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Im Lande der weißen Kamele

Chronik einer Stippvisite

AutorEgon Richter
VerlagEDITION digital
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl153 Seiten
ISBN9783956558122
FormatPDF
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
'Sie hatte noch nie ein Erdbeben erlebt, aber so - hatte sie das Gefühl - müsste es sich ankündigen: ein undefinierbares Dröhnen, ein Zittern des Bodens, eine gelbgraue Wolke, die vom Horizont her auf sie zutrieb, dann ein Donnern und Schlagen und endlich, wie zum Niederstampfen auf sie angesetzt, der Pulk der Kamele: Die Hälse hochgereckt, trompetend, blökend, rasten die Tiere auf sie zu. Philipp schrie, sie solle sich um Gottes willen zurückhalten, aber dazu war sie nicht hergekommen, und trotz der beklemmenden Furcht, die sie vor der Urgewalt der anstürmenden Leiber ergriffen hatte, trat sie ihnen entgegen. Gewiss, sie musste hin und her springen vor oder inmitten der stampfenden, sich gegenseitig bedrängenden Kamele, die wie eine gelbbraune, helle, ockerfarbene Masse um sie herum wogten, von den beiden berittenen Hirten mit Stöcken und Hunden in Schach gehalten. Aber es gelang ihr, diesen freien Geschöpfen nahe zu sein, ihren herben strengen Duft einzuatmen und wenigstens einen Augenblick in ihre großen lidlosen Augen zu sehen, in denen sich die ganze Welt zu spiegeln schien. Jetzt wusste sie, was es bedeutete, wenn die Einheimischen die Schönheit mit dem Kamelauge verglichen. Es kam keine Ruhe in die Herde, sie strebte davon, suchte der Menschenhorde zu entfliehen. Die Hirten stiegen keinen Augenblick aus dem Sattel, und kaum, dass sie gekommen waren, jagten sie pfeifend und rufend mit der Herde zurück in die ruhevolle heimische Steppe. Es war wie ein Spuk, und minutenlang fragte sie sich, ob sie dies eben wirklich erlebt hatte ... Sie aber stand neben den Akazienbüschen und blickte der schnell sich entfernenden Staubwand nach. Sie hatte das Gefühl, ihr entschwände ein Stück Welt, das sie niemals wiederfinden würde ...' Solche und andere Erlebnisse abenteuerlicher, seltsamer oder alltäglicher Art schildert Egon Richter in seiner interessanten Reisereportage aus einem fernen Land, wo zwischen den Bergen Ostsibiriens, der Mongolei und Chinas der britische Weltreisende Carruthers im Kohlfeld eines Siedlers den Mittelpunkt Asiens markierte, Regierung und Parlament sich in einem hölzernen Blockhaus versammelten und bunte dreieckige Briefmarken mit französischem Text den Namen des unbekannten Staates über die Welt trugen: TUWA.

Geboren 12. Dezember 1932. Abitur, Redaktionsvolontär, Studium (Germanistik), Reporter. Seit 1967 im Schriftstellerverband, freischaffend. Gestorben am 14. Juni 2016. Auszeichnungen: 1971 Kunst- und Literaturpreis des Bezirkes Rostock 1974 Orden "Banner der Arbeit" 1976 Johannes-R.-Becher-Medaille in Gold 1977 Gryf Pomorski der VR Polen 1978 Heinrich-Heine-Preis der DDR. Auswahlbibliografie Ferien am Feuer. Erzählung. Hinstorff Verlag, Rostock 1966 Zeugnis zu dritt. Roman. Hinstorff Verlag, Rostock 1968 Sehnsucht nach Sonne. Ein Buch über Sibirien. Hinstorff Verlag, Rostock 1972 Aussagen über einen Nachbarn. In: Liebes- und andere Erklärungen. Aufbau Verlag, Berlin 972 Gedanken im Fluge. In: Stimme des Menschen. Volkstheater Rostock, 1974 Abflug der Prinzessin. Roman. Hinstorff Verlag, Rostock 1974 Der goldene Schlüssel von Mangaseja. Kinderbuchverlag, Berlin 1975 Eine Stadt und zehn Gesichter. Ein Buch über Szczecin. Hinstorff Verlag, Rostock 1976 Der Lügner und die Bombe. Vier untypische Liebesgeschichten für Männer. Hinstorff Verlag, Rostock 1979 Der Tod des alten Mannes. Erzählung. Hinstorff Verlag, Rostock 1983 Der lange Weg nach Afrika: Schauspiel. Volkstheater Rostock, 1984 Mit Katzensprüngen ins Land der Fische. Kinderbuchverlag, Berlin 1985 Im Lande der weißen Kamele. Ein Buch über Tuwa. Hinstorff Verlag, Rostock 1986 Die letzte Fahrt der Königin Luise. Roman. Verlag der Nation, Berlin 1988

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Leseprobe
Am dritten Tag stand Maria neben dem Fahrer Wenjamin vor dem geöffneten Kofferraum des schwarzen Wolga und verstaute darin Kisten und Körbe mit Wein- und Kognakflaschen, Gläser mit marinierten Pilzen und eingelegten Tomaten, ganze Gurken und weiße Brote, fleischgefüllte Piroggen und Mineralwasser. Es sah aus, als hätte Maria die Absicht, mit ihnen eine Reise in die Hungersteppe zu unternehmen. Philipp tat jedoch so, als hielte er dies alles für selbstverständlich, kümmerte sich um das zweckdienliche Verstauen ihrer Filmgeräte, Taschen und Täschchen und trieb sie zur Eile. Das tat er immer, wenn sie irgendwohin wollten, und manchmal kam es ihr vor, als sei dies seine unabdingbare Voraussetzung für einen ordentlichen Aufbruch. Jedes Mal bei solchen Anlässen hatte es Auseinandersetzungen über Philipps Termin-Nörgelei gegeben, und trotz ihrer ausnehmend guten Laune hätte an diesem Morgen nicht viel gefehlt, und sie wären in Streit geraten. Begünstigt wurde Philipps Treiberei durch den sonst so stillen Fahrer Wenjamin, der sogar Tassen, Gläser und teegefüllte Thermosbehälter im Kofferraum verstaute, als führen sie in eine Gegend, in der jede Zivilisation nur noch ein Märchen sei. Wenjamin nämlich erwies sich als ein Fanatiker der Pünktlichkeit, und um sieben Uhr, hatte er beschlossen, müssten sie ohne Verzögerung aufbrechen, wenn sie die Wege übers Land noch vor Einbruch der Nacht absolvieren wollten. Mein Gott, was für eine Hektik! Dieser Wenjamin war kein Russe, das war ja ein Preuße, wie er im Buche stand: Er putzte und polierte an dem Wagen herum, den er ohnehin schon auf Hochglanz gebracht hatte, sodass es ihr schleierhaft war, was es daran noch zu säubern gab, und ewig schaute er auf die Uhr, als hinge ihr Leben von Sekunden ab. Der passte zu Philipp, die würden beide Freude aneinander haben! Endlich war es der lachenden, schwatzenden und emsigen Maria gelungen, alle unterschiedlichen Zeitauffassungen in Übereinstimmung zu bringen, sämtliche Gemüter zu beruhigen und es so einzurichten, dass sie nach vorn neben Wenjamin platziert wurde und Philipp sich ungestört und bequem im Fonds des Wagens ausbreiten konnte. Dann brachen sie auf. Jetzt, in dieser dunklen Regennacht, in der das Flugzeug mit heulenden Düsen immer tiefer stieß, einer neuen, unbekannten Zwischenstation auf dem Wege nach Europa entgegen, erinnerte sie sich jenes sonnenhellen Tages mit einer Intensität, die nur dem Besonderen und Absonderlichen vorbehalten ist. Nie wieder, dessen war sie sicher, würde sie so einen Tag erleben. Zuerst, nachdem sie die Stadt verlassen hatten, fuhr Wenjamin auf einer glattasphaltierten Straße am Fluss entlang. Es war, wie sie wusste, einer der beiden Quellflüsse des Jenissej; aber sie hatte vergessen, welcher von beiden es war. Der informationssüchtige Philipp drängelte zwar ständig nach einem geografischen Dokument, aber Maria besaß keine Karte und Wenjamin keinen Autoatlas. Das waren Raritäten in diesem Land, derer die beiden nicht bedurften: Sie fanden sich ohnedies zurecht. Und ihr selbst war es egal, ob es der Kaa-Chem oder der Bej-Chem war, an dessen zerfurchtem Ufer sie entlangfuhren - Namen waren Schall und Rauch. Die Bilder aber würde sie in ihrem Herzen bewahren. Am Anfang stiegen die Felsen gemächlich an, dann plötzlich standen sie wie zerklüftete Wände neben der Straße, hoch in den Himmel ragte der rote Porphyr, Steinabbröckelungen markierten den Straßenrand, und dort, wo niemand an dieser leblos roten Gesteinsmasse es erwartet hätte, strahlten blaue Blumenkissen aus den Felsspalten. Wenjamin musste anhalten, dies musste er sie näher betrachten, berühren, im Bild festhalten lassen, auch wenn Philipp noch so demonstrativ auf die Uhr wies - war sie in dieses Land gekommen, um Termine einzuhalten?! Mit einem Mal war der Fluss verschwunden, die Felsen traten zurück, und die Steppe tat sich auf. Hin und wieder belebten ein paar kärgliche Baumgruppen die Ebene, im Übrigen beherrschten Ginster und Akazienbüsche das Gesicht dieser Landschaft. Wie eine Fata Morgana lockten in der Ferne die Berge und die dunklen Streifen schier unerreichbarer Wälder - die Steppe schien kein Ende zu nehmen. Sie fuhren auch längst nicht mehr auf der glatten Straße. Irgendwann waren sie abgebogen auf eine breite sandige Piste. Es kam ihr vor, als befänden sie sich in einem Boot, das von langer Dünung und kurzen Wogen über ein grenzenloses Meer getragen wurde. Wenjamin beherrschte die vielspurig zerfahrene Piste wie ein Seiltänzer. Und wenn er auch jedes Mal einen Hinweis auf die Zeit nicht unterlassen konnte, vermied er zu Philipps Erstaunen doch keine Gelegenheit, sie auf Seltsamkeiten hinzuweisen und ihre Fotografierlust erst richtig anzuregen: flinke Erdhörnchen, Suslik mit Namen, die den Weg kreuzten und die sie ebenso vergeblich auf ihr Zelluloid zu bannen suchte wie deren größere Vettern, die Burunkuk genannt wurden und die der spottlustige Philipp als eine Mischform von Zieselmaus und verunglücktem Eichhörnchen bezeichnete. Oder die weißen Teppiche kleiner Blüten und die feuerroten Kissen aus Trollblumen, die um die Teufelsmützen herum wuchsen. Als Teufelsmützen wurden nach Marias Auskunft steil aufragende Büschel harten Steppengrases bezeichnet, die, indianischem Kopfschmuck ähnlich, einen Viertelmeter hoch aus der kärglichen Grasnabe hervorschossen. Manchmal veranlasste sie Wenjamin zum Halten, nur, um die weite Landschaft in sich einzusaugen, einfach über den trockenen Boden zu gehen, den herben Geruch einzuatmen und den Blick schweifen zu lassen über die im Sonnenlicht flirrende graugrüne Steppe, die ihr vorkam wie die leicht bewegte See ihrer Heimat. Philipp verließ den Wagen nur, wenn am Rande des Weges, eingelassen in die Erde, eine seltsame Steinfigur auftauchte, hellgrau und ausgebleicht von der Sonne. Ein Batyr, erklärte Maria, Standbild eines Recken aus ferner Vergangenheit. Woher kam er, wen stellte er dar, warum stand er hier? War er gefallen an dieser Stelle, und wenn ja, im Kampf gegen wen? Fragen, auf die niemand eine Antwort wusste und auf die es vielleicht niemals eine geben würde. Die jahrhundertealten Gesichter der steinernen Helden waren ausgelöscht und die Konturen ihrer Helme nur noch mit Mühe zu ertasten. Dennoch hatten sie standgehalten als kunstvolle Zeugen verschollener Völker. Manchmal überkam sie die Vermutung, dass Philipps historische Ambitionen durchaus zu einer Leidenschaft werden konnten. Konnte ein Mensch ohne Antworten leben, und vor allem: ohne Fragen? Endlich, an einer Stelle, an der sich die Steppe in eine erstaunlich saftige, fast sumpfig erscheinende Wiesenfläche verwandelte und in der Ferne eine schneeweiße Jurte vor einer Herde schwarzer Schafe leuchtete, wartete ein Jeep auf sie. Er war quer zur Fahrbahn mitten auf die Piste gestellt worden, und auf seiner Motorhaube hockte der tuwinische Fahrer und rauchte. Er war ein kleiner braunhäutiger Mann in rot kariertem Hemd und dunkelblauer Hose. Er war viel kleiner als ihr lang aufgeschossener, russischer Wenjamin, und seine Stiefel waren staubbedeckt wie sein Wagen. Erst als sie auf die Leute zugingen, die um den Jeep herumstanden, bemerkte Wenjamin, dass auch sein schwarz polierter Wolga inzwischen grau geworden war. Ihr war es ein Rätsel, wo und wie die kleine Schar, die dem Jeep entstiegen war, in dem engen Wagen Platz gefunden hatte, aber ihr blieb keine Zeit zu weiteren Überlegungen. Schon eine Stunde, sagte Maria vorsichtig und verbarg jeden Vorwurf hinter einem freundlichen Lächeln, warteten die Freunde hier auf sie, und deshalb sei Eile geboten.
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