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E-Book

Karl Marx

Die Biographie

AutorGareth Stedman Jones
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl896 Seiten
ISBN9783104905587
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
»Eine profunde Neubewertung von Marx und eine fesselnde Lektüre«, so urteilt Bestseller-Autor Christopher Clark über Gareth Stedman Jones' hochgelobte Studie »Karl Marx: Die Biographie«. Denn Karl Marx war kein Marxist - zum Marxisten haben ihn andere gemacht. Indem Gareth Stedman Jones Leben und Werk von Marx konsequent aus ihrem Kontext im 19. Jahrhundert beschreibt, gelingt ihm eine faszinierende neue Deutung dieses epochemachenden Denkers. Endlich verstehen wir Marx' Entwicklung aus seiner Zeit heraus und wie er die Gedanken von Kant, Hegel, Feuerbach, Ricardo und anderen zu neuen Ideen schmiedete. Und wir verstehen Marx' grundlegende Begriffe wie z.B. »Mehrwert«, »Kapital« »Entfremdung«, »Ausbeutung«, »Proletarier«, »Revolution« usw. In einer Epoche des industriellen und politischen Umbruchs erscheint Marx als Zeitgenosse, der versucht, Antworten auf die neuen Herausforderungen zu finden. Antworten, von denen er nicht ahnen konnte, wie sehr sie die Welt verändern würden. »Eine profunde Neubewertung von Marx und eine fesselnde Lektüre.« Christopher Clark

Gareth Stedman Jones, geboren 1942, studierte Geschichte in Oxford und unterrichtete am dortigen Kings College fast 20 Jahre politische Wissenschaften. Von 1964 bis 1981 war er Mitherausgeber der Zeitschrift »New Left Review« und ist nun Professor für Ideengeschichte an der Queen Mary University von London und Direktor des Centre for History and Economics an der Universität von Cambridge.

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Leseprobe

1 Revolution, Kaiserreich und die Juden im Rheinland


Das historische Drama, das sich hinter diesen nackten biographischen Tatsachen verbirgt, war das der Französischen Revolution, die zur französischen Besetzung des Rheinlands, den Reformen des Ersten Kaiserreichs und 1815 zum Fall des Rheinlands an Preußen führte – Ereignisse, die auch das Schicksal der Familie Marx nachhaltig veränderten. Denn ohne die Auswirkungen der Revolution hätte Heinrich niemals Anwalt werden können, ohne die Bildungsinitiativen Napoleons hätte er nie seinen juristischen Abschluss bekommen, und ohne eine Anpassung an die immer restriktivere Politik Preußens gegenüber den Juden nach 1815 hätte er niemals Anwalt bleiben können.

Diese folgenschweren Ereignisse prägten auch das Weltbild des jungen Karl, seine Beziehung zu den Eltern und seine im Allgemeinen negative Einstellung gegenüber der jüdischen Vergangenheit seiner Familie. Der lange Schatten, den diese Geschehnisse warfen, erklärt sich durch die enormen Hoffnungen, die in den ersten Jahren der Revolution zwischen 1789 und 1791 geweckt wurden: das Versprechen einer repräsentativen Regierung, der Religions- und Meinungsfreiheit, der Gleichheit vor dem Gesetz, all das formuliert in der universellen Sprache der »Menschenrechte«. Dieser Traum stellte für die Generation von Heinrich Marx einen entscheidenden Wendepunkt dar. Man muss sich gleichermaßen jedoch die späteren Ereignisse der Jahre 17921794 in Erinnerung rufen, die zur dramatischen Ablösung der diskreditierten Monarchie Frankreichs und zur Errichtung einer Republik führten, einer Staatsform, die man bis dahin in den großen, alten, bevölkerungsreichen Staaten Europas für unmöglich gehalten hatte. Die neugegründete Republik hatte sich mit Hilfe einer Bürgerarmee, einer demokratischen Verfassung und sogar einer Zivilreligion, welche die Vision von einer neuen Welt unterfütterte, erfolgreich gegen den Rest Europas zur Wehr gesetzt. Doch sie hatte auch den terreur, den faktischen Bankrott und den Sturz des radikalen Jakobinertums mit sich gebracht. Für die Radikalen aus Karls Generation war 1792 wichtiger als 1789. Die Jakobinerrepublik diente ihnen als Inspirationsquelle wie als Ausgangspunkt für jeden Erklärungsversuch, warum die Revolution letztlich scheiterte. Dieses Spannungsverhältnis zwischen liberalen und republikanischen Vorstellungen von Revolution sollte die Sprache der Oppositionsgruppen im Rheinland bis zu den Revolutionen von 1848 bestimmen.

Die Veränderungen, welche die Revolution mit sich brachte, waren folgenreich. Vor 1789 war die Regierung Frankreichs auf der Basis eines hierarchisch konzipierten Ständesystems organisiert gewesen, das auf der vermeintlichen Unterscheidung zwischen denen, die beteten, denen, die fochten, und denen, die arbeiteten, beruhte. In der neuen Verfassung wurden diejenigen, die arbeiteten – der sogenannte Dritte Stand –, zur Nation als solcher. Die Privilegien und die eigenständige Existenz der beiden anderen Stände, des Adels und des Klerus, wurden abgeschafft. Überdies wurden in der Nacht des 4. August 1789 in Stadt und Land die Feudalherrschaft und die Feudalvorrechte für nichtig erklärt. Die Leibeigenschaft wurde abgeschafft, und Bauern durften den Grund, den sie bestellt hatten, in Besitz nehmen, entweder sofort oder nach Zahlung einer bescheidenen Ablösegebühr. Und schließlich ruhte die neubegründete Nation mit der Umwandlung der Generalstände in die Nationalversammlung nunmehr auf einer neuen, rein weltlichen Quelle politischer Legitimität, nämlich der Volkssouveränität.

Es wäre jedoch ein Irrtum zu glauben, die Revolutionsgeschehnisse wären einer klar umrissenen revolutionären Agenda gefolgt. Erst rückblickend ließen sie sich so verstehen. Tatsächlich war der Prozess deutlich widersprüchlicher und wirrer.

Zu Beginn der Revolution »war die überwältigende Mehrheit der Deputierten davon überzeugt, alle Reformen müssten unter den Vorzeichen der Monarchie umgesetzt werden, in enger Zusammenarbeit mit einem König, dem sie weiterhin treu ergeben waren«. Die Deputierten träumten »von einer Rückkehr zu einer idealisierten Vergangenheit, von einem Reformprozess, in dem historische Vorläufer außerordentlich bedeutsam blieben«. Doch schließlich gelangten die Delegierten im Sommer 1789, »innerhalb von sechs Wochen voller außerordentlich intensiver Treffen«, zu einer »Haltung, die sich nur als revolutionär bezeichnen lässt«, zu »einer neuen Vorstellung von nationaler Souveränität, die in ihren Implikationen radikal demokratisch war«.[1]

Zu Beginn schien es am wahrscheinlichsten, dass die Assemblée nationale constituante sich für die historisch gewachsene Monarchie entscheiden würde, allerdings in einer durch eine Ausbalancierung der Macht gemäßigten Form, wie es der Verfassungsausschuss und sein weithin geachteter Vorsitzender Jean-Joseph Mounier vorgeschlagen hatten. Stattdessen jedoch verabschiedete sie eine radikal neue Verfassung, die auf der Volkssouveränität und einer einzigen gesetzgebenden Versammlung beruhte, ein Vorschlag, der eher im Sinne Rousseaus war. Die Krone, die nunmehr im Grunde als untergeordnete Exekutivmacht definiert wurde, erhielt lediglich temporäre Macht in Gestalt eines aufschiebenden Vetos, und diese wurde zusätzlich begrenzt durch die Berufung auf das Volk als letzte Instanz. Dieses System aber, so der Girondistenführer Jacques Pierre Brissot, konnte nur mit einem »revolutionären König« funktionieren.[2]

Viele der Abgeordneten waren unsicher, ob die Konstituante ein bestehendes System reformieren oder ein völlig neues System etablieren sollte. Das Ergebnis war deshalb, wenig überraschend, inkohärent, eine völlig instabile und im Grunde unhaltbare Mischung aus dem Rousseau’schen Prinzip der unveräußerlichen Souveränität der volonté générale und dem dezidiert anti-rousseauistischen Prinzip einer repräsentativen Versammlung.

Diese verwirrenden Zielsetzungen waren zum Teil der Schwäche einer finanziell bankrotten Exekutive geschuldet, die nicht in der Lage war, die Übernahme einer Sprache abstrakter Universalien nach dem Vorbild der Amerikaner 1776 zu verhindern. Verschiedene Angehörige der Assemblée verwiesen auf die Gefahren, die ein solches Gerede berge. Beispielhaft dafür steht die Argumentation von Jérôme-Marie Champion de Cicé, dem Erzbischof von Bordeaux: »Wir dürfen uns nicht mit den natürlichen Rechten befassen, die an der Wiege flügge werdender Völker definiert werden, sondern mit den Bürgerrechten, dem positiven Recht eines großen Volkes, das in den vergangenen fünfzehn Jahrhunderten geeint war […]. Lassen wir den natürlichen Menschen und beschäftigen wir uns lieber mit dem Los des zivilisierten Menschen.« Ein anderer Gemäßigter, Pierre-Victor Malouet, verwies auf die offenkundigen Risiken, die ein solcher Ansatz mit sich bringe. Anders als in Amerika, so meinte er, einer Gesellschaft, die »für die Demokratie bereit« gewesen sei und »vollständig aus Grundbesitzern bestanden« habe, würde man in Frankreich die »notwendigen Bindungen« zerstören und zu »universeller Zerrüttung« anstiften, wenn man »leidenden Menschen ohne Wissen und Mittel auf absolute Weise verkündet, sie stünden rechtlich auf der gleichen Stufe wie die Mächtigsten und Reichsten«.[3]

Als die Revolution Fahrt aufnahm, bekam diese Sprache universeller Rechte eine immer zwingendere Schärfe. Das war zum Teil sicher der Radikalisierung der Revolution geschuldet, die sich mit wachsender Feindseligkeit vonseiten der katholischen Kirche, dem Widerstand und Fluchtversuch des Königs, dem Bürgerkrieg in der Vendée und der zunehmenden Entschlossenheit der europäischen Mächte konfrontiert sah, die »bewaffnete Lehre« der Revolution, wie Edmund Burke sie nannte, zu bekämpfen. In diesem Ausnahmezustand wurde anstelle der religion royale des Ancien Régime eine neue Form des Heiligen konzipiert, das in der Nation wurzelte. Alte kirchliche Strukturen und die heiligen Fundamente der Königsherrschaft wurden beseitigt, ja sogar das Christentum als solches. Der Druck, politische und religiöse Macht miteinander zu verschmelzen, nun aber unter republikanischen Vorzeichen, wurde immer größer. Seinen Höhepunkt erreichte dieser Prozess im Sommer 1794 mit dem von Robespierre begründeten »Kult des höchsten Wesens«, einer republikanischen Zivilreligion, deren Grundzüge ursprünglich in Rousseaus Gesellschaftsvertrag skizziert worden waren.

Die Unterschiede zwischen dem, was man heute als »Liberalismus« und »Republikanismus« bezeichnen würde, entwickelten sich erst im Verlauf dieser eskalierenden Konflikte, doch die Diskrepanz zwischen ursprünglicher Absicht und politischem Resultat war von Anfang an vorhanden. Denn schon 1789 führte die Tatsache, dass sich die Nationalversammlung einer Sprache des Naturrechts und der Volkssouveränität bediente, zu Ergebnissen, die wenig mit den zunächst bekundeten Zielen zu tun hatten. Schon damals war in den Debatten mehr von politischem Willen als von gesellschaftlicher Vernunft die Rede, mehr von absoluter Souveränität als von einer durch die Menschenrechte beschränkten Regierung; mit dieser Sprache ließ sich auch der terreur rechtfertigen.[4]

Dieses Spannungsverhältnis zwischen liberaler und republikanischer Sicht der Revolution zeigte sich besonders deutlich im Fall...

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