Jogi Löw greift nach dem 5. Stern
Nur zwei Weltmeister konnten ihren Titel bisher verteidigen. Das waren Italien 1938 und Brasilien 1962. Es ist also über 50 Jahre nicht mehr passiert. Noch nie wurde ein Confed-Cup-Sieger auch ein Jahr später Weltmeister. Und dennoch ist es das erklärte Ziel von Jogi Löw, erneut Weltmeister zu werden. Es ist die logische Ambition einer Generation, die gelernt hat, nach den Sternen zu greifen. Auch nach dem 5. Stern?
DER ERFOLGREICHSTE BUNDESTRAINER: Jogi Löw ist seit 2006 im Amt und aktueller Weltmeister-Trainer. Kein anderer holte so viele Siege wie der Mann aus dem Breisgau.
Das Ziel heißt Titelverteidigung
UNVERGESSENE CHAMPIONS: Die Weltmeister 2014 mit Kapitän Philipp Lahm und dem WM-Pokal.
Die Weltmeister gibt es nicht mehr.
Kapitän Philipp Lahm erklärte nach dem Finale von Rio ebenso seinen Rücktritt wie Rekordtorschütze Miro Klose und Abwehrrecke Per Mertesacker. Es folgten Bastian Schweinsteiger und Lukas Podolski. Kevin Großkreutz verdingt sich inzwischen in der 2. Liga bei Darmstadt 98, Mario Götze fiel mit einer rätselhaften Krankheit mehr als sechs Monate aus, André Schürrle und Benedikt Höwedes quälen sich mit Verletzungen durch die Saison und sind in ihren Klubs ebenso wenig Stammspieler wie Dortmunds Erik Durm.
Wenn Joachim Löw seinen Kader für die WM 2018 nominiert, werden die Karten neu gemischt. Natürlich bilden die Weltmeister nach wie vor wichtige Korsettstangen im Team des Bundestrainers. Manuel Neuer ist inzwischen zum Kapitän aufgestiegen, die Abwehr-Asse Hummels und Boateng sind eher besser als schlechter geworden. Toni Kroos hat sich zum Motor des deutschen Spiels entwickelt und durch zwei Siege in der Champions League (2016 und 2017 mit Real Madrid) in den Fußball-Olymp katapultiert. Auch Sami Khedira (inzwischen Juventus Turin) und Mesut Özil (immer noch Arsenal London) sind wohl unverzichtbare Stammkräfte. Aber das deutsche Team, das in der Qualifikation einen neuen Weltrekord aufstellte (30 Punkte, 43:4 Tore), wird ein neues, ein anderes Gesicht bekommen.
Es ist viel passiert seit dem Triumph von Rio.
Zum einen ist da die EM 2016 in Frankreich. Sang- und klanglos ging das Halbfinalspiel gegen den Gastgeber mit 0:2 verloren. Der Traum von Jogi Löw, nach der Welt- auch die Europameisterschaft zu gewinnen, war brutal ausgeträumt. »Wir haben die Lehren daraus gezogen«, sagte der Bundes-Jogi, nannte die fehlende Gier, die fehlenden Tormöglichkeiten, die fehlenden Anspiele in die Sturmspitze als mögliche Gründe und ließ den Worten Taten sprechen.
Da war der Sommer 2017, als er ein Perspektiv-Team zum Confed-Cup nach Russland schickte und völlig überraschend mit dem Titel zurückkehrte – ohne einen einzigen der Weltmeister. Gleichzeitig formte Ex-Europameister Stefan Kuntz, der 1996 in England den letzten Europatitel mit einer DFB-Auswahl holte, eine Nachwuchstruppe, die ebenso sensationell die U-21-Europameisterschaft gewann.
NEUER LINKSVERTEIDIGER: Der Kölner Jonas Hector hat sich auf der Position von Weltmeister Benedikt Höwedes festgespielt.
NEUER RECHTSVERTEIDIGER: Joshua Kimmich beerbte Philipp Lahm erst in der Nationalmannschaft, dann auch beim FC Bayern.
Plötzlich ist das Reservoir der Spieler, die in Russland Weltklasseniveau erreichen können, sprunghaft gestiegen. Jogi Löw hat die Qual der Wahl. Es spricht für ihn, seinen Ehrgeiz, seine Professionalität und seinen Fußballverstand, neue Reize zu setzen, neue Chancen auszuloten, neuen Talenten Perspektive zu geben. Denn auch Löw kennt die Gesetzmäßigkeiten:
– Noch nie hat ein aktueller Confed-Cup-Sieger anschließend auch den WM-Titel gewonnnen.
– Erst zweimal gelang eine erfolgreiche Titelverteidigung: 1938 Italien, 1962 Brasilien. Das alles ist längst verjährt.
Wenn er inzwischen auf die Favoritenrolle angesprochen wird, verweist er gerne auf andere: »Brasilien,« sagt er, »hat sich von dem 1:7-Schock längst erholt, ist Olympiasieger und hat eine tadellose Qualifikation gespielt. Frankreich hat sich weiter entwickelt und mit Griezmann, Pogba, Mbappé Weltklassespieler. Den Engländern traue ich viel zu, weil sie eine herausragende Nachwuchsarbeit leisten und in Harry Kane einen Toptorjäger haben.« Einmal im Fluss, kann Löw gar nicht aufhören, lobt die Belgier, die Spanier und vergisst auch Messis Argentinier nicht, obwohl die in der Qualifikation beinahe gestrandet wären.
Nein, der Weltmeister ist keine Übermannschaft, die den Weltfußball diktiert. Nein, Deutschland hat keinen Weltklassefußballer wie Ronaldo, Messi oder Neymar. Es bedarf einer Weltklasseleistung der gesamten Mannschaft, um wirklich den Titel verteidigen zu können. Erinnern wir uns an 2014, an den Zittersieg im Achtelfinale gegen Algerien, an das glückliche 1:0 im Viertelfinale gegen Frankreich, als Neuer kurz vor Schluss einen Schuss von Benzema aus dem Winkel kratzte. Oder an das Finale gegen Argentinien, als Higuain frei vor Neuer die Nerven versagten und Löw den Siegesjoker einwechselte, als Mario Götze die Sternstunde seiner Karriere erlebte und einen komplizierten Ball in technischer Perfektion acht Minuten vor dem Ende in die Maschen drosch.
Es bedarf des unbedingten Siegeswillens und eines unfassbaren Teamgeistes, um zu wiederholen, was 2014 gelang. Der fünfte Stern ist möglich, aber alles andere als sicher.
Wenn Jogi Löw, wie vor den letzten Turnieren auch, nach Südtirol bittet, um die Vorbereitung auf die Endrunde zu starten, werden sieggestählte und frustgebeutelte Akteure anreisen. Meister, Pokalsieger, Champions League-Sieger werden mit breiter Brust und enormem Selbstvertrauen antreten, andere vielleicht gedemütigt, frustriert, demoralisiert. Und dann bleibt auch die Frage, wer die Saison in Topform bestreiten und verletzungsfrei beenden kann. Trotz der großen Auswahl, auf die sich Löw berufen kann, sind einige Erfolgsgaranten unablässig für ein mögliches Siegerteam.
Ilkay Gündogan hat das Potenzial dazu, aber immer wieder Verletzungspech. Bisher konnte der Mittelfeldspieler, inzwischen bei Manchester City unter Vertrag, noch an keinem Turnier mit der DFB-Elf teilnehmen.
Das gilt auch für den Dortmunder Marco Reus, der sich im letzten Testspiel vor der WM 2014 so schwer verletzte, dass er ein halbes Jahr ausfiel. Auch den Pokalsieg 2017, seinen ersten Titel überhaupt, musste er teuer bezahlen und fehlte Dortmund die komplette Hinrunde. Nur bei der EM 2012 stand er im Kader, kam damals aber über die Rolle des Ergänzungsspielers noch nicht hinaus.
NEUER MANN AN DER SEITE DES BUNDESTRAINERS: Thomas Schneider ist als Nachfolger von Hansi Flick Assistenztrainer von Joachim Löw.
ZWEI, DIE SICH HOFFNUNG MACHEN: Lars Stindl und Sandro Wagner im neuen WM-Trikot
Da ist Mario Götze, der Held von Rio, der an einer mysteriösen Stoffwechselstörung leidet, die ihn ein halbes Jahr lang außer Gefecht setzte. Bleibt fraglich, ob der Dortmund-Heimkehrer wieder zu der Form findet, die ihn auch für Löw unverzichtbar macht.
Oder Manuel Neuer, der viermalige Welttorhüter, der sich gleich dreimal binnen eines Jahres den Mittelfuß brach und das Jahr 2017 als Seuchenjahr abhaken muss.
Werden sie fit? Kommen sie in Topform? Werden sie wieder so stark wie zuvor?
Es gibt andere, die zu Shootingstars werden können.
Joshua Kimmich etwa, Nachfolger, sowohl in der Nationalelf als auch bei den Bayern, von Weltklasseverteidiger Philipp Lahm, zeigt trotz seiner erst 23 Lenze Führungsqualitäten und trumpfte auch beim Confed-Cup groß auf, wo er sämtliche fünf Partien bestritt.
Oder Timo Werner, der sich beim Confed-Cup zum besten deutschen Stürmer entwickelte und aus der Hand von Diego Maradona als bester Torschütze ausgezeichnet wurde. Kann er das Niveau bestätigen? Hat er wirklich das Zeug, sich gegen internationale Klasseverteidiger durchzusetzen und die deutschen Spiele zu entscheiden?
Und dann ist da noch ein Typ wie Leroy Sané, der seine Confed-Cup-Teilnahme wegen einer Zahn-OP absagte, aber in der englischen Premier League unter den Fittichen von Pep Guardiola immer häufiger in die Rolle des Spielentscheiders schlüpft.
Kimmich ist 23, Werner 22, Sané auch erst 22, wenn die WM in Russland angepfiffen wird. Sind sie die kommenden Weltmeister?
DIE WELTMEISTER 2014
Tor
Manuel Neuer (Bayern München)
Roman Weidenfeller (Borussia Dortmund)
Ron-Robert Zieler (Hannover 96)
Abwehr
Jérôme Boateng (Bayern München)
Erik Durm (Borussia Dortmund)
Matthias Ginter (SC Freiburg)
Kevin Großkreutz (Borussia Dortmund)
Benedikt Höwedes (Schalke 04)
Mats Hummels (Borussia Dortmund)
Per Mertesacker (FC Arsenal)
Philipp Lahm (Bayern München)
Shkodran Mustafi (Sampdoria Genua)
Mittelfeld/Angriff
Julian Draxler (FC Schalke 04)
Mario Götze (Borussia Dortmund)
Sami Khedira (Real Madrid)
Miroslav Klose (Lazio Rom)
Christoph Kramer (Bor. Mönchengladbach)
Toni Kroos (Bayern München)
Thomas Müller (Bayern München)
Mesut Özil (FC Arsenal)
Lukas Podolski (FC Arsenal)
André Schürrle (FC Chelsea)
Bastian Schweinsteiger (Bayern München)
Die Ergebnisse
Portugal 4:0 (Tore: Müller 3, Hummels), Ghana 2:2 (Götze, Klose), USA 1:0 (Müller), Algerien 2:1 n.V. (Schürrle, Özil), Frankreich 1:0 (Hummels), Brasilien 7:1 (Müller, Klose, Kroos 2, Khedira, Schürrle 2), Argentinien 1:0 (Götze).
DER TRIUMPH VON RIO: Neben Kapitän Philipp Lahm haben inzwischen auch Miro Klose, Per...