Was ist männlich? – Versuch einer Definition
«Ich haue auf die Schädel und küsse hübsche Mädel.»
Über die schlichte Frage «Was ist männlich?» lässt sich heutzutage schwer Einigkeit erzielen, wenn überhaupt. Bedeutet Männlichkeit etwa, groß, stark und klug zu sein? Durchsetzungsfähig, ehrgeizig und rational? Das sind Frauen auch, zumal sie es heute anders als noch vor wenigen Jahrzehnten sogar sein sollen und auch wollen. Muss ein Mann dagegen – sozusagen als Alleinstellungsmerkmal – die seinen notfalls mit Gewalt beschützen können? Der Mann als Kämpfer, als Soldat, als der Stärkere, Mutigere, Bessere, Schnellere und Klügere? Da beginnen Probleme. Dann ist das Männliche nämlich auch der böse Mann (vor dem der gute Mann seine Lieben beschützen muss), der feindliche Soldat (gegen den der Kriegsheld sein Volk verteidigt) und natürlich auch der tumbe Kraftprotz, der übertrieben Waghalsige, der Angeber, Drängler und notorische Besserwisser.
Spätestens seit Ende der 1960er Jahre, als die «herrschende Männerkultur» in die Kritik der Frauenbewegung geriet und zugleich die moderne, pluralistische Gesellschaft als demokratisches Ideal bis auf weiteres unumkehrbar wurde, hat das Männliche nach Jahrtausenden relativer Selbstverständlichkeit erheblich an Kontur verloren. Die Debatte um Geschlechtergerechtigkeit wurde in die Tiefen des privaten und gesellschaftlichen Seins hineingetragen und verhalf den Mädchen und Frauen zu einer historisch nie da gewesenen Gleichberechtigung (auch wenn das Ziel der gesellschaftlichen Teilhabegleichheit längst nicht erreicht ist). Mit der Aufwertung des Weiblichen ging eine anhaltende Abwertung herkömmlicher Männlichkeit einher. Zwar profitieren in der friedfertigen Zivilgesellschaft des 21. Jahrhunderts nicht zuletzt die Jungen und Männer davon, dass nicht mehr der alles bestimmende, gefühlskontrollierte und jederzeit kriegsbereite Mann das Leitbild des Männlichen ist, wie das noch bis weit ins vergangene Jahrhundert hinein der Fall war. Doch den potenziellen Zuwachs an Möglichkeiten hat die Gesellschaft für die Jungen und Männer bis heute nicht ebenso positiv besetzen können wie bei den Mädchen und Frauen. Worin genau die «neue Männlichkeit» bestehen soll und inwiefern sie sich von moderner Weiblichkeit unterscheiden darf, um immer noch gut gelitten zu sein, darüber besteht kein Konsens.
Im Verlauf der 1980er Jahre wurden Mädchen in der Pädagogik eindeutig beliebter als Jungen. Nicht nur, weil es schöner war und ist, Benachteiligte zu fördern als Bevorzugte zu deckeln. Nun waren es vor allem klassisch-weibliche Tugenden, die zur Norm erhoben wurden: Gruppendienlichkeit, Einfühlungsvermögen, Fürsorglichkeit und kommunikative Kompetenz. Das Rüde, Verschlossene und Aggressive vieler Jungen war und ist dagegen das, was die erzieherische Arbeit so schwierig macht. Und so lautete die neue Erkenntnis bald: Tatsächlich, Jungen sind auch nur Kinder! Aber wie kommen wir an diese verstockten Burschen heran?
Bedarf nach Eindeutigkeit
Es gibt ein großes Bedürfnis zu bestimmen, worin und warum sich die Geschlechter voneinander unterscheiden. Bücher wie «Männer sind anders. Frauen auch» des US-amerikanischen Paar- und Familientherapeuten John Gray, oder «Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus» von seiner Landsfrau Cris Evatt haben weltweit Millionenauflagen. Die Buchhandlungen quellen beinahe über vor Titeln wie «Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken» oder «Wie Männer ticken: Über 100 Fakten, die aus jeder Frau eine Männerversteherin machen». Scharen männlicher und weiblicher Comedians reiten seit Jahren auf der Welle von «Männer sind primitiv – aber glücklich», «Nicht jeder Prinz kommt uff’m Pferd» oder «Warum Männer und Frauen nicht zusammenpassen».
Während bis vor fünfzig Jahren an der patriarchalischen Ordnung kaum zu rütteln war, weil die männliche Vorherrschaft angeblich in der natürlichen und damit genetisch begründeten Ordnung fußte, wurde in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts viel darangesetzt, die Geschlechtsunterschiede einzuebnen: Man werde nicht als Mädchen (oder Junge) geboren, sondern dazu gemacht. Den genetischen Anlagen wurde kaum noch Beachtung geschenkt, Umwelt und Erziehung zählten dagegen fast alles. Jeder Mensch, gleich ob Junge oder Mädchen, habe prinzipiell das gleiche Entwicklungspotenzial. Geschlechtsunterschiede in Verhalten, Fähigkeiten und möglichen Schwächen gingen allein darauf zurück, dass Kinder weiterhin nach traditionellen Rollenstereotypen erzogen würden – zum Vorteil der Jungen und auf Kosten der Mädchen. Dies galt es zu ändern.
Als ich mit Dieter Schnack Ende der 1980er Jahre mit der Arbeit an der Erstausgabe dieses Buches begann, lautete das Leitmotiv der herrschenden Geschlechtererziehung: Die benachteiligten Mädchen müssen gefördert werden, die im allgemeinen Vorteil befindlichen Jungen sollen ihnen Platz machen. Die pädagogischen Kräfte sahen damals in etwa so aus: Die Frauen trugen alles verhüllende Wollpullover, (lila) Latzhosen und in erster Linie gesundes Schuhwerk. Frech und selbstbewusst hatten sie das körperbetonte Anbiedern an die sexistische Männerwelt selbstredend nicht nötig. Der dazu gehörige Szene-Mann trug ebenfalls Wollpullover, Latzhosen und bequeme Sandalen. Das einzig Soldatische an ihm war ein Parka. Die Outfits waren in der Tendenz geschlechtslos. Schminke war verpönt, Tattoos nur etwas für Knastbrüder, körperlich ließ man sich eher hängen.
Immerhin wurde den aufstrebenden Mädchen einiger Nachholbedarf in Sachen Körperstolz zugebilligt. Machten sich 15-jährige Mädchen am hart erkämpften «Mädchentag» des Jugendzentrums zusammen mit ihrer «Mädchenarbeiterin» schön, und präsentierten sie sich dabei in althergebrachter Weise auch ein bisschen sexy, war das durchaus ein Ausdruck des neuen weiblichen Selbstwertgefühls: «Nur anschauen, nicht anfassen!» Übte sich unterdessen ein 15-jähriger Junge in klassisch männlichen Posen, bewies er damit lediglich die geistig-moralische Rückständigkeit seines Geschlechts. Wurden Geschlechtsunterschiede thematisiert, dann ausschließlich nach Gesichtspunkten von Macht und Moral.
Im Verlauf der 1990er Jahre brach sich dann die offenbar tiefverwurzelte Sehnsucht nach Eindeutigkeit der Geschlechtsrollen erneut Bahn. Das androgyne Modell, das von der prinzipiellen Gleichheit der Geschlechter ausging, erwies sich für beide Geschlechter als zu wenig alltagstauglich. Augenscheinlich wollen Frauen und Männer unterschiedlich sein, weil sie so empfinden und sich so erleben. Im Allgemeinen wollen sie nicht miteinander verwechselt werden. Natürlich will niemand unterdrückt werden, und obwohl der Sexismus nach wie vor in vielen Farben blüht, ist er doch schon lange nicht mehr gesellschaftsfähig. Gleichwohl wollen Jungen und Mädchen, Männer und Frauen sich einem Geschlecht eindeutig zuordnen können. Und sie möchten stolz auf ihr Geschlecht sein. Damit sich die Geschlechter gegenseitig begehren können, müssen sie sich unterscheiden. (Homosexuelle Menschen begehren zwar das jeweils eigene Geschlecht, aber auch hier muss es eindeutig ebendieses vom anderen verschiedene sein.)
In jüngerer Zeit haben die physiologische Psychologie und andere neurowissenschaftliche Disziplinen bei der Erforschung naturgegebener und erziehungsbedingter Geschlechtsunterschiede einen enormen Boom erlebt. Das traf offenbar den Nerv der Zeit und befeuerte die immer wieder aufflammende Debatte, was denn nun den größeren Anteil der Geschlechtsunterschiede zu verantworten habe: die Natur oder die Erziehung? Im Streit der wissenschaftlichen Disziplinen geht es natürlich immer auch um Eitelkeiten. Pädagogik und Biologie haben traditionell wenig Ahnung vom Fachgebiet der jeweils anderen Seite und interessieren sich allein schon deshalb kaum für deren Forschungsergebnisse. Auf Synergien abzielende Forscher und Forscherinnen haben unterdessen den alten Schulstreit «Wie viel Anlage, wie viel Umwelt?» zu Grabe getragen. Etwa der Psychologe Markus Hausmann im hervorragenden Sammelband «Gehirn und Geschlecht – Neurowissenschaft des kleinen Unterschieds zwischen Frau und Mann». Er schreibt: «Wie andere Autoren bin ich der Meinung, dass die Anlage- und Umwelt-Diskussion in eine Sackgasse führt. Auch geht es schon lange nicht mehr darum, die Gewichte biologischer oder sozialer Faktoren zu bestimmen. Das Ziel der gegenwärtigen Geschlechterforschung sollte vielmehr sein, die komplexe Interaktion zwischen diesen Faktoren zu verstehen.»
Ebenfalls einen guten Überblick gibt die Psychologin Doris Bischof-Köhler mit ihrem Buch «Von Natur aus anders. Die Psychologie der Geschlechtsunterschiede». Das Sympathische bei ihr wie bei den Autoren des Sammelbands «Gehirn und Geschlecht» ist, dass sie keinen Hehl daraus machen, im Grunde zu wenig über die anlage- und umweltbedingte Geschlechtsunterschiede zu wissen, um abschließende Aussagen machen zu können. Bei genauerer Betrachtung ist alles viel komplizierter als gedacht. Die in beiden Büchern mit Abstand häufigsten Formulierungen zur Bewertung einschlägiger Forschungsergebnisse...