Marie Jahoda, um 1959 in England
Helga Nowotny
Marie Jahoda und Wien als
City of the Century – eine Einleitung
In ihrer Doppelausgabe zum Jahresende 2016 veröffentlichte die Zeitschrift The Economist einen ausführlichen Artikel, der Wien als die ‚Stadt des Jahrhunderts‘ feiert. Die durchgängige These für diese hohe Auszeichnung sind die Ideen, die von der Hauptstadt des früheren Kaiserreiches am Anfang des letzten Jahrhunderts ausgegangen sind. Wien wird als die intellektuelle Wiege des Modernismus und Faschismus bezeichnet. Ebenso war sie Ausgangspunkt für Liberalismus und Totalitarismus. Dies sind, so der Economist, die Strömungen, die weitgehend das westliche Denken und die Politik seit dem Untergang der Habsburgermonarchie bis zum heutigen Tag geprägt haben.
Selbst wenn die Blütezeit des liberalen Wiens nur von kurzer Dauer war, so war sie doch bereits von den Spannungen und Konflikten geprägt, die sich bald in virulentem Nationalismus und Antisemitismus austobten. Auf das Ende des Ersten Weltkriegs und nach dem kurzen Intermezzo des progressiven „Roten Wiens“ folgten Austrofaschismus und die Machtübernahme durch Hitler. Das liberale, kosmopolitisch und großteils jüdische Wien wurde zur Flucht gezwungen oder ermordet. Viele der Vertriebenen fanden in den USA und in Großbritannien Zuflucht und Aufnahme. „Die wertvollste Seite des Wiener Gedankenguts für den Westen zur damaligen Zeit“, so der Artikel, „lag in der Anwendung der allerjüngsten ‚wissenschaftlichen‘ Methoden auf Gebiete, die früher einem amateurhaften Theoretisieren überlassen blieben oder vernachlässigt wurden“. Dies führte zur Transformation vieler Aspekte des Lebens.
Interessanterweise findet die Rettung des intellektuellen Gedankenguts, das von Wien ausging und den Westen noch über Jahrzehnte prägen sollte, fast ausschließlich durch die wissenschaftlich-methodischen Neuerungen in den Sozialwissenschaften statt. Dies trifft vor allem auf die Ökonomen der Wiener Schule zu, deren intellektuelle Leistungen, so der Economist, vor allem darin bestand, das wirtschaftsliberale Denken für den Westen bis in die 1980er Jahre bewahrt zu haben. Doch auch den anderen Sozialwissenschaften wird durch die methodisch-empirische Arbeitsweise eine hohe wissenschaftliche Innovationskraft attestiert.
So etwa erhält Charlotte Bühler, die 1922 mit ihrem Mann Karl an der Universität Wien die moderne experimentelle Psychologie begründete, einen prominenten Platz. Andere Wiener Intellektuelle verstanden es, ihr in die USA mitgebrachtes Wissen und rigoroses Training in empirischen Methoden mit Erfolg auf neue Gebiete zu übertragen. Sie erwiesen sich als indifferent gegenüber engstirnigen akademischen Besitzstandwahrungen und schöpften die Gelegenheiten aus, die das amerikanische Umfeld für industrie- und businessfreundliches Forschen bot. Dies traf sogar für Freudianer zu; ebenso für Ernest Dichter, der auch aus der Bühler-Schule stammte. Besonders hervorgehoben wird jedoch Paul F. Lazarsfeld, der als Gründer der amerikanischen Soziologie apostrophiert wird (City of the Century. The Economist, 24th December 2016: 28–30).
In der Auflistung der aus Wien vertriebenen Pioniere, die in den USA und Großbritannien in den Sozialwissenschaften reüssiert haben, fehlt jedenfalls ein Name: Marie Jahoda. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass der vorliegende Band ausschließlich ihr gewidmet ist. Die erwähnte Leerstelle mag vielerlei Gründe haben. Vielleicht liegt es an der lebenslangen Zurückhaltung von Marie Jahoda, die sich selten in den Medien zu Wort meldete und einmal in einem Interview von sich sagte: Ich habe die Welt nicht verändert. Ungewöhnlich hoch ist auch die Zahl ihrer nicht veröffentlichten Forschungsergebnisse. Die Gründe für beides lagen oft in ihrer prekären Arbeitssituation. Diese führte zur Abhängigkeit von ihren Auftraggebern, deren Zustimmung für die Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse sie benötigte.
Auch der von Robert K. Merton beschriebene Matthäus-Effekt mag verantwortlich dafür sein, ihr Wirken zu übergehen. Wissenschaftliche Leistungen und Anerkennung wachsen überproportional denjenigen zu, die bereits erfolgreich sind und über Sichtbarkeit und Reputation verfügen. So wird im oben zitierten Artikel Paul F. Lazarsfeld als Ko-Autor einer ‚revolutionären Untersuchung über die vernichtenden sozialen und psychologischen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit‘ genannt. Unerwähnt bleibt, dass Marie Jahoda die Erstautorin der Arbeitslosen von Marienthal war und die Studie großteils von ihr verfasst wurde.
Vielleicht liegt es aber auch an ihrer Wissenschaftsauffassung. Zentral für ihr wissenschaftliches Ethos war immer die Relevanz der Fragestellungen für die Menschen, deren Lebensumstände sie untersuchte. Obwohl sie den angewandten empirischen Methoden große Wichtigkeit einräumte und ihre persönlich durchgeführten Befragungen genauestens belegte und analysierte, blieb sie dennoch Zeit ihres Lebens skeptisch gegenüber jedem Methodenfetischismus.
Ein weiterer Grund mag sein, dass die zentrale Fragestellung, der rote Faden, der ihr gesamtes wissenschaftliches Werk durchzieht, ein Thema ist, das nicht so recht in das wirtschaftsliberale Credo passt, das die Ökonomen der Wiener Schule vertraten. Marie Jahodas Thema war und blieb das Thema der Arbeit, deren manifeste Zwecke und latente Konsequenzen. Dazu zählte insbesondere die verheerende Wirkung von Arbeitslosigkeit für die Betroffenen. Die von ihr befragten Menschen waren meist am unteren Rand der Gesellschaft angesiedelt. Bereits in ihrer Dissertation war es eine bewusste und begründete Entscheidung, nicht die Lebensgeschichten von Angehörigen der bürgerlichen Schichten zu untersuchen, sondern 52 Frauen und Männer in den Versorgungshäusern der Stadt Wien zu befragen.
Dies führt direkt zum vorliegenden Band. In ihm wird erstmals die Dissertation der damals 24-Jährigen veröffentlicht einschließlich des von ihr gesammelten Materials von lebensgeschichtlichen Reportagen.
Im Detail rekonstruiert wird die Entstehung der Dissertation von Meinrad Ziegler. Sein einfühlsamer Beitrag analysiert den institutionellen und organisatorischen Kontext, in dem die Fragestellungen der Dissertation und die verwendeten Methoden, einschließlich der von Marie Jahoda originär erbrachten Leistungen, erarbeitet werden. Ziegler führt uns in das pädagogisch-psychologische Laboratorium ein, das von der Stadt Wien dem Psychologischen Institut unter der Leitung von Charlotte Bühler zur Verfügung gestellt wurde. Er erläutert das wissenschaftliche Theoriegebäude von Charlotte Bühler, deren Forschungsverbund dazu diente, den empirischen Nachweis für ihre Psychologie des Lebenslaufs zu erbringen. Wir erhalten Einblicke in die Reformbestrebungen im Bildungssektor, die von der Stadt Wien getragen werden, und in den Stellenwert der Forschungsstelle nicht nur für die wissenschaftliche, sondern auch für die praktische, angewandte Seite. Ziegler geht im Detail auf Marie Jahodas Studium und die Abfassung ihrer Dissertation ein, einschließlich ihrer damaligen persönlichen Lebensumstände und ihres politischen Umfelds.
Was sagen uns heute die Lebensgeschichten der 52 Frauen und Männer, die Marie Jahoda im Versorgungshaus der Stadt Wien in ‚offenen Erinnerungsinterviews‘ als Gegenstand ihrer Dissertation befragt hatte? Sie sind weder statistisch repräsentativ, noch geben sie Auskunft über die erlebte Lebenszeit einer bestimmten Klasse oder Gruppe. Die Auswahl beruhte auf ihrer Zugehörigkeit zu einer Geburtenkohorte, ihrer Lebensdauer und ihrer Unfähigkeit in diesem Lebensabschnitt für ihren Unterhalt selbst zu sorgen. Josef Ehmers großes Verdienst ist es, diese Sammlung von Lebensgeschichten als eine einmalige historische Quelle zu nützen. Souverän beleuchtet er die Sozialstruktur und den Arbeitsmarkt in Wien zwischen 1870 und 1930, die Wohnformen und das Familienleben, Migration und Mobilität, den demografischen Wandel ebenso wie den Mangel an sozialer Sicherung. Durch die von Marie Jahoda erhobenen Lebenserinnerungen erhalten die sozialhistorischen Befunde und Zahlen ein menschliches, männlich und weiblich geprägtes, Gesicht. Es ist nicht direkt den gewaltigen historischen Veränderungen und Umbrüchen der durchlebten Epoche zugewandt, doch umso stärker indirekt davon gezeichnet.
Als ich im Februar 2015 eingeladen wurde, an der University of Sussex die dort jährlich stattfindende Marie Jahoda Annual Lecture zu halten, hatte ich Gelegenheit, eingangs an einige meiner persönlichen Begegnungen mit ihr zu erinnern. Am meisten beeindruckten mich jedoch die berührenden Gespräche, die ich nach meinem Vortrag mit einigen Kollegen hatte – Menschen, die entweder bei ihr studiert oder an der Universität mit ihr zusammengearbeitet hatten. Sie, die als akademisch Spätberufene erst mit 58 Jahren als Gründungsprofessorin für Sozialpsychologie an die neu gegründete University of Sussex berufen wurde, hatte während der Zeit bis zu ihrer Emeritierung im Jahr 1973 und darüber hinaus entscheidende...