THEMA
Grabmal des Nacht, Theben (Ägypten), 15. Jh. v. Chr.
Musik als soziale Praxis
oder: Ist/macht Musik sozial?
Sarah Chaker
Musik ist ihrem Wesen nach eine gesellschaftliche Praktik. Selbst, wenn wir alleine Musik ausüben oder konsumieren, büßt sie nichts von ihrem sozialen Charakter ein. Ergebnisse der Transferforschung zeigen Zusammenhänge zwischen musikalischen Umgangsweisen und menschlichem Sozialverhalten auf und erhellen u. a. die Frage, ob sich Musik positiv auf die Ausbildung sozialer Kompetenzen (insbesondere bei Heranwachsenden) auswirkt.
Keine Frage: Musik ist ein grundsätzlich soziales Phänomen. Schon Anfang der 1950er-Jahre verwies Alfred Schütz in seinem Aufsatz Making Music Together auf die zahlreichen »hidden social references«1, die zum Tragen kommen, wenn Menschen Musik komponieren, interpretieren, sich aneignen – kurz: mit Musik umgehen. Am Beispiel eines erfahrenen Klavierspielers, der sich eine ihm bis dato unbekannte Sonate aus dem 19. Jahrhundert erschließt, arbeitet Schütz heraus, dass dieser Prozess nicht in einem Vakuum stattfindet, sondern unter Einbezug kontextuellen musikalischen Vor- und Sonderwissens, über das der Pianist verfügt, wobei dieses Spezialwissen – wie jede Form des Wissens – sozial erprobt und abgeleitet sei.2 Das Soziale sei im Akt des Musizierens insofern enthalten, als der Interpret mit seinem
»stock of experience refers indirectly to all his past and present fellow men whose acts or thoughts have contributed to the building up of his knowledge. This includes what he has learned from his teachers, and his teachers from their teachers; what he has taken in from other players’ execution; and what he has appropriated from the manifestations of the musical thought of the composer.«3
Auch wenn das spezifische Musikstück dem Pianisten unbekannt sei, sei ihm – noch bevor er die erste Taste anschlage – aufgrund seiner musikalischen Vorerfahrungen bereits klar, wie die Klaviersonate in etwa zu spielen sei, um zu einer »angemessenen« (d. h. sozial anerkannten) Interpretation des Werks zu gelangen. Auch das Publikum und seine Erwartungshaltungen sind so in seinem Spiel bereits mitgedacht.
Dass der von Schütz beschriebene Klavierspieler alleine vor sich hin übt, ändert dabei nicht das Geringste an der prinzipiell sozialen Verfasstheit seines Tuns. Wie Tasos Zembylas korrekt anmerkt, werden künstlerische Praktiken (so auch musikalische) zwar
»individuell vollzogen, aber sie weisen keinen genuin individuellen Charakter auf. Zu insistieren, dass Praktiken kollektiv geteilt sind, bedeutet, sie als soziales, gemeinschaftliches Phänomen zu definieren.«4
Das bisher Gesagte gilt nicht nur für MusikinterpretInnen, sondern im Grunde für alle Menschen, die sich auf irgendeine Weise mit Musik befassen. Der Metal-Fan etwa, mag er nun allein im stillen Kämmerlein oder auf einem Konzert gemeinsam mit anderen zum Klang seiner Lieblingsmusik headbangen oder Luftgitarre spielen, vollzieht in seinem Tun einen sozialen Akt im Sinne von Schütz, indem er im Moment der Musikaneignung körperlich und mental nacherlebt und -fühlt, was andere vor ihm (und für ihn) erdacht haben. Hierbei nimmt er auf Fertigkeiten und Spezialwissensbestände Bezug, die er von anderen Menschen und damit sozial erworben hat: Wie man zu Metal tanzt, wie man (Luft-)Gitarre spielt usw. lässt sich innerhalb dieser »kleinen sozialen Lebenswelt«5 u. a. auf den Events der Szene oder in Musikclips auf YouTube studieren. Auch tanzt er nie nur für sich allein, da ihn stets ein Publikum umgibt – sei es nun tatsächlich physisch präsent oder nur imaginiert.
Klavierspielen basiert auf sozial erprobtem Wissen, das zu »angemessenen« Interpretationen führt. Pierre-Auguste Renoir, Jeunes filles au piano, 1892, Musée d’Orsay.
Auch KomponistInnen agieren nach Schütz in ihrem Schaffen grundsätzlich sozial, indem sie sich an den zum gegebenen Zeitpunkt verfügbaren Musiken und Techniken (noch lebender oder bereits verstorbener) Vorbilder orientieren. Musikstücke sind für Schütz nichts anderes als manifest gewordener Ausdruck musikalischer Gedanken mit einem »communicative intent«6. Haben die musikalischen Ideen eines Menschen einen Weg in die »äußere Welt« gefunden – etwa über Notate, Klangaufzeichnung etc. –, beginnen sie dort ein vom Urheber unabhängiges Eigenleben zu führen.7 Dies impliziert, dass ein Mensch in seinem Umgang mit einem Musikstück (sei es als Aufführende, TänzerIn, HörerIn etc.) zu Ausdeutungen gelangen kann, die vom Autor so nicht intendiert waren – mitunter sehr zum Missfallen desselben.
Im Hinblick auf die prinzipiell soziale Verfasstheit von Musik sind die jeweiligen individuellen Auslegungen jedoch von eher nachrangiger Bedeutung – entscheidend ist vielmehr, dass ein Musikstück Menschen zu sozialer Interaktion und Deutung anzuregen vermag; hierüber werden laut Schütz der/die SchöpferIn und die mit dem Musikstück auf welche Weise auch immer Befassten (zwangsläufig) sozial miteinander verbunden:
»Although separated by hundreds of years, the […] [beholder] participates with quasi simultaneity in the […] [composer’s] stream of consciousness by performing with him step by step the ongoing articulation of his musical thought. The beholder, thus, is united with the composer by a time dimension common to both.«8
Aus den bisherigen Ausführungen wird deutlich: Musik ist per se sozial. Wer mit Musik umgeht, agiert sozial. Das heißt auch: Während man mit Musik umgeht, mag man alleine sein, einsam ist man nicht – ein Umstand, der vielleicht (mit) den Zauber erklärt, den Musik für viele Menschen besitzt.9
Auch das Headbangen im stillen Kämmerlein ist ein sozialer Akt.
Eine andere Frage ist, ob sich aus der Tatsache, dass Musik eine grundsätzlich soziale Praxis darstellt, die Annahme ableiten lässt, Musik wirke sich positiv auf das menschliche Sozialverhalten aus. Macht Musik uns also sozial(er) – und damit gleichsam zu besseren Menschen?
Aus wissenschaftlicher Sicht scheint sich ein solcher Kausalzusammenhang derzeit eher nicht halten zu lassen. Nach kritischer Sichtung der einschlägigen Forschungsliteratur kommt Eckart Altenmüller zu dem Schluss, dass es zwar
»Hinweise auf eine zumindest kurzfristige leichte Steigerung kognitiver und emotionaler Fertigkeiten durch Musizieren [gibt]. Nicht kausal bewiesen sind langfristige Effekte und Effekte auf das Sozialwesen.«10
Heiner Gembris kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: »Transfereffekte [von Musik] auf andere Persönlichkeitsbereiche sind keine automatische oder zwangsläufige Folge musikalischer Aktivitäten«11, fügt aber hinzu:
»Die Idee der persönlichkeitsfördernden Wirkungen musikalischer Aktivitäten hätte sich in der Geschichte nicht so lange gehalten, wenn sie unbegründet und substanzlos wäre. […] Alltagserfahrungen von […] LehrerInnen und Praxisberichte zeigen, dass musische Aktivitäten durchaus zu Veränderungen im Sozialverhalten führen können.«12
Auch Altenmüller betont, dass die momentan vorliegenden, eher ernüchternden Forschungsergebnisse »nicht im Umkehrschluss als Argument gegen die Bedeutung von Musikerziehung für die kognitiven Fertigkeiten und die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen eingesetzt werden«13 sollten.
Der Zusammenhang zwischen Musikerziehung und Persönlichkeitsentwicklung ist wissenschaftlich nur schwer nachweisbar. Suzuki-Violingruppe im Konzert. Bild: Stilfehler/wikimedia.org
Dass die wissenschaftliche Erhellung der (wie auch immer gearteten) Zusammenhänge zwischen musikalischen Umgangsweisen und menschlichem Sozialverhalten bisher kaum gelang, verweist auf verschiedene Problemlagen, mit der die sogenannte Transferforschung konfrontiert ist. Allein schon eine überzeugende Operationalisierung der einzelnen Variablen stellt eine immense Herausforderung dar. Welche Handlungsweisen sind zum Beispiel mit »sozial kompetentem Verhalten« konkret in Verbindung zu bringen – und wie lassen sich die einmal identifizierten Items überhaupt angemessen beobachten und messen, sodass ihre Überführung in ein Testinstrument Sinn macht? Welche Tätigkeiten umfasst der Bereich des »Musikmachens«? Wäre – im Sinne von Schütz – nicht auch das Hören von Musik als Teil des aktiven Umgangs mit Musik zu begreifen und dementsprechend in die Erhebung zu integrieren? Wie sieht es mit dem inneren Nachvollzug von Musik, wie mit dem Nachdenken über selbige aus – und wie ließen sich die genannten Verhaltensweisen wissenschaftlich dokumentieren, sind diese der unmittelbaren Beobachtung doch nicht ohne Weiteres zugänglich? Darüber hinaus: Wie bringt man die schon jeweils für sich genommen hochkomplexen Messinstrumente in einen sinnvollen Zusammenhang, um letztendlich Transfereffekte nachweisen zu können? Eine weitere Schwierigkeit betrifft die zeitliche Dimension – was kann man etwa mit den Mitteln und Methoden, die den Wissenschaften derzeit zur Verfügung stehen, »über die Späteffekte, die frühe Musikerziehung im Erwachsenenalter erzeugen kann, was über die Einflüsse auf die Lebensqualität«14 erfahren?
Auch das Hören kann als aktiver Umgang mit Musik begriffen werden. »The Edison-Phonograph«, Werbepostkarte der National Phonograph Company, New Jersey, 1905.
Zu überlegen wäre auch, anhand welcher konkreten Musikformen...