Die alte Liebe
Die Liebe, wie wir sie kennen, gibt es noch nicht so lange. Ja, wirklich! Sie ist erst rund 250 Jahre alt und nennt sich »romantische Liebe«. Kaum zu glauben, dass diese viel besungene Himmelsmacht noch so jung an Jahren ist. Aber es ist nur die äußere Form der Liebe, die sich mit jugendlichem Schwung in den Köpfen der Menschen eingenistet hat. In Wirklichkeit ist die Liebe eine sehr alte Lady, die sich als »romantische Liebe« ein neues Image verpasst hat, um mit der Zeit zu gehen und ihre Sonderstellung nicht zu verlieren.
In der Zeit vor ihrer Wandlung zur romantischen Liebe war sie eine andere, mehr zielgerichtet und von berechnender Natur. Dennoch konnte die Liebe damals auch sehr romantisch sein, aber das eher im Verborgenen. Heute hüllt sie sich in einen narzisstischen Mantel der Eitelkeit und ist damit ganz auf der Höhe der Zeit. Sie schmückt sich gerne mit der Verliebtheit im Bestreben, dass die Menschen sich in Sehnsucht nach der »wahren Liebe« verzehren. Aber tatsächlich ist es nicht die Liebe, der gehuldigt wird, sondern die Verliebtheit. Eine leere Hülle, die den Geist blendet und täuscht. So ist die Liebe Spiegelbild der Gesellschaft: getrieben, verunsichert und narzisstisch. Aber im Kern ist und bleibt sie, was sie immer war: ein komplexes, allumfassendes Wesen, das nur existieren und wachsen kann, wenn sie beachtet und intensiv gepflegt wird.
Wann die Liebe auf die Welt kam, weiß niemand so genau. Aber bereits in der Antike (ca. 500 vor Christus) huldigten ihr die Griechen und Römer. Allerdings nicht der Liebe zwischen Mann und Frau, sondern der zwischen Männern, und das eher auf geistiger Ebene, zumindest zwischen erwachsenen Männern. Zwischen einem erwachsenen Mann und einem Jüngling sah die Sache etwas anders aus. Heute stünde das Liebesspiel mit einem Schutzbefohlenen unter Strafe. Damals war es Teil der Kultur.
Frauen indes galten nicht als liebenswert, weil man sie physisch und psychisch als dem Mann unterlegen betrachtete. Die Ehefrau gehörte in die Küche und zu den Kindern. Sie war mehr Mittel zur Fortpflanzung denn ein sexuelles oder gar liebenswertes Wesen. Entsprechend zurückhaltend hatte sie sich zu verhalten. Konnte sie keine Kinder bekommen, dann wurde sie ausgetauscht. Ihre Zukunft sah dann noch weniger rosig aus.
Die Einstellung zur Sexualität in der Ehe war pragmatisch und hatte mit Liebe, wie wir sie heute verstehen, herzlich wenig zu tun. Sex mit der Ehefrau diente vorrangig der Zeugung der Nachkommen. Wollte der Mann in der Antike aber Leidenschaft und Erotik, dann suchte er außerhäusig seine Befriedigung. Und wer es sich leisten konnte, der nahm sich eine Hetäre – die damalige Bezeichnung für eine Edelprostituierte. Die Hetären genossen meist großes Ansehen und verkehrten in den besten Kreisen, solange sie jung und begehrenswert waren. Konnten sie in dieser Lebensphase ihren Wohlstand für das Alter sichern, hatten sie auch dann noch ihr Auskommen, wenn Falten der Begierde ihrer Anbeter den Garaus machten. Stellten sie aber Lebensfreude und Genuss in der Vordergrund – und das taten die meisten –, dann war die Endstation ein Leben in Armut, abseits der besseren Gesellschaft.
Im Gegensatz zu den Griechen waren die Römer etwas cleverer. Sie sahen neben dem Gebären von Kindern und deren Aufzucht einen weiteren Nutzen in der Ehefrau. Sie heirateten, um ihren eigenen Status aufzuwerten. Sei es wegen des gesellschaftlichen Ansehens oder schlicht wegen des schnöden Mammons, der durch eine entsprechende Heirat vermehrt wurde. Glück für den, der beides miteinander vereinen konnte. Auch die römisch-antike Gesellschaft war durch und durch männlich geprägt. So etwas wie Liebe gab es in der Regel nur mit einer Geliebten, der gegenüber Mann keine Verpflichtung eingehen musste. Fraglich, ob es sich dabei tatsächlich um Liebe handelte oder um sexuelles Begehren.
Als sich der christliche Glaube in Europa verbreitete, war es vorbei mit der Luderei. Zwar gab es sie nun offiziell, die große, die einzige und wahre Liebe, aber die war Gott vorbehalten und rein asexueller Natur. Sexuelle Aktivitäten oder gar Leidenschaft für das andere Geschlecht gehörten von jetzt an zu den niederen Trieben, die es zu vermeiden galt. Die unbefleckte Empfängnis Mariens galt als Sinnbild dafür. Für Normalsterbliche war der Beischlaf allerdings noch immer unvermeidlich, wollte man nicht kinderlos bleiben. Um dem Sex aber auch ja keine Lust abzugewinnen, ließ man sich so manche Perversion einfallen. Gewalt war ein probates Mittel, um der Leidenschaft den Garaus zu machen – und um die Angetraute unter Kontrolle zu halten.
Für die Frauen hatte sich also seit der Antike nichts geändert. Ihr Leben war nach wie vor auf das Haus und die Kinder beschränkt. Rechte hatten sie keine, und der Zugang zur Bildung blieb ihnen ebenfalls verwehrt. Aber durch den christlichen Glauben war nun auch der Mann im Ausleben seiner Triebe eingeschränkt. Sexuelle Enthaltsamkeit gehörte zu den vielen Reglementierungen, die das Christentum bereithielt. Das klappte nicht immer sonderlich gut. Geschnackselt wurde trotzdem, aber im Verborgenen. Der liebe Gott kann schließlich seine Augen nicht überall haben.
Immerhin, etwa ab dem 11. Jahrhundert gab es zarte Triebe, die – zumindest auf geistiger Ebene – so etwas wie romantische Liebe erahnen ließen. Es waren die Troubadoure, die in ihren Minnesängen der Liebe huldigten und sie mit ihren Gesängen populär machten. Indes, die Ehe blieb eine Zweckgemeinschaft und war mit den Gesängen auch nicht gemeint. In den Minnesängen war der Mann aufgefordert, die Angebetete zu umschwärmen, ihr sein Leben zu Füßen zu legen, um zu hoffen, von ihr erhört zu werden. Angehimmelt werden, ohne etwas dafür tun zu müssen – eigentlich kein so schlechter Status, sollte man meinen. Dennoch: Frauen suchten die Sicherheit der Ehe. Ohne Mann und ohne den Status der Ehelichung waren sie in der Gesellschaft unsichtbar.
Etwas besser wurde es mit der Liebe, als sich eine bürgerliche Mittelschicht entwickelte. Das war um 1700. Nun wurde nach allen Regeln der Kunst umschmeichelt und verführt. Auch und gerade die Frau, die als Ehefrau infrage kam. Hier nimmt die Vorstellung von der romantischen Liebe ihren Anfang. Allerdings: Ernst genommen wurden Frauen immer noch nicht. Sie waren nach wie vor in allen Belangen des Lebens abhängig von Männern – ihrem Vater oder ihrem Ehemann.
Zwar hatten Frauen im 18. Jahrhundert die Möglichkeit, ihre Meinung kundzutun, allerdings nur über Gedichte oder Bücher, und das Geschriebene durften sie auch nur unter einem männlichen Pseudonym veröffentlichen. Inwieweit eine Frau Zugang zur Bildung hatte, entschieden der Vater oder der Ehemann. Wie die Entscheidung ausfiel, war weitgehend abhängig von der Bildung des Mannes. Ganz schlecht stand es immer noch um Frauen, die unverheiratet blieben. In den Augen der Gesellschaft war eine solche Frau zu nichts nutze. Entsprechend waren ihr Ansehen und ihre soziale Stellung. Von Emanzipation und Gleichberechtigung kann also keine Rede sein.
Wenn wir davon ausgehen, dass die bleibende Liebe unter anderem Respekt und Wertschätzung benötigt, kommen wir um die Gleichberechtigung allerdings nicht herum. Schlussendlich war es der Kapitalismus, der die Tür öffnete zur Emanzipation der Frau und zur Befreiung der Liebe von alten Dogmen und Zwängen, denn die Industrialisierung forderte von Frauen und Männern in gleichem Maße ihr geistiges und körperliches Potenzial. So trugen Frauen zunehmend zum Lebensunterhalt der Familie bei, wurden unabhängiger und selbstbestimmter. Plötzlich hatten sie ein Mitspracherecht, wem sie ihre Liebe schenkten. Aber das fand dann tatsächlich erst ab dem 19. Jahrhundert statt.
Alles, was sich vor dieser Zeit in einer Ehegemeinschaft abspielte, diente vorrangig dem Zweck der Fortpflanzung, der sozialen Stellung und dem politischen oder finanziellen Kalkül. Die Rollen waren klar definiert. Die Frau wusste, was von ihr erwartet wurde, und der Mann kannte seine Pflichten – aber auch seine Freiheiten.
Wenn man zu den Anfängen der Menschheit zurückgeht, liegt die Vermutung nahe, dass es die Frau war, die ein Interesse daran hatte, den Mann an sich zu binden, weil ihre eigenen Überlebenschancen und die ihrer Nachkommen dann deutlich höher waren. Der Mann wiederum war daran interessiert, so viele Nachkommen wie möglich zu zeugen, also viel Sex zu haben. Sex war damit ein probates Mittel, um den Mann an die Frau zu binden. Sex im Austausch gegen Schutz und Nahrung. Der Deal ging auf und wurde ein Erfolgsrezept für die Verbreitung unserer Spezies. Bei genauerer Betrachtung ist Sex auch heute noch ein Mittel, um den Mann an die Frau zu binden. Aber unser evolutionäres Erbe löst sich langsam auf. Ein Mann muss sich nicht an eine Frau binden, um seine sexuelle Lust zu befriedigen. Und eine Frau braucht keinen Mann mehr, um ihren Nachkommen Sicherheit zu bieten und sie mit ausreichend Nahrung zu versorgen. Das wiederum bedeutet, es gibt keine Notwendigkeit mehr für eine Partnerschaft. Und trotzdem sehnen sich die meisten Menschen nach einem Partner, der mit ihnen durchs Leben geht, der sie liebt und dem sie Liebe geben können.
Tatsächlich hatten wir noch nie in unserer Geschichte eine so realistische Chance auf die echte, die wahre Liebe. Wir dürfen sie leben, wann wir wollen, mit wem wir wollen und so lange wir wollen – sofern wir bereit sind, das Thema Liebe neu zu definieren.
In einem Zeitalter, in dem Realismus alle Bereiche des Lebens erfasst hat, kommen wir mit der romantischen Liebe nicht...