»Ein bewaffnet Volk in den Bergen …«
Die freud-leidvolle Nachbarschaft der Länder
Tirol und Bayern, der Krieg von 1703
und die Folgen
Alle hundert Jahre einmal schlagen sie sich die Schädel ein, sonst sind sie fast zu gute Freunde. So hat einmal ein Kabarettist das Verhältnis zwischen Tirolern und Bayern charakterisiert. Die Wirklichkeit ist freilich vielschichtiger, komplizierter. Die manchmal zitierte »Erbfeindschaft« beschränkt sich im Grunde auf wenige – allerdings sehr leidvolle – Kriegsjahre im Mittelalter, zu Beginn des 18. und im frühen 19. Jahrhundert. Dazwischen waren die Beziehungen der beiden Länder trotz mancher politischer Spannungen und trotz gelegentlicher Streitigkeiten der Menschen beiderseits der Grenzen durchaus freudvoll, ja sie waren so intensiv und vielfältig, dass der Begriff »Freundschaft« nicht ausreicht, vielleicht sogar falsch ist. Man muss eher von Verbundenheit sprechen, von Gemeinsamkeiten. Deren Eckpunkte sind der intensive Bevölkerungsaustausch, starke wirtschaftliche Beziehungen nicht nur in grenznahen Regionen und vor allem die gegenseitige Befruchtung in Kunst und Alltagskultur.
Und trotzdem oder vielleicht gerade deswegen wollte die überwiegende Mehrheit der Tiroler nicht unter bayerischer Herrschaft leben. Der Tiroler Freiheitskampf von 1809 richtete sich nicht – wie immer noch viele meinen – gegen Napoleon, sondern gegen die aufgezwungene Angliederung des Landes an Bayern, das damals allerdings ein treuer und folgsamer Vasall des Franzosenkaisers war, und gegen die verhassten Maßnahmen der Münchner Regierung. Der Versuch, die Fremdherrschaft abzuschütteln, war – aus damaliger Sicht der Tiroler – kein revolutionärer Akt, sondern erfolgte im Rahmen des von Österreich an Bayern erklärten Krieges und in Absprache und mit Billigung, teilweise sogar mit militärischer und moralischer Unterstützung des habsburgischen Kaiserhauses, dem sich die Tiroler seit 450 Jahren zugehörig fühlten.
Die bayerischen Herzöge hatten im 13. Jahrhundert die Herauslösung ihres »Landes im Gebirge« und die Entstehung der reichsunmittelbaren Grafschaft Tirol hinnehmen und 1369 deren kurz zuvor vollzogene Verbindung mit den österreichisch-habsburgischen Ländern anerkennen müssen. Im Jahr 1500 gewann König Maximilian I. als Belohnung für seine Vermittlerrolle im innerbayerischen Erbfolgestreit die Gerichte Kufstein, Rattenberg und Kitzbühel für Tirol. Bald bildete sich auch hier eine tirolische Identität heraus, was der bayerische Kurfürst Max Emanuel bitter erfahren musste, als er 200 Jahre später im Verlauf des europaweit ausgetragenen Spanischen Erbfolgekrieges als Verbündeter Frankreichs in Tirol einmarschierte und wenigstens in den ehemals bayerischen Gebieten auf wiedererweckte altbayerische Gesinnung und entsprechende Unterstützung von Seiten der Bevölkerung hoffte. Sein Versuch, Tirol zu erobern, endete nach anfänglichen Erfolgen in einer schmählichen Niederlage – nicht gegen reguläres Militär, sondern gegen »ein bewaffnet Volk in den Bergen«, wie der Kurfürst seiner Frau nach München schrieb.
Die kriegerischen Ereignisse von 1703, von den Tirolern verharmlosend »Boarischer Rummel« genannt, hinterließen auf beiden Seiten tiefe Wunden. Und weil die Erinnerung daran auch über hundert Jahre gegenseitiges Misstrauen wachhielt, gehören sie zur Vorgeschichte der Geschehnisse von 1809.
Der »Boarische Rummel«
Im Streit um das spanische Erbe war Bayern auf die Seite Frankreichs getreten. Kurfürst Max Emanuel erwartete sich davon größere Chancen auf Land- und Machtgewinn und holte die alten Ansprüche auf Tirol hervor. Dass kaum reguläre Truppen im Land standen und die Behörden sich trotz der offensichtlichen Gefahr eines bayerischen Angriffs nicht zu wirkungsvollen Verteidigungsmaßnahmen aufraffen konnten, musste ihn in seinem Vorhaben ermutigen.
Als am 15. Juni 1703 in Innsbruck die Nachricht eintraf, der Kurfürst ziehe mit 10.000 Mann eigener Truppen und 2500 Franzosen von Rosenheim gegen Tirol, war es natürlich zu spät, obwohl sich sofort tausende Bauern sammelten, um Munition zu fassen und Befehle entgegenzunehmen. Doch da stand das bayerische Heer schon vor Kufstein. Die starke Festung fiel durch einen Handstreich, kurz darauf war auch Rattenberg im Besitz der Angreifer. Das schwache österreichische Militär floh über den Brenner, und als der siegreiche Feldherr am 2. Juli mit großer Pracht in der Tiroler Hauptstadt einzog, huldigten ihm Regierung und Beamtenschaft als dem neuen Landesfürsten.
Die über das Verhalten der Obrigkeit empörte Landbevölkerung ließ sich aber nicht einschüchtern und stoppte am Brenner den bayerischen Vormarsch nach Süden. Da sich gleichzeitig im Inntal das Volk gegen die Besatzer erhob und in der Schlucht zwischen Landeck und Prutz eine bayerisch-französische Abteilung von den Schützen und Landstürmern der Umgebung aufgerieben wurde, musste der Kurfürst eilends umkehren, um sich den Rückweg offenzuhalten. Dies gelang durch die Eroberung von Tiroler Schanzen bei Kematen und am Fuß der Martinswand bei Zirl.
Die Vernichtung einer bayerisch-französischen Einheit an der Schlucht vor Prutz im Oberinntal auf einem zeitgenössischen Stich (1703)
Aus Zorn über die bei diesen Kämpfen erlittenen Verluste brannten Max Emanuels Truppen die Dörfer dieser Gegend und zahlreiche Einzelhöfe nieder, vor dem Rückmarsch ins Innsbrucker Lager wurde geplündert und sinnlos gemordet. Angesichts der kampfbereiten Bauernscharen und einer anrückenden österreichischen Heeresabteilung entschloss sich der Kurfürst zum Rückzug über Seefeld und den Scharnitzpass. Am Abend des 26. Juli war Innsbruck wieder frei. Es war der Feiertag der hl. Anna, weshalb die Tiroler Landstände die später zum Dank für die Befreiung in der Innsbrucker Neustadt (heute Maria-Theresien-Straße) errichtete Mariensäule auch mit einer Statue der hl. Anna schmückten und eine jährliche Prozession dorthin am St.-Anna-Tag gelobten. So erhielt die Mariensäule im Volk den Namen Annasäule.
Tiroler Plünderungen im bayerischen Grenzland
Bei der Verfolgung der bayerischen Truppen fielen Tiroler Sturmscharen im Gefolge des kaiserlichen Militärs nun ihrerseits in Bayern ein, um zurückzuholen, was ihnen vorher die Bayern genommen hatten. Natürlich traf es völlig Unschuldige, als nun vom Tegernsee bis zum Lech Klöster, Dörfer und Höfe in Flammen aufgingen, Viehherden weggetrieben und Häuser ausgeraubt wurden. Wenn jemand um Gnade und Erbarmen bettelte, sollen die Tiroler – so wird überliefert – ungerührt zur Antwort gegeben haben, das Rauben und Stehlen habe man nur von den Bayern gelernt. Als Landstürmer und Soldaten nach drei Tagen das Plündern beendeten, brachten sie viel Geld, wertvolle Sachgüter und 8000 Stück Rindvieh mit nach Hause, die allerdings zum Großteil zur Versorgung der Truppen verwendet wurden.
In der Kufsteiner Gegend dauerte die Schreckenszeit bis Herbst 1704, weil die Festung noch in bayerischer Hand blieb und beide Kriegsparteien abwechselnd über die Grenze zogen, um Dörfer zu zerstören und Beute zu machen. Dann kehrte zumindest in Tirol wieder Friede ein, als Bayern den Krieg gegen Österreich verlor und der Kurfürst ins niederländische Exil ziehen musste. Am 29. November 1704 verließ die unbesiegte bayerische Festungsbesatzung Kufstein. Die folgende Besetzung Bayerns durch die Österreicher mit all ihren negativen Auswirkungen hat mit der damals sehr leidvollen bayerisch-tirolischen Nachbarschaft nichts mehr zu tun. Der berühmte Bauernaufstand von 1705/06 mit der legendären Heldentat des Schmieds von Kochel richtete sich gegen das österreichische Besatzungsregime in München, und an der Niedermetzelung der bayerischen Freiheitskämpfer in der Sendlinger Mordweihnacht waren keine Tiroler beteiligt.
Kurfürst Max Emanuel und sein Stab vor dem bayerischen Lager in Wilten bei Innsbruck (Ausschnitt eines Freskos in der Wiltener Stiftskirche)
Unsichere Nachbarschaft
Die Tiroler Landstände richteten in den folgenden Jahren mehrmals an den Kaiser den Wunsch, er möge doch als Ausgleich für die erlittenen Schäden vom besetzten Bayern die fruchtbaren Landstriche am Inn abtrennen und sie mit Tirol vereinen, damit das Land seinen Bedarf an Getreide nicht länger im Ausland decken müsse. Trotz verschiedener Tauschpläne blieben jedoch im endgültigen Friedensschluss von 1714 die Grenzen zwischen Österreich und dem einem Staatsbankrott nahen Bayern unverändert. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern normalisierten sich zwar bald, Max Emanuels Sohn Karl Albrecht vermählte sich sogar mit einer Tochter Kaiser Josefs I., doch das gegenseitige Vertrauen war erschüttert. In Tirol versuchte man, die Grenzfestungen gegen Bayern in Ordnung zu halten, auch neue wurden gebaut, zum Beispiel im bisher fast ungeschützten Achental. Als Kurfürst Karl Albrecht während des Polnischen Erbfolgekrieges (1733–1735) eine unklare Haltung einnahm und mit Truppenaufmärschen die Unsicherheit vergrößerte, rückte das Tiroler...