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Chronischer Schmerz:
Die moderne Gefahr, eine
alte Warnung zu überhören
Die Ärzte nahmen an, ich sei bewusstlos – nur allzu verständlich auf der Intensivstation eines amerikanischen Sanitätsschiffes voller neu eingelieferter, schwer verletzter Vietnam-Soldaten. Doch ich konnte sie hören bei ihrer Visite am Nachbarlager. Auf diesem lag ein Hauptmann der Armee im Todeskampf, den vor einigen Tagen ein Bauchschuss getroffen hatte. Er konnte nicht sprechen, aber auch nicht schlafen. Nie fand er Ruhe, und so vernahm ich neben mir das unablässige Stöhnen eines Menschen, der sich vor Schmerzen wand, und das Piepsen der Herzüberwachungsgeräte.
Die Ärzte blickten auf die Kartei mit den Krankendaten und untersuchten kurz die schwere Verletzung. Einer fragte: »Glauben Sie, er wird durchkommen?« Ich hörte, wie die Kartei zurück auf den Halter gesteckt wurde. Ich wollte meinen Kopf drehen, um zu erfahren, ob sie über mich sprachen, doch es gelang mir nicht. Da waren zu viele Schläuche, und ich hatte zu starke Schmerzen. Der Gefragte antwortete lapidar: »Entweder wird man gesund, oder man stirbt.«
Ein paar Tage später starb der junge Hauptmann. In den vergangenen drei Jahrzehnten habe ich oft an ihn und die Worte des Arztes gedacht. Die Bemerkung erschütterte mich, und sie erschüttert mich heute noch mit der Kraft einer philosophischen Erkenntnis. Der Arzt hatte erfasst, dass es einen Punkt gibt, an dem sich die moderne medizinische Technologie der inneren Logik des Körpers, seinen Mechanismen und seinem Willen beugen muss. Unabhängig von allem chirurgischen Geschick, allen Antibiotika und Schmerzmitteln heißt es an diesem Punkt: Entweder man wird gesund, oder man stirbt.
Diese Feststellung hat nichts mit Fatalismus zu tun. Vielmehr drückt sich in ihr die Achtung vor der Fähigkeit des menschlichen Körpers aus, sich sein Leben und seine Gesundheit zu erhalten – unabhängig von äußeren Eingriffen, die Technologie und medizinisches Wissen an die Stelle dieser unerschöpflichen Kraft setzen wollen. Beim Anblick des von Schmerzen gepeinigten Vietnam-Soldaten erkannte der Arzt klar seine Grenzen. Sollte ich überleben und vollständig genesen, so beschloss ich in jenem Moment, würde ich nach der Antwort auf die Frage suchen: Warum werden wir entweder gesund oder nicht? Die Selbstheilungskräfte des Organismus, über sie wollte ich so viel wie möglich erfahren. Nun, heute bin ich Physiotherapeut für Sportmedizin. Diesen Beruf wählte ich nicht zuletzt, weil ich ein langwieriges Rehabilitationsprogramm absolvieren musste, um wieder den aktiven Dienst als Marineoffizier antreten zu können. Meine persönliche und berufliche Erfahrung hat mich gelehrt, dass unser Körper nicht bloß das letzte Wort hat, wenn das Leben endgültig endet, sondern im gesamten Leben den Prozess des Gesundbleibens und Heilens steuert.
So wie chronische Schmerzen nach höchstem Stand der Schulmedizin heutzutage behandelt werden, wird diese grundlegende Erkenntnis jedoch häufig ausgeblendet. Eine ganze Industrie ist entstanden, die Hüft- und Kniegelenke ersetzt, Rücken in Stützkorsetts packt, Manschetten verschreibt und den Patienten zuredet, ihre Tabletten ein- und die Dinge leichtzunehmen. Eigentlich müsste die zitierte Bemerkung des Arztes lauten: »Entweder wir machen dich gesund, oder du stirbst.« Über der Allgegenwart der medizinischen Technologie gerät die Selbstheilungskraft des Körpers in Vergessenheit. Und das ist eine Tragödie. Denn letztlich sind Erhalt und Wiederherstellung der Gesundheit nicht möglich, wenn der entscheidende Beitrag des Körpers zu unserem Wohlbefinden ignoriert wird.
Wiederbesinnung auf den Körper
Grundlage dafür, dass der menschliche Körper diesen Beitrag zu leisten vermag, ist die gediegene Funktionalität und Stabilität seiner Bauweise. Das Fundament und den Rahmen bildet der Bewegungsapparat: Muskeln, Gelenke, Knochen und Nerven. Ich schließe die Nerven ein, denn das Nervensystem steht in engster Verbindung mit dem Bewegungsapparat. Das Wechselspiel zwischen all diesen Komponenten ist dermaßen durchdacht, so unendlich komplex und so perfekt zugeschnitten auf Zweck und Material, dass jeder auch noch so gut gemeinte Eingriff zunächst mit gesunder Skepsis betrachtet werden sollte. Trotzdem sind bei chronischen Schmerzen inzwischen auch radikale operative Behandlungsmethoden Standard. Diese Methoden begreifen den naturgegebenen Aufbau des Körpers als technische Herausforderung. Alles ist möglich, oder? Das redet man uns jedenfalls ein.
So wie wir uns dann selbst einreden, dass Gesundheit und Leben nichts damit zu tun haben, wie unser Herz schlägt und sich unsere Lungen mit Luft füllen, nichts damit, wie wir auf unseren beiden Füßen stehen, unsere Hände ausstrecken und unseren Kopf aufrecht tragen.
Wenn dem so ist, weshalb bieten rein technologisch orientierte Therapiemethoden dann keine Befreiung von chronischem Schmerz? Ich glaube, dass sich echte Schmerzfreiheit nur durch ein Rückbesinnen auf den Körper und nicht durch bloßes »Restaurieren« erreichen lässt. Wenn wir uns auf den Aufbau unseres Körpers besinnen und ihm die notwendigen Arbeitsbedingungen verschaffen, können wir etliche Beschwerden und Behinderungen rückgängig machen und vermeiden.
Zum Verständnis meiner Ausführungen in den folgenden Kapiteln will ich Ihnen die wichtigsten anatomischen Grundkenntnisse vermitteln. Dabei liegt mir an Verständlichkeit, angereichert durch in der Praxis gesammelte Erfahrungen. Daher dürfte der Exkurs (hoffentlich) nicht allzu kompliziert und trocken ausfallen.
Schmerzen signalisieren nicht nur, dass wir das Falsche tun. Sie sagen uns auch, dass wir das Richtige nicht tun.
Zunächst müssen wir uns fragen, weshalb der Körper manchmal – bei vielen Menschen auch öfter – Schmerzen einsetzt. Chronischer Schmerz des Bewegungsapparats warnt einem Alarmsignal gleich vor Gefahr. »Hier tut sich etwas«, morst er, »was gefährlich werden könnte!« Unsere Aufgabe ist es dann, dem Problem auf die Schliche zu kommen. Um den Schmerz zu beseitigen, müssen wir die Ursache auffinden.
Als Erstes kommen die Muskeln in Frage, die mit den Gelenken die Knochen in Bewegung setzen. Auf sie konzentriert sich dann die konventionelle Behandlung. Alles läuft darauf hinaus, bestimmte Bewegungen möglichst zu vermeiden oder ganz bewusst zu kontrollieren. Zu guter Letzt hören die Schmerzen auf. Sollten sie jedenfalls, tun sie aber leider oft nicht. Denn chronische Schmerzen sind nun einmal hartnäckig – sie kommen, sie gehen und kommen und gehen … Was sie uns mitteilen wollen, ist offensichtlich völlig verschieden von dem, was wir verstehen wollen.
Was uns fehlt, ist die richtige Art von Bewegung! Warum leben wir? Diese Sinnfrage wird sich die Menschheit immer aufs Neue stellen. Aus Sicht des Bewegungsapparats gibt es nur eine Antwort: Wir leben, um uns zu bewegen! Der Körper ist eine Bewegungsmaschine! Die kräftigen Knochen und starken Muskeln – sie machen 60 Prozent unseres Körpergewichts aus – belegen dies deutlich. Wir mögen hochfliegende Ziele haben, erreichen können wir sie nur durch körperliche Bewegung, indem wir eine Hand über die andere und einen Fuß vor den anderen setzen. Es ist daher höchst unwahrscheinlich, dass der Organismus uns signalisiert, uns weniger oder überhaupt nicht zu bewegen; bei Überlastung würde er uns schlichtweg durch Müdigkeit zur Ruhe auffordern. Warum sollten wir nach drei Millionen Jahren Menschheitsgeschichte mit einem Mal die Bewegungen unserer Knochen und Muskeln einschränken müssen?
Das müssen wir keineswegs. Doch die panische Angst vor Schmerzen und die mangelnde Bereitschaft, auf leisere Botschaften des Körpers zu hören, haben dazu geführt, dass wir genau jene Schutzmechanismen unterdrücken, die uns gesund und schmerzfrei halten würden. Gelten Schäden an Muskeln, Knochen und Gelenken als Schmerzauslöser, so betrachtet man sie zugleich als Ursache der Beschwerden. Doch selbst wenn Körperteile tatsächlich Zeichen von Abnutzung und Verschleiß aufweisen: Die Ursachen der Schmerzen lassen sich nicht durch Gelenkoperationen, Medikamente und andere lokal begrenzte Therapieformen beseitigen. An der Bewegung führt kein Weg vorbei. Bewegung ist für die Funktionsfähigkeit des Körpers und unser allgemeines Wohlbefinden unverzichtbar.
Bewegung als notwendige Reaktion und freie Wahlmöglichkeit
Menschen gehören zu der Minderheit von Lebewesen, die nicht ausschließlich und unmittelbar von den Kräften der Natur fortbewegt werden. Für uns gibt es kein Treiben mit den Gezeiten, kein Gleiten auf Luftströmungen und kein kostenloses Mitreisen auf einem anderen Organismus. Entweder wir setzen uns aus eigener Kraft in Bewegung, oder wir gehen zugrunde. Folglich hat die Natur unseren Fortbewegungsapparat so unverwüstlich und robust gestaltet wie nur irgend möglich. Schildkröten sind mit einem harten Panzer ausgestattet, unter dem sie sich verstecken und geduldig ausharren können; wir besitzen leistungsfähige Muskeln, kräftige Knochen und bewegliche Gelenke, damit wir gehen, laufen, rennen, uns bewegen – und auf diese Weise überleben können. Allerdings machen die Knochen nur, was die Muskeln ihnen auftragen. Die Muskeln wiederum erhalten ihre Befehle über die Nervenverbindungen vom Gehirn. Diese Befehlskette versetzt uns in die Lage, den ersten Schritt hin zu den oben erwähnten höheren Zielen zu unternehmen. Zu Menschen macht uns nicht allein die Tatsache, dass wir uns aus freiem Willen fortbewegen können, und auch nicht der Umstand, dass unser Gehirn auf die Umwelt reagiert. Der...