Über Jahrtausende haben sich die Sinne des Pferdes seiner Umwelt perfekt angepasst. Als Fluchttiere verfügen sie über eine Art der Wahrnehmung, die man sich kaum vorstellen kann. Alle Sinnesorgane sind darauf ausgerichtet, jede Gefahr frühzeitig wahrzunehmen und entsprechend darauf reagieren zu können. Die Verwendung als Reittier und die heutigen Haltungsbedingungen verlangen den Pferden Dinge ab, bei denen genau diese geschärften Sinne ungünstig sind, Daraus resultiert nicht selten ein Dauerstress für das Pferd.
Für jeden Pferdebesitzer ist es wichtig, sich mit dieser „anderen Welt“, in der Pferde leben, zu beschäftigen, damit man ein Verständnis für angeblich „merkwürdige“ Verhaltensweisen entwickelt. Weiterhin ist es wichtig, das Pferd durch gezieltes Training auf das Leben mit dem Menschen vorzubereiten.
Umgang mit Reizen
Es gibt meines Erachtens nur drei Möglichkeiten, wie ein Pferd mit Reizen umgeht, unabhängig davon, ob es sich um visuelle, akustische oder taktile (durch Berührung wahrgenommene) Reize handelt.
1. Starke Reize lösen bei einem Pferd normalerweise Flucht oder Kampf (siehe Kapitel „Distanz“) aus. Jeder von uns kennt die Tüte im Gebüsch, vor der unser Pferd wegläuft. Dieses Fluchtschema ist für das Beutetier Pferd lebensnotwendig, für den Reiter jedoch generell eher unangenehm.
2. Wenn die Reizschwelle so hoch ist, dass dieser Fluchtreflex nicht mehr ausgelöst wird, spricht man von Gewöhnung. Dazu gehört allerdings die „Nicht-Reaktion“ des Pferdes auf den Reiz. Falls Ihr Pferd immer wieder vor einer bestimmten Sache wegläuft, kann es auch passieren, dass Ihr Pferd im Weglaufen besser wird und sich eben nicht an den Reiz gewöhnt und stehen bleibt. Das Fluchtschema bleibt jedoch bei der Gewöhnung an den Reiz vollständig erhalten, und die Reizschwelle muss nur hoch genug sein, damit Ihr Pferd wieder flüchtet. An der Grundlage hat sich somit nichts geändert.
3. Die für mich erstrebenswerteste Form der Reizverarbeitung ist die sogenannte Operante Konditionierung. Hierbei wird ein Pferd darauf trainiert, auf einen Reiz „bewusst“ zu reagieren. Dieser Lernprozess bildet ein eigenes Muster, welches das Fluchtmuster immer mehr überdecken kann.
Um ein gutes Gebrauchspferd zu bekommen, ist es wichtig, ihm beizubringen, sowohl auf die Hilfen als auch auf äußere Reize richtig zu reagieren. Zu theoretisch?
Nehmen wir das seitwärts treibende Bein als Beispiel.
Wenn das Pferd auf diesen Reiz nicht reagiert, nennt man das in Reiterkreisen „abgestumpft“. Ein vor dem Bein flüchtendes Pferd ist ebenfalls nicht die optimale Lösung für den Reiter, wobei Sie sich wahrscheinlich wundern würden, wie viele Pferde, sogar manche bis in die hohen Klassen ausgebildete, schenkelflüchtig sind. Allerdings nennt man das dann „fleißig“...
Im Idealfall reagiert das Pferd auf den Schenkel mit einem Ausweichen zur Seite – eine Reaktion ohne jeglichen Fluchtgedanken, denn Pferde flüchten fast immer nach vorn, wenn der Weg nicht blockiert ist (indem der Reiter zum Beispiel am Zügel zieht).
In Bezug auf die Gelassenheit sollte man dem Gesichtssinn des Pferdes und der Frage, wie es auf visuelle Reize reagiert, besondere Bedeutung zumessen.
Pferde haben einen vorderen Sehbereich, in dem beide Augen die gleichen Informationen erhalten. Im seitlichen Sehbereich kann das Pferd jedoch nur mit einem Auge Dinge wahrnehmen. Das Bild, das zum Beispiel mit dem linken Auge aufgenommen wird, steht dem anderen Auge nur zu etwa zehn Prozent zur Verfügung. Sieht ein Pferd nun den gleichen Gegenstand mit dem rechten Auge, ist dieser aus seiner Sicht etwas Neues, das eine mögliche Gefahr darstellen könnte (zumal sich das Objekt ebenfalls vor einem anderen Hintergrund befindet).
Bei unbekannten Reizen zeigen die Pferde dann oft das Sicherungsverhalten, das heißt sie versuchen das Objekt mit beiden Augen zu betrachten. Reize im rechten Gesichtsfeld lösen dabei meistens eher Sicherungsverhalten aus als Reize im linken.
Sehbereich des Pferdes
Dieser Unterschied ist in der Natur kein Hindernis, das Pferd kann den Kopf immer so drehen, dass es mit beiden Augen die vermeintliche Gefahr untersuchen kann. Problematisch wird dies erst, wenn ein Pferd in Anlehnung oder mit Ausbindern geritten wird, sodass es nicht die Möglichkeit hat, den Kopf zu drehen.
Es wird dann versuchen, zu diesem Objekt mehr Abstand zu gewinnen, loslaufen oder seitlich ausweichen wollen. Die Anlehnung geht verloren, wenn das Pferd seine Kraft einsetzt, um das richtige Auge benutzen zu können. Dieses vom Menschen oft als Widersetzlichkeit gedeutete Verhalten hat es dem Pferd ermöglicht zu überleben, es ist genetisch verankert. Wir alle haben vermutlich schon Pferde gesehen, die an der Longe ständig von der rechten auf die linke Hand wechseln wollen. Doch nicht nur das Training des einzelnen Auges ist sehr wichtig, besondere Beachtung ist auf das „Wechseln“ des Auges zu legen.
Jedes Pferd hat im Blickfeld „blinde“ Bereiche, in denen es nichts sieht. Diese befinden sich hinter dem Pferd, direkt über und unter
ihm sowie direkt vor ihm. „Wechsel“ des Auges bedeutet, dass ein Objekt (oder der Mensch) aus dem einen Augenbereich in den toten Bereich verschwindet und im anderen Auge auftaucht. Dieser plötzlich auftauchende Reiz ist so hoch, dass er oft eine Fluchtreaktion auslöst beziehungsweise das Pferd sich so zu drehen versucht, dass es das Objekt besser sehen kann. Ist das Pferd jedoch in seinen Fluchtmöglichkeiten eingeschränkt, kämpft es unter Umständen auch, was zu extrem gefährlichen Situationen führen kann.
Reize können in vielerlei Gestalt auftreten: der Mensch, der hinter dem angebundenen Pferd vorbeigeht und so den Sehbereich wechselt. Oder auch das Reiterbein, das sich über den Rücken schwingt und plötzlich im rechten Auge des Pferdes auftaucht.
Stress und seine Auswirkungen
Nicht nur unter ethischen Gesichtspunkten sind wir als Tierhalter verpflichtet, beim Pferd so wenig Stress wie möglich zu erzeugen. Stress hat unmittelbaren Einfluss auf den Stoffwechsel und das zentrale Nervensystem (ZNS) des Pferdes und somit ebenfalls auf seine Balance und Feinmotorik, welche wir jedoch benötigen, wenn das Pferd Leistung bringen soll. Auch die Muskelarbeit und das Muskelwachstum hängen von diesen Faktoren ab, denn ein Muskel kann nur korrekt arbeiten und wachsen, wenn sein Zustand zwischen Spannung und Entspannung wechselt. Muskulatur, die unter dauerhafter Anspannung steht, kann nicht wachsen, bildet sich im Gegenteil sogar zurück. Aufregung ist somit eines der am meisten vernachlässigten Themen innerhalb der Pferdeausbildung. Gerade im Leistungssport führt jede kleine Verbesserung der Stressresistenz zu einem Wettbewerbsvorteil.
Stress
verhindert Lernen und provoziert statt Aktion lediglich Reaktion
Stress
aktiviert den Sympathikus
Stress
hindert das Muskelwachstum
Stress
verschlechtert die Koordination und Balance
Man kann es am ehesten wohl so zusammenzufassen: Ein gestresstes Pferd lässt sich nicht trainieren. Denken Sie einmal darüber nach, wenn Sie das nächste Mal einen Reiter sehen, der stolz darauf ist, sich durchgesetzt und dem „Bock“ gezeigt zu haben, wo es langgeht.
Stellen Sie sich vor, dass jedes Pferd einen „Stresstank“ im Kopf hat, der durch verschiedene Ereignisse gefüllt wird. Läuft er über, haben wir die Bescherung. Es ist selten eine einzige Situation, die ein Pferd kopflos werden lässt – bis zum Überlaufen muss sich schon einiges anfüllen, was sich bis dahin allerdings meist nicht so offensichtlich äußert. Am Boden dieses Tanks gibt es ein kleines Ventil, durch welches der Stress abfließen kann – bei einigen Pferden ist es sehr klein, bei anderen größer. Ziel im Training ist es, dass weniger Stress in den Tank hineinkommt als hinaus.
Im ersten Schritt geht es darum, mit einem möglichst leeren Stresstank zu starten, und dies kann bereits eine Herausforderung sein. Oft wird der Tank schon dadurch gefüllt, dass Sie ihr Pferd aus der Herde entfernen, aus seiner sicheren, gewohnten Umgebung. Der Stresslevel steigt weiterhin, wenn Sie aufsteigen und anfangen zu reiten: Die erhöhte Geschwindigkeit im Trab ist ein weiterer „Schwupp“ in den Tank, und der Galopp als Fluchtgangart bringt den Tank an seine Kapazitäten. Der Fahrradfahrer, das spielende Kind oder der Trecker sind dann der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Hat es Sinn, an diesem „Tropfen“ zu üben?
Lassen wir den Tropfen Tropfen sein und kümmern wir uns zunächst um die Grundlagen, die wir im Vorfeld besprochen haben: Wenn Sie sich an feste Regeln im Umgang mit dem Pferd halten, werden Sie für Ihr Pferd berechenbar. Der Stresstank bleibt also leer. Weiterhin sollte Ihr Pferd sich bei Ihren Hilfen niemals aufregen. Wenn es sich durch Ihre Hilfen verspannt, erzeugen Sie beim Pferd genau den Stress, den Sie nicht wollen....