tränen kommen würden.
Ich habe das Gefühl, dass ich sie in den letzten Jahren wegen meiner Spielsucht im Stich gelassen habe, und das werde ich mir nicht verzeihen können. Nun ist es ja nicht gerade weltfremd, wenn einem bei einer solchen feierlichen Handlung, wo es um Liebe, Zusammenhalt und gemeinsames Leben geht, die Tränen kommen,...