«… eine dämonische Gewalt»
Unter den zahllosen Fotografien vom Redner Hitler gibt es eine, die äußerlich durch nichts von anderen unterschieden und dennoch voller Dramatik ist. Während er an diesem 8. November 1939 ruhig und gesammelt am Podium des Münchner Bürgerbräu-Saales steht und spricht, tickt in einer Säule hinter ihm das Uhrwerk einer Sprengladung.
Alljährlich verbringt der Putschist von 1923 am Ausgangspunkt seines Umsturzversuches, und zur nämlichen Zeit, einige Stunden mit den «Alten Kämpfern» in Bierdunst und Nostalgie. Dann gedenken sie gemeinsam seiner rauschhaften Redeerfolge, der Saalschlachten mit den «Roten» und des mühsamen Aufstiegs zur Macht – und wie sich dann alles so glanzvoll wendete … Vor sechzehn Jahren hatte der jetzige Festredner eine feierliche Versammlung in diesem Raum mit einem Pistolenschuss in die Decke gesprengt; das Signal zum Staatsstreich. Heute wird es lauter werden.
Der geliebte und gehasste Massenbeweger wurde mit den ausgefeilten Methoden deutscher Gründlichkeit normalerweise gut geschützt. In diesem vertrauten Kreis allerdings waren die Sicherheitsvorkehrungen gering. «In der Versammlung schützen mich meine Alten Kämpfer.» Mit diesem Argument hatte der alljährlich Gefeierte auf alle Vorsorge von Seiten der örtlichen Polizei und SS verzichtet. Sie hätten den berühmten Versammlungsort vor dem Auftritt des Führers vermutlich gründlicher überprüft. Die Veteranen des Marsches zur Feldherrnhalle begnügten sich mit flüchtigem Augenschein. Ein Attentäter, der den ritualhaften Ablauf des 8. November in Erfahrung zu bringen wusste, konnte sich darauf einstellen.
Der schwäbische Kunsttischler Georg Elser, Jahrgang 1903, einstiges Mitglied des Roten Frontkämpferbundes, aber ohne Auftraggeber ganz auf sich gestellt, besaß Umsicht, zielstrebige Geduld und handwerkliche Akkuratesse. Er machte Ernst mit seiner Überzeugung, dass das Münchner Abkommen vom September 1938 nur eine Station auf Hitlers Weg zum Kriege sei und der Diktator deshalb beseitigt werden müsse. Lange experimentierte er in seiner Werkstatt mit Uhrengehäusen und Sprengstoffzündern, bis er dann in dreißig bis fünfunddreißig Nächten von August bis November 1939 die dem Podium nächststehende Säule aushöhlte. Die im unteren Bereich umlaufende Holzverkleidung tarnte das geheime Werk. Den Zünder stellte er auf 21.20 Uhr ein. Zu diesem Zeitpunkt musste Hitler, der üblicherweise mindestens anderthalb Stunden sprach, mitten in seiner Rede sein.
Aber das Wetter durchkreuzte die Kalkulation. Die Vorhersage am 8. November ließ befürchten, dass Hitlers Flugzeug am nächsten Vormittag nicht nach Berlin werde starten können. Dort sollte aber der schon mehrfach verschobene Beginn des Westfeldzuges festgelegt werden. Daher setzte sich eine Ordonnanz mit der Reichsbahn in Verbindung, um Hitlers Salonwagen an den fahrplanmäßigen Zug um 21.31 Uhr anhängen zu lassen. Hitler legte seine Rede auf kürzere Dauer an, auf eine knappe Stunde, beginnend um zehn nach acht.
Während der Redner die Engländer beschimpft wegen des ihnen angelasteten Krieges und mit erhobener Stimme versichert, dass Deutschland eine Armee aufgebaut habe, wie es eine bessere auf der Welt nicht gebe, wird Elser beim Versuch, in die Schweiz zu gelangen, von deutschen Zollbeamten festgenommen. Unterdessen schiebt der Adjutant Schaub seinem Führer immer dringlichere Mahnungen zu, die Rede zu beenden. Es ist wie ein untergründiger Wettlauf zweier Uhren: der Elser-Uhr und der Bahnhofsuhr. Die zweite gewinnt. Hitler beendet die Ansprache unter Ovationen, die zwei Hymnen – Deutschlandlied und Horst-Wessel-Lied – werden stehend angehört, Hände werden geschüttelt, erneut Arme gereckt – dann hat Schaub die Hauptperson des Abends endlich an der Saaltür: um 21.12 Uhr.
Acht Minuten später – noch ist die Autokolonne auf dem Weg zum Bahnhof – zerreißt eine Explosion die Feierstimmung. Der Anschlag zerstört den Saal. Acht Tote und dreiundsechzig Verletzte liegen zwischen den Trümmern. Bei der Ankunft in Nürnberg erfährt Hitler erste Einzelheiten. «Jetzt bin ich völlig ruhig!», ruft er aus. «Daß ich den Bürgerbräukeller früher als sonst verlassen habe, ist eine Bestätigung, daß die Vorsehung mich mein Ziel erreichen lassen will.»
An der Ostfront war die Katastrophe von Stalingrad vorüber. Die Bemühungen der Gegner Hitlers, ihn auf seinem Wege des Unheils und Verbrechens aufzuhalten, wurden umso aussichtsreicher, je mehr Deutschland in die militärische Defensive geriet. Den Diktator zu stürzen, dieser Wille entsprang nicht erst der Einsicht in den unausweichlichen Zusammenbruch; er war sogar älter als der Krieg selbst. Nur sind Zeiten der Triumphe kein günstiges Klima für Putsch oder Attentat, eher der Nährboden für Verratslegenden. So hatte die Fronde gelähmt abwarten müssen, bis die Kriegserfolge umschlugen in Dauerabwehr und Rückzug.
Koordinator des militärischen Widerstandes war Henning von Tresckow, 1. Generalstabsoffizier («Ia») der Heeresgruppe Mitte. Auf einem Spaziergang mit einem Vertrauten sagte er einmal, plötzlich innehaltend: «Ist es nicht ungeheuerlich, daß sich hier zwei Obersten im Generalstab der deutschen Armee darüber unterhalten, wie sie am besten das Staatsoberhaupt umbringen können? Und doch ist es die einzige Lösung, um das Reich und das deutsche Volk vor der größten Katastrophe in ihrer Geschichte zu retten.» Tresckow ersann Anfang 1943 den Plan, Hitler hierher ins Heeresgruppen-Hauptquartier westlich von Smolensk einzuladen und ihn dadurch Umständen auszusetzen, die für einen Attentäter kalkulierbarer waren als im Führerhauptquartier. Den maßgeblichen Befehlshaber, Feldmarschall von Kluge, konnte er für die Einladung gewinnen, und Hitler sagte zu.
Kluge wusste von Tresckows unbeirrbarer Gegnerschaft, die er duldete; doch Anschläge innerhalb seines Befehlsbereiches lehnte er ab. So entfiel die sonst realisierbare Möglichkeit, den Obersten Befehlshaber durch die schon länger bereitgestellte Kavalleriebrigade des Freiherrn von Boeselager, eines hochdekorierten Haudegens und Mitverschworenen, festnehmen zu lassen.
Tresckow hatte sich daher auf eine andere Gewalttat vorbereitet: auf ein Bombenattentat im Flugzeug. Zusammen mit seinem Ordonnanzoffizier Fabian von Schlabrendorff, der unter Glücksumständen überlebte und von diesen Vorgängen 1946 als Erster berichtete, hantierte er lange mit englischen Zündern, die ohne verräterisches Zischen arbeiteten, und war schließlich mit den Versuchsergebnissen zufrieden.
13. März 1943: Nach den üblichen Besuchsankündigungen und Widerrufen, diesem in der Truppe allgemein bekannten und ernstlich kaum wirksamen Sicherungsritual, erscheint Hitler mit mächtigem Gefolge einschließlich Leibarzt und Koch; dieser muss gesonderte Gerichte zubereiten, jener sie vor seinem Patienten kosten. Während der Mittagstafel im größeren Kreis, nach den Besprechungen zwischen Hitler, Kluge, den Armeeführern und Stabschefs der Heeresgruppe, fragt Tresckow den Oberst Brandt aus dem Begleitkommando des Besuchers, ob er ein Päckchen mit zwei Flaschen Cognac für Oberst Stieff im Oberkommando des Heeres mitnehmen könne. Brandt sagt zu und empfängt die als Getränk getarnte Bombe mit eingestelltem Zünder unmittelbar vor dem Abflug aus den Händen Schlabrendorffs. Kurzer Abschied, die Focke-Wulf Condor startet, kurz danach die zweite Maschine mit dem restlichen «Hofstaat».
Die beiden Attentäter haben den Mechanismus so eingestellt, daß die Sprengladung nach dreißig Minuten detonieren müsste. In fiebernder Spannung erwarten sie die Absturzmeldung. Nach zwei Stunden, lange über den berechneten Zeitpunkt hinaus, trifft die Nachricht ein, dass der Führer in seinem ostpreußischen Hauptquartier bei Rastenburg gelandet sei. «Wir befanden uns in einer großen Erregung.» Der Leser von Schlabrendorffs Schilderungen kann es nachempfinden. Denn Stieff, wenngleich Hitler-Gegner, gehörte noch nicht zum Verschwörerkreis. Unter welchen Umständen würde er ahnungslos das falsch deklarierte «Geschenk» öffnen? Sein unvorgesehener Tod hätte zugleich die Verschwörung aufgedeckt. Tresckow bat Brandt telefonisch, die Sendung nicht auszuhändigen, eine Verwechslung sei unterlaufen. Schlabrendorff reiste, nachdem der Anruf das Verhängnis gerade noch hatte aufhalten können, nach Ostpreußen, überbrachte wirklichen Cognac, nahm den unechten mit und stellte beim Öffnen im Zugabteil fest, daß die Zündung versagt hatte, wohl aufgrund explosionshemmender Temperaturen in der Luft.
Eine neue Gelegenheit ergab sich schon acht Tage später. Hitler wollte anlässlich des Heldengedenktages am 21. März wieder im Berliner Zeughaus sowjetisches Beutegut besichtigen, diesmal zusammengestellt von der Heeresgruppe Mitte. Deren Abwehroffizier Oberst Freiherr von Gersdorff sollte beim Rundgang die Erläuterungen geben. Tresckow fasste diese Personenwahl als Wink des Schicksals auf , weihte seinen Generalstabskollegen in die Verschwörung ein und gewann ihn zum Mitmachen, mehr noch: Gersdorff fand sich zum persönlichen Opfer bereit. Er wollte einen Sprengstoffzünder mit kürzestmöglicher Laufzeit – zehn Minuten – in seiner Seitentasche auslösen, um sich zum erwarteten Explosionszeitpunkt in nächster Nähe des zu Tötenden aufzuhalten.
Am Morgen des 21. März 1943, einem Sonntag, übergibt Schlabrendorff dem Attentäter im Berliner Hotel Eden den Sprengstoff. Es sind die nicht explodierten englischen Haftminen des Typs...