Der Tag, der mein Leben veränderte
Der 23.November 1974 war ein grauer, trüber Tag, einer jener Tage, an denen es gar nicht hell werden wollte. In meiner kleinen Studentenwohnung am Beethovenplatz im Frankfurter Westend, ich nannte sie liebevoll mein Schließfach, brannte den ganzen Tag über Licht. Vor dem Fenster direkt unter dem Dach hingen dunkle Wolken. Ich war nicht allein an jenem Nachmittag. Mein Freund Zewde Germachtew, genannt Basha, und seine Freundin Rena Makridis versammelten sich mit mir um den niedrigen Holztisch, auf dem sich das kleine schwarze Transistorradio befand. Neben uns standen drei Teller mit Zwetschgenkuchen und Sahne, die inzwischen zu einem weißen See zerlaufen war. Frau Rumbler, die Hausmeisterfrau, die zusammen mit ihrem Mann gleich nebenan wohnte, hatte ihn uns einige Stunden zuvor gebracht, aber wir hatten die Teller nicht einmal angerührt. Alle paar Minuten drehte ich an dem winzigen Schalter, um die Frequenz zu wechseln, vom Hessischen Rundfunk zu den Kurzwellenprogrammen von Deutscher Welle und BBC und wieder zurück. Noch heute kann ich die Schlagzeilen jenes Tages auswendig vorsagen: »Oppositionsführer Carstens mahnt für die anstehenden Tarifauseinandersetzungen im Öffentlichen Dienst einen moderaten Abschluß an.« – »Das Schicksal der Passagiere der von palästinensischen Terroristen in Dubai entführten British Airways-Maschine ist weiter unklar.« – »Der amerikanische Präsident Ford und der sowjetische Parteisekretär Breschnew zeigen sich bei ihrem Zusammentreffen in Wladiwostok zuversichtlich, daß ein bilaterales Abkommen zur Beschränkung strategischer Offensivwaffen in greifbarer Nähe sei.« – »Der evangelische Bischof von Berlin Kurt Scharf weist Forderungen nach einem Rücktritt im Zusammenhang mit seinem umstrittenen Gefängnisbesuch bei Ulrike Meinhof zurück.«
All diese Meldungen interessierten uns an jenem Tage nicht – wir warteten verzweifelt auf Nachrichten aus Addis Abeba. Rena Makridis war gerade mit dem Flugzeug aus Äthiopien eingetroffen, Basha und ich hatten sie am Morgen vom Flughafen abgeholt. Die Stimmung war gedrückt. Seitdem im Frühjahr des Jahres die Taxifahrer von Addis Abeba zu streiken begonnen hatten, geschahen schier unglaubliche Dinge in meiner Heimat. Nach den Taxifahrern demonstrierten die Studenten und verlangten nach demokratischen Rechten. Und es gab kaum einen jungen Menschen, kaum einen Intellektuellen, der nicht mit dem neuen Geist, der in diesem äthiopischen Frühling überall zu spüren war, sympathisierte. Eine neue Regierung, angeführt von einem meiner Vettern, Endalkatchew Makonnen, war angetreten und eine Kommission eingesetzt worden zur Erarbeitung einer neuen, demokratischen Verfassung, welche die Befugnisse des Kaisers beschränken sollte. Der Kaiser selbst schien sich all diesen Plänen nicht zu widersetzen. Doch irgendwann begann der Wind sich zu drehen. Die neue Regierung wurde bereits nach wenigen Monaten wieder abgesetzt. Eine Gruppe von Militärs – die sich Derg, Provisorischer Militärrat, nannte – hatte sich nach und nach als das neue Machtzentrum des Landes herausgeschält. Sie streckten die Hand nach den Politikern und Repräsentanten des alten Regimes aus. Zuerst traf es nur den ein oder anderen Offizier oder kaiserlichen Beamten, die aus ihren Wohnungen, Kasernen und Amtsstuben abgeführt wurden. Vielleicht waren die Militärs selbst überrascht davon, daß sich kein Widerstand regte, allmählich wagten sie sich weiter hervor. Nach einigen Monaten jedenfalls saß die gesamte Führungsschicht des äthiopischen Kaiserreichs im Gefängnis. Und am Morgen des 12.September 1974, dem Tag nach dem äthiopischen Neujahrsfest, war der Kaiser selbst – der König der Könige aus dem Hause David, der Löwe von Juda, wie ihn die Europäer nannten, aus dem Geschlecht der Salomoniden, der 225. Herrscher auf dem Thron des drei Jahrtausende alten äthiopischen Kaiserreichs –, war Haile Selassie abgesetzt und, wie es hieß, »unter Hausarrest gestellt« worden. Die Verfassung war aufgehoben, die Regierungsgeschäfte hatte eine Provisorische Militärregierung übernommen. Das Photo, auf dem zu sehen ist, wie Uniformierte den Kaiser die Stufen des Palasts hinab in einen hellblauen VW Käfer dirigieren, ging um die Welt. Während all dieser Monate war in Addis Abeba kaum ein Schuß gefallen, die politischen Kommentatoren der internationalen Medien sprachen von einer »schleichenden Revolution«.
Doch verblaßte die Sorge um das Schicksal meines Heimatlandes vor dem Hintergrund der Angst, die ich um meine Familie hatte. Mit Haile Selassie waren nämlich, neben weiteren Angehörigen der kaiserlichen Familie, auch meine Mutter und meine Geschwister inhaftiert worden – alle außer meiner Schwester Tsige, die ihren Häschern durch Zufall entging und sich an einem unbekannten Ort versteckt hielt. Mein Vater Leul Ras (Kaiserlicher Herzog) Asserate Kassa, Vorsitzender des Kaiserlichen Kronrats, saß bereits seit fast drei Monaten in Haft. Wie jeden Sonntag hatte er auch am Morgen des 30.Juni 1974 die Messe besucht, beim Verlassen der Kirche war er von einer Abordnung des Derg abgeführt worden.
Es war schwierig, verläßliche Informationen aus Addis Abeba zu bekommen. Anrufe im Kreis der Familie und der Freunde konnten nur mit äußerster Vorsicht erfolgen – uns allen war klar, daß die Leitungen abgehört wurden. Meine wichtigsten Vertrauenspersonen in diesen Tagen (und in den schweren Wochen und Jahren, die auf diese noch folgen sollten) waren die Bediensteten meiner Eltern. Bis auf Ketemma, den Kammerdiener meines Vaters, waren sie alle auf freiem Fuß. Doch was ich von ihnen erfuhr, war niederschmetternd. Debre Tabor, die Residenz meiner Eltern auf dem Entoto in den Bergen über der Hauptstadt, war von Soldaten abgeriegelt worden, niemand durfte sich ihr nähern. Meine Mutter und meine Geschwister waren mit weiteren Mitgliedern der Kaiserfamilie im Palast des Herzogs von Harrar festgesetzt, mein Vater zusammen mit vielen hohen Würdenträgern des Landes im Keller des Menelik-Palastes. Dort saß auch der Vater meines Freundes Basha ein, der einstige Landwirtschaftsminister Dejazmatch Germatchew Tekle-Hawriat, der als Schriftsteller im ganzen Land bekannt und darüber hinaus wie mein Vater Mitglied des Kronrats war. Sie alle warteten auf den Beginn der von den neuen Machthabern mit großer Geste angekündigten gerichtlichen Untersuchungen. Und ich saß in weiter Ferne in Frankfurt am Main, abgeschnitten von allen Informationen und ohne Möglichkeit zu helfen. Vor wenigen Tagen hatte ich meinen sechsundzwanzigsten Geburtstag begangen, aber nach Feiern war mir nicht zumute gewesen.
Die neuen Informationen, die Bashas Freundin Rena aus Äthiopien brachte, waren alles andere als dazu angetan, die Stimmung aufzuhellen. Es kursierten Gerüchte, daß es innerhalb jener geheimnisvollen Gruppe des Derg Auseinandersetzungen über die Zukunft des Landes gäbe. Seit einer Woche war der offizielle Vorsitzende der Provisorischen Militärregierung, in dessen Händen angeblich die Geschicke des Landes lagen – General Aman Andom –, nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen worden. Statt dessen hatte eine neue, bis dahin unbekannte Figur die öffentliche Bühne betreten. Der 36jährige Oberst Mengistu, vormals Major der Kaiserlichen Armee und nun Erster Stellvertretender Regierungschef der Provisorischen Militärregierung, hatte zu einer Pressekonferenz geladen, und sein Ton unterschied sich merklich von der konzilianten und umsichtigen Art von General Aman. Er richtete eine scharfe Mahnung an die äthiopischen Studenten, den Weisungen der Militärregierung Folge zu leisten. Und er wies daraufhin, daß sich in die Regierung »reaktionäre Elemente« eingeschlichen hätten, bis in die höchste Verantwortungsebene hinein, die man nicht zu dulden gewillt sei.
Ich wußte nicht, was mir lieber war: nichts über Äthiopien im Radio zu hören – was immerhin die Hoffnung aufrecht erhielt, daß sich die Dinge nicht zum Allerschlimmsten gewendet hatten –, oder aber, Klarheit über die aktuelle Lage zu bekommen. Am späten Nachmittag gab es auf BBC World dann tatsächlich Informationen aus meiner Heimat: In der Hauptstadt seien Truppen aufgezogen, General Aman Andom sei – wie die inzwischen bekannte Formulierung hieß – »unter Hausarrest gestellt«, eine »militärische Auseinandersetzung« zwischen den verschiedenen Gruppen des Militärrats stehe unmittelbar bevor. Von nun an klebten wir förmlich am Radio. Alle dreißig Minuten wurden die wenigen Sätze wiederholt wie die Litanei in einem Gottesdienst, ohne daß wir Näheres erfahren hätten. Basha und ich versuchten uns abzulenken, indem wir uns an unsere gemeinsamen Jahre an der Deutschen Schule von Addis Abeba erinnerten – der imposante Weihnachtsbaum in der Aula, die Faschingsfeiern mit Luftschlangen und bunten Kostümen, der Besuch des Kaisers, den ich als Schülersprecher offiziell begrüßen durfte, und all die Nachmittage, die wir zusammen im Schwimmbad des Ghion-Hotels verbrachten ... Doch all das vermochte unsere Beklemmung nur für Minuten zu lösen.
Gegen Mitternacht müssen wir auf unseren Stühlen eingenickt sein. Der Regen peitschte gegen das Dachfenster, als ich aus dem Schlaf fuhr. Ich weckte meine Freunde. Wir beschlossen, daß es sinnlos sei, die ganze Nacht wach zu bleiben, und ich richtete für meine Gäste die Couch.
Ich hatte den Wecker auf sechs Uhr gestellt, und sowie er am nächsten Morgen klingelte, galt mein erster Handgriff dem Radio. Nun war Äthiopien auf BBC die Spitzenmeldung: »Blutiger Machtkampf in Äthiopien – Mehr als fünfzig Personen erschossen.«...