Kapitel 1
Der Vater: Ernst Rudolf Huber und der Schatten der Vergangenheit
Es ist nicht leicht, einen Vater zu haben, der ein Nazi war. Und Ernst Rudolf Huber, der Vater von Wolfgang Huber, war nicht irgendein Nationalsozialist unter den rund 7,5 Millionen Mitgliedern der NSDAP. Der brillante Jurist Ernst Rudolf Huber kann neben seinem Doktorvater Carl Schmitt als der führende Verfassungsrechtler der braunen Diktatur bezeichnet werden, wie Historiker meinen. Wer Wolfgang Huber, den früheren Bischof von Berlin-Brandenburg und Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), verstehen will, muss dessen Vater Ernst Rudolf Huber kennen: Ein Mann, der einerseits, kalt wie ein Stein, die Entrechtung, Stigmatisierung und Aussonderung der Juden in Deutschland und später in Europa beschrieb, ja dieser Politik mit dem Ziel des millionenfachen Mordes eine scheinbar legale Fassade gab. Ein Mann zugleich, der von seinem Sohn Wolfgang innig geliebt wurde und rührend mit ihm umging. Wer war Ernst Rudolf Huber?
Ernst Rudolf Huber wird am 8. Juni 1903 in Oberstein an der Nahe, dem heutigen Idar-Oberstein, als Sohn von August Rudolf Huber und seiner Frau Helene, einer gebürtigen Wild, geboren. August Rudolf Huber ist Schmuckgroßhändler, sein Sohn Ernst Rudolf ein aufgeweckter, ehrgeiziger Junge, den die Niederlage des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg stark beschäftigt. Kurz nach dem Krieg, 1919, gründet der 16-Jährige gemeinsam mit Kameraden eine völkisch geprägte Jugendgruppe, den Nerother Wandervogel – es ist eine Kameradschaft, die ihm später noch einmal helfen wird. Als Erster in seiner Familie wagt er nach dem Abitur den Schritt heraus aus Oberstein. Er ist auch der Erste, der studiert, zuerst Philologie und Philosophie in Tübingen, dann Nationalökonomie und Jura in München und Bonn.
Nach einer Referendarzeit in Köln beendet Ernst Rudolf Huber Anfang 1926, erst 22-jährig, mit dem Staatsexamen sein Studium und promoviert im gleichen Jahr. Sein Doktorvater in Bonn ist der schon damals berühmte, jedoch noch nicht so berüchtigte Verfassungsrechtler Carl Schmitt. Huber schreibt seine Dissertation über ein aktuelles Thema des Staatskirchenrechts (als Buch erschienen unter dem Titel »Die Garantie der kirchlichen Vermögensrechte in der Weimarer Verfassung«). Er gilt schon bald als Bonner Meisterschüler Schmitts, »das beste Pferd« in dessen Stall, wie der Staatsrechtler Carl Bilfinger (NSDAP-Mitgliedsnummer: 2 260 247) schreibt. Huber erhält für seine Doktorprüfung im Mai 1927 das Prädikat »Sehr gut«.
Rasch zieht es ihn in die Wissenschaft, ab 1928 ist er wissenschaftliche Hilfskraft im Industrierechtlichen Seminar der Universität Bonn, das von Heinrich Göppert (1867-1937) geleitet wird. Göpperts Mutter ist Jüdin, weshalb er ab 1933 als »Nichtarier« gilt. Mit einer Arbeit über Wirtschaftsverwaltungsrecht habilitiert sich Huber schon mit knapp 28 Jahren. Es ist eine fast schon enzyklopädische Arbeit, die von so hoher Qualität ist, dass sie die Zeiten überdauert und 1953/54 in einer stark erweiterten Auflage noch einmal erscheint. Ab 1931 lehrt Huber in Bonn als Privatdozent unter anderem Staats-, Wirtschafts- und Staatskirchenrecht. Nebenher publiziert er regelmäßig in jungkonservativen Zeitschriften. Über 60 Artikel erscheinen in Zeitschriften wie Ring oder Deutsches Volkstum. »Mein Vater war nach eigenem Verständnis ein Jungkonservativer. Und das ist er zeit seines Lebens geblieben«, sagt Wolfgang Huber.
Sein Doktorvater Schmitt, erbittet von Ernst Rudolf Huber immer wieder Hilfe für juristisch-politische Texte und Aufgaben. So assistiert Huber 1932 Schmitt (und Bilfinger) vor dem Leipziger Staatsgerichtshof beim Verfahren um den sogenannten Preußenschlag. Die geschäftsführende Regierung Preußens unter dem langjährigen Ministerpräsidenten Otto Braun (SPD) war im Juli 1932 im Auftrag von Reichskanzler Franz von Papen abgesetzt und durch Kommissare des Reichs ersetzt worden – dagegen hatte das Land Preußen geklagt. Huber und Schmitt vertreten die Reichsregierung in Leipzig. Im Oktober 1932 erklärt das Gericht die Einsetzung der Kommissare für zulässig. Das demokratische Bollwerk Preußen ist gefallen, die Diktatur rückt näher. In dieser Zeit erwärmen sich Schmitt und Huber für einen »totalen Staat«, eine zumindest zeitweilige und kommissarische Diktatur.
Nach Hitlers Regierungsantritt am 30. Januar 1933 tritt der junge Wissenschaftler am 1. Mai 1933 der NSDAP bei, Mitgliedsnummer: 3 144 494. Begeistert von der nationalen Bewegung steigt Huber rasant auf – auch wenn er später behaupten wird, die »revolutionären Exzesse der ›Machtübernahme‹« hätten in ihm »Bestürzung, Schrecken« ausgelöst, ja er sei »vom Bild der nationalsozialistischen Bewegung abgestoßen« gewesen. Auch nach 1945 findet er für sein NS-Engagement öffentlich nur sehr zurückhaltende Worte des Bedauerns: »Ich war damals jung, ich war aktiv, ich war zum Wagnis bereit – ich habe mich in diesen ersten Jahren aus guten Gründen für eine heillose Sache eingesetzt.«
Der brillante Jurist Huber wird jedenfalls von den Nazis für würdig befunden, ein Prestigeobjekt ihrer ideologischen Hochschulpolitik zu schmücken: Huber wird schon im Wintersemester 1933/34 als Professor an die Rechtswissenschaftliche Fakultät der von den Nazis als »Grenzlanduniversität« geförderten Universität Kiel berufen. Seine Fakultät soll im Sinne der NS-Ideologie vorbildhaft sein, eine »Stoßtruppfakultät«. Sie profiliert sich bald als »Kieler Schule« einer linientreuen »Neuen Rechtswissenschaft«.
Huber, man muss es so sagen, wirft sich dem neuen Regime an den Hals – und er versucht das Unmögliche: Er schreibt dem barbarischen Willkürstaat eine »Verfassung«, so sein 1937 erschienenes Werk, das er nach dem »Anschluss« Österreichs in einer erweiterten Fassung 1939 »Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches« nennt. Er legitimiert damit juristisch Unrecht und Diktatur im Staate Adolf Hitlers. Huber schreibt: »Das völkische Führerreich« beruhe auf der Erkenntnis, »dass der wahre Wille des Volkes nicht durch parlamentarische Wahlen«, sondern »nur durch den Führer rein und unverfälscht hervorgehoben wird«.
Den Holocaust erwähnt Huber in seinen Schriften nicht direkt. Er spricht in seiner »Verfassung« 1937 nüchtern von »Konzentrationslagern, in denen die in Schutzhaft genommenen staatsfeindlichen Personen zusammengefasst wurden«. Über die Nürnberger Gesetze hält er fest, Juden sei darin »eine Sonderstellung zugewiesen«, die sich aus dem Ziel der »völligen Ausscheidung des Judentums« erkläre. Juristisch sei die »Absonderung« ein Teil des »Aufbaus und Ausbaus der deutschen Reichsverfassung«. Noch im Oktober 1940 erklärt Huber in der wöchentlich erscheinenden NS-Edelpostille Das Reich: »Der völkisch-rassistische Gedanke hat sich seit 1933 fortschreitend in einer Fülle von Einzelmaßnahmen durchgesetzt. Abwehrend trat er vor allem in der Ausscheidung des Judentums aus dem Volkskörper hervor«. In diesem Zusammenhang erwähnt er auch »die großen Umsiedlungsvorhaben, die im Zusammenhang mit den militärischen Ereignissen seit dem Herbst 1939 eingeleitet worden sind«.
Trotz dieser – um das Mindeste zu sagen – offensichtlichen Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Juden: Es ist wahrscheinlich, dass Huber – anders als Carl Schmitt – kein Antisemit war. Jedenfalls kommt es gerade aufgrund einer klar antisemitisch intendierten Veranstaltung zu einem ersten Bruch mit seinem Doktorvater Schmitt, den zu ehren bis dahin eine Konstante im Leben Hubers war. Es geht um eine von Schmitt geplante Hochschullehrertagung, die für den Oktober 1936 geplant ist. Thema: »Das Judentum in der Rechtswissenschaft«. Wolfgang Huber erzählt diesen Konflikt zwischen Schmitt und seinem Vater so: »Schmitt erwartete ultimativ, dass mein Vater dort hinkäme.« Aber der lehnt ab. »Damit war der Ofen zwischen den beiden aus.« Es dauert knapp zwei Jahre, bis sie sich wieder annähern.
Etwa um das Jahr 1937 scheint Ernst Rudolf Huber etwas Distanz zum NS-Regime zu gewinnen. Wenn man die Sache für ihn wohlwollend betrachtet, mag ein wichtiger Grund darin gelegen haben, dass er als intelligenter Mann nicht zuletzt angesichts staatlicher Mordaktionen wie etwa des sogenannten Röhm-Putsches einsieht, mit seinem Konzept einer rechtlichen Definition eines völlig willkürlich geführten Terrorstaates ganz offensichtlich gescheitert zu sein: Es gibt kein Recht im Unrecht.
Huber selbst hält 1947 fest, er habe mit seinem »Verfassungsrecht« von 1937 versucht, das NS-Regime »aus dem Chaos der Revolution, der Gewaltsamkeit, des Terrors herauszuführen und es auf dem Weg der Ordnung, des Rechts und des inneren Friedens zu lenken«. Sein Sohn Wolfgang Huber hält das durchaus für möglich: »Er wollte der Vorstellung nicht Raum geben, dass der Führer unumschränkte Macht hat, sondern mit Rückgriff auf unter anderem überpositives Recht einen verfassungsrechtlichen Rahmen konstruieren. Er musste dann aber einsehen, dass er so nicht nur sich selbst kompromittierte, sondern auch etwas tat, was gar nicht zu halten war. Etwas, was dem Regime eminent half, aber innerlich haltlos war.«
Huber nimmt 1937 einen Ruf an die Universität Leipzig an. Bei einer Abschiedsfeier trägt ein Kieler Kollege ein Gedicht vor, das die zunehmende Neigung Ernst Rudolf Hubers zur Verfassungsgeschichte als einen Rückzug in eine politisch unverfänglichere Vergangenheit wertet, so die Interpretation Wolfgang Hubers. Zwei Zeilen des Gedichts lauten: »Seit es kein öffentliches Recht mehr gibt, der...