2. Der vorparlamentarische Raum
In den Ländern mit parlamentarisch-demokratischer Staatsform spiegeln die Abstimmungen im Parlament unverkennbar alle jene Einflüsse wider, die von den Parteien, den Berufs- und Standesvertretungen, den Verbänden und Gruppen, den Organisationen und einzelnen Interessenten in einem ununterbrochenen Prozeß der offenen und geheimen Mitwirkung an der politischen Willensbildung ausgehen, ganz abgesehen von den vielerlei Stimmen in der eigenen Brust des Abgeordneten als Mitglied seiner Familie, seiner sozialen oder landsmannschaftlichen Gruppe, seiner Kirche oder doch wenigstens seiner Generation. Der Prozeß der Willensbildung vollzieht sich über ein System ‹differenzierter Gruppenfilter›, wie man es genannt hat; ‹die Verbindung zwischen dem politisch mündigen Volk und der durch Wahlakte und Gruppen-Ausleseprozesse sich bildenden Spitzenführung in Parlament und Regierung wird … hergestellt durch ein nach beiden Seiten hin mächtiges System politischer Parteien, ferner durch Interessenverbände und Führungsmittel der öffentlichen Meinung. Der Prozeß der politischen Willensbildung ist ohne diese Organisationsfilter der Meinungsbildung nicht denkbar, der pluralistische Grundzug dieses Demokratietypus daher unverkennbar›.
Die Gesamtheit dieser schwer zu beschreibenden, vielfach im geheimen wirkenden und nach Richtung und Stärke mannigfach wechselnden Einflüsse auf die politischen Entscheidungen im Parlament wird mit einem anschaulichen Bild als ‹außerparlamentarischer› oder ‹vorparlamentarischer Raum› bezeichnet; zum Verständnis der treibenden Kräfte, die an dem Prozeß der finanzpolitischen Meinungs- und Willensbildung mitwirken, ist ein Blick auf das geschäftige Treiben unerläßlich, das sich in diesem Raum entfaltet.
Die Parteien
Im Vordergrund des vorparlamentarischen Raumes agieren die politischen Parteien, die nach Art. 21 des Grundgesetzes ‹bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken›. Die Organisation der öffentlichen Meinung in Parteien gilt heute allgemein als notwendiger Bestandteil jeder großräumigen Demokratie, die sich nicht mehr auf die tägliche oder häufige Befragung ihrer einzelnen Staatsbürger stützen kann: ‹Das Prinzip der Repräsentation mußte durch den Konflikt der Parteien belebt werden. Wenn bedeutende Parteien entstanden sind, ist in der Tat aus einer vordemokratischen Form der repräsentativen Regierung eine wahrhaft demokratische geworden.›
Mittels der Parteien formen sich die Staatsbürger zu politischen Gruppen, die in den Wahlen und Volksabstimmungen einem einheitlichen Willen Ausdruck verleihen; die Parteien nominieren die Kandidaten für das Parlament und bestimmen nach Ablauf der Wahlperiode, ob der Abgeordnete erneut zur Wahl aufgestellt wird oder nicht. Infolgedessen besitzt die ‹Parteimaschine›, wie man den Apparat der Parteiorganisation mit ihrer eigenen Presse, ihren Ortsgruppen und Bezirksstellen, ihren Wahlfonds und Versammlungen häufig genannt hat, in den meisten älteren Demokratien beträchtlichen Einfluß auf die Haltung der einzelnen Abgeordneten und ihre Fraktionen im Parlament; bekannt ist die mächtige ‹Tammany Hall›, die Parteimaschine der Demokraten in der Stadt New York, die jahrzehntelang hinter den Kulissen der Kommunalverwaltung die eigentliche politische Macht in Händen hielt.
Das Wesen der Parteien wird in der Tat eher in ihrem Kampf um die politische Macht als in ihren sachlichen Zielen oder gar in ihren proklamierten Programmen sichtbar; MAX WEBER hat darauf aufmerksam gemacht, daß ‹Zurücksetzungen in der Anteilnahme an den Ämtern› von den Parteien regelmäßig schwerer empfunden werden als alle Zuwiderhandlungen gegen ihre sachlichen Ziele. Die Partei ist stets ein um Herrschaft kämpfendes Gebilde; es geht ihr nicht um die Sache, sondern um ihren Anteil an der Macht, ‹zum mindesten um politischen Einfluß auf die politische Willensbildung des Staates›. Besonders sinnfällig kommt diese Dynamik der politischen Machtkämpfe im Zweiparteiensystem der Vereinigten Staaten zum Ausdruck, wo ursprünglich nach dem Prinzip ‹Dem Sieger die Beute› der Sieg einer Partei sowohl in den Präsidentschaftswahlen wie in den zahlreichen Wahlen und Abstimmungen der Kommunalpolitik gleichbedeutend mit der Neubesetzung fast sämtlicher Beamtenstellen bis herab zum letzten Briefträger war; noch heute bietet in der Kommunalsphäre, wo das System der Stellenvergebung nach politischen Rücksichten weitgehend aufrechterhalten geblieben ist, jeder Wahlsieg der jeweils erfolgreichen Partei die große Chance, zugunsten ihrer Anhänger über die lukrativen Pfründen und Futterkrippen fast aller Ressorts der Stadtverwaltung zu verfügen, da nach dem geltenden Wahlrecht ein Sieg mit noch so geringer Mehrheit der unterliegenden Partei jeden Anspruch auf Mitwirkung an der Verwaltung nimmt. Ist auch dieses ‹Beutesystem› in der Staats- und Bundesverwaltung inzwischen weitgehend durch das Prinzip des Berufsbeamtentums abgelöst worden, so ist doch damit der Einfluß der ‹Parteimaschine› noch keineswegs beseitigt; auch in dem klassischen Lande der parlamentarischen Demokratie, in Großbritannien, gelten die Parteien als die eigentlichen Träger der politischen Macht.
Interessengruppen und -verbände
Neben und hinter den politischen Parteien entwickelte sich in allen modernen parlamentarischen Staaten das Spiel der Interessengruppen und -verbände. Unterirdische Interesseneinflüsse auf die Entscheidung gemeinschaftlicher Fragen gibt es von jeher; schon die römischen Senatoren hatten sich ihrer Klientel zu erwehren, die panem et circenses von der Obrigkeit forderte. Wer auf politischem Wege materielle Interessen geltend machen will, was an sich in der Demokratie keineswegs zu beanstanden ist, wird leicht versucht sein, sich undurchsichtiger Mittel und verborgener Beziehungen zu bedienen, anstatt offen an die Entscheidung der gesetzgebenden Instanzen zu appellieren; nur in seltenen Fällen kommt es zu offenkundigen Druckmitteln wie dem Generalstreik oder dem Bau von Barrikaden. Im Sommer 1952 ließ der Schutzverband der französischen Weinbauern zahlreiche Durchgangsstraßen durch regelrechte Barrikaden sperren, um dadurch die Subventionswünsche seiner Mitglieder beim Parlament durchzusetzen; auch in der Bundesrepublik Deutschland haben wir die organisierte ‹Sternfahrt nach Bonn›, den ‹Schweigemarsch durch die Straßen Bonns› und den Druckerstreik als politisches Druckmittel bereits kennengelernt.
Die ‹unsichtbare Regierung› der parlamentarischen Korridorgespräche, der nützlichen Beziehungen und unterirdischen Einflüsse großer und mächtiger Interessengruppen auf Regierung und Parlament ist besonders in den Vereinigten Staaten als politisches und soziologisches Problem erkannt und erforscht worden; die gleiche Erscheinung macht sich jedoch von jeher auch in allen anderen parlamentarischen Demokratien bemerkbar. Kennzeichnend dafür sind die in vielen Sprachen anzutreffenden Bezeichnungen für diesen Winkel des vorparlamentarischen Raumes; die ‹Lobby› (Wandelhalle) in diesem Sinne heißt ‹Korridor›, ‹Couloir› oder ‹Salle des pas perdus›, ‹Third House› oder ‹Dritte Kammer›, ihre Akteure werden als ‹Pressure groups› oder gar als ‹Masseure› der Abgeordneten und der Regierungsbeamten bezeichnet. Wenn MIRKO KOSSITSCH von der amerikanischen Demokratie geradezu als von einer Arena egalitärer, emotional beschwingter Interessengruppen im Gedränge um die Schalthebel der Staatsmaschine spricht, so ist damit die Einflußnahme der ‹Lobbies› auf Gesetzgebung und Verwaltung gemeint, die sich in persönlichen Fühlungnahmen, organisierten Brief- und Telegrammaktionen und auf tausend anderen Wegen bis zur mehr oder weniger ungenierten politischen Korruption vollzieht.
Die Steuer-Lobby
Daß Interessenteneinflüsse auf Regierung und Parlament gerade in Steuer- und Finanzfragen kräftig zur Geltung kommen, liegt in der Natur der Sache. ‹Rund 40 Monate westdeutschen Parlamentarismus’ haben dargetan, daß insbesondere in Steuerfragen die Wirksamkeit der Interessierten oder Betroffenen häufig größer war als jede noch so sorgfältig durchdachte und auf ein allgemeines Wohl abgestellte Arbeit des Finanzministers. Der ‚vorparlamentarische Raum‘ hat nicht nur an Breite, sondern auch an Kraft des Einflusses gewonnen; man denke an die Versuche der Gewerkschaften, politische Entscheidungen mit den Mitteln des Streiks zu erzwingen oder vorzubereiten.› Um bestimmte Steuerpläne der Regierung abzubiegen, übernahm ein Gemeinschaftsausschuß der deutschen gewerblichen Wirtschaft, dessen Vorstand unter anderem die Vorsitzenden des Deutschen Industrie- und Handelstages, des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels, des Gesamtverbandes des Deutschen Groß- und Einzelhandels und des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks angehörten, die Ausarbeitung des Investitionshilfegesetzes zugunsten der Grundstoffindustrien, dessen Entwurf über die Regierung dem Parlament zur Beratung und Beschlußfassung vorgelegt wurde; der ‹vorparlamentarische Raum› hat mit dieser selbständigen Gesetzesinitiative seinen endgültigen Eintritt in die Arena der politischen Gewalten...