Ich habe kein Gefühl mehr dafür, wie spät es eigentlich ist. Wir sind heute Vormittag irgendwo losgeflogen, und mein Handy stellt selbständig die Uhr um, wenn wir mit dem Flugzeug auch nur in die Nähe einer neuen Zeitzone kommen. Meter für Meter schiebt sich der Bus durch die Innenstadt. Budapest scheint ziemlich groß zu sein. Wir stecken mitten im Berufsverkehr. Da heute Freitag ist, wollen alle ganz schnell aus der Stadt raus. Aber schnell geht hier überhaupt nichts.
Ich schaue aus dem Fenster. Mein Blick endet nach einem halben Meter, neben uns fährt ein großer schmutziger Lkw. Sogar der ist schneller als wir. Unser Fahrer erträgt diese Situation überhaupt nicht, bei der kleinsten Lücke gibt er Vollgas. Dann drückt es mich richtig in die stinkenden Sitze. Sofort muss er wieder bremsen, und ich kippe nach vorne. Als der Lkw uns erneut überholt, gibt er den Blick auf eine graue Mauer frei. So langsam scheinen wir uns doch der Vorstadt zu nähern. Ich hätte lieber vorne gesessen, aber der Fahrer hat seine ganzen Sachen auf dem Sitz neben sich verteilt und komisch gekuckt, als ich die Beifahrertür öffnen wollte. Als hätte ich versucht, in sein Bett zu steigen.
Hinten komme ich mir immer so abgestellt vor, so als wäre ich Gepäck. Als hätte ich kein Mitspracherecht. Außerdem mag ich es, mich mit den Fahrern zu unterhalten, denn sie sind oft der einzige echte Kontakt zu dem Land, in dem wir gerade sind. Ich würde ihn jetzt gerne fragen, von wem die Musik ist, die mich aus den Boxen anschreit.
Ich habe schon einmal in einem Shuttlebus eine neue Band entdeckt. Für mich war die Band zumindest neu. Die Musik, die sie machten, klang sehr drängend und wand sich immer in neuen Schleifen, ein bisschen so, als ob eine Platte springt. Ich war ganz fasziniert davon und fragte den Fahrer, wer diese Band sei. Wir waren gerade in Barcelona, und der Fahrer konnte sich mir nicht richtig verständlich machen. Das war nicht seine Schuld, ich spreche weder Spanisch noch ein akzeptables Englisch. Da zog er kurzerhand die CD aus dem CD-Player und schenkte sie mir. So habe ich es jedenfalls verstanden. Wieder in Berlin angekommen, spielte ich die CD ganz stolz meiner Tochter vor. Ich wollte ihr zeigen, dass ich in meinem Alter noch voll am Puls der Zeit bin. Ich versuchte ihr zu erklären, dass mir diese Musik so gefällt, weil es so klingt, als ob eine springende Platte zufällig die Melodien bestimmt. Meine Tochter brauchte nur einen Blick auf das Display des CD-Players zu werfen, um festzustellen, dass ganz einfach die CD wirklich sprang. Der Blick, mit dem sie mich ansah, ist nicht zu beschreiben.
Ich höre die CD trotzdem noch sehr gerne, sie ist irgendwie so meditativ, und außerdem kann wirklich niemand voraussehen, wann sie wieder springen wird. Es fühlt sich nicht so an, als würde ich eine Musikkonserve hören, sondern als wäre ich aktiver Bestandteil des Musikhörens. So höre ich immer etwas Neues.
Das Lied, das eben lief und mir auch ganz gut gefallen hat, ist mittlerweile vorbei. Jetzt kommen die Nachrichten, natürlich auch auf Ungarisch. Da ist es zu spät, um noch nach dem letzten Lied zu fragen. Ich weiß auch sonst nicht, wie ich ein Gespräch mit dem Fahrer beginnen könnte, zumal er einen sehr wortkargen Eindruck macht. Es gibt gerade auch nichts zu besprechen. Beim Einsteigen wollte er nur von mir wissen, ob noch mehr Leute von uns mitfahren wollen. Falls ich ihn richtig verstanden habe. Und selbst diese einfache Frage konnte ich nicht beantworten, denn seitdem wir in Einzelzimmern schlafen, weiß ich nicht mehr, wo die anderen sind.
Ich hatte gehofft, dass wir alle zusammen zur Halle fahren würden, aber als ich runterkam, war ich der Einzige von uns, der da stand, und so fuhr der Fahrer nur mit mir los. Wahrscheinlich wissen die anderen, wie sinnlos es ist, um diese Uhrzeit loszufahren. Falls es jetzt wirklich so spät ist, wie ich denke.
Es ist auch schon vorgekommen, dass die Uhr sich nicht zurückgestellt hat, wenn wir von einem weit entfernten Konzert wieder zurückgeflogen sind, jedenfalls kann ich mich nicht mehr auf meine Uhr im Handy verlassen. Und selbst dem Fernseher kann man nicht trauen, denn die Sender kommen aus verschiedenen Ländern. Wenn es in England drei ist, kann es hier schon viel später sein.
In Australien gibt es sogar Zeitverschiebungen von einer halben Stunde. Die Zeitgrenze geht manchmal mitten durch eine Stadt. Da kommt man sogar zu spät zum Zahnarzt. Vielleicht war das auch in Amerika. In Hartfort oder so.
Da sind wir als Mutprobe mal über eine Eisenbahnbrücke geklettert. Wenn ich als Kind weniger in der Wohnung gehockt und mehr mit den anderen Kindern gespielt hätte, müsste ich so etwas nicht erst im hohen Alter machen, wo die Angst noch größer ist. Natürlich kam dann auch ein Zug, und zwar genau in dem Moment, als wir die Mitte der Brücke erreicht hatten. Wir mussten uns ganz an den Rand drängen, ein Geländer gab es nicht, und zwischen den Eisenbahnschwellen blickten wir direkt auf das Wasser. Da der Zug schier unendlich lang war und deshalb wohl auch so langsam fuhr, verging nach meinem Gefühl eine Ewigkeit, bis alles überstanden war, zumal ich dabei noch in Ruhe einen überfahrenen Dachshund oder Waschbären betrachten konnte, der wie ein zerschnittener Teddy aussah. Auf dieser Brücke habe ich wieder einmal gespürt, wie sehr sich die Zeit strecken kann. Leider streckt sie sich meistens in unangenehmen Situationen.
Auch jetzt im Bus kommt es mir so vor, als ob wir schon ewig unterwegs wären. Ganz schuldlos bin ich daran nicht, denn ich habe angeregt, unser Hotel mal im Stadtzentrum zu buchen, damit man gleich alle Sehenswürdigkeiten vor der Nase hat. Dabei interessieren mich die Sehenswürdigkeiten eher wenig. Das klingt komisch, aber in Berlin gehe ich auch nicht auf den Fernsehturm oder zum Brandenburger Tor. Die Hallen, in denen wir spielen, liegen wiederum meistens außerhalb der Stadt, schon damit die Fans, egal ob nun unsere oder die einer Fußballmannschaft, nicht das Stadtbild versauen. Das klappt ziemlich gut, und jetzt merke ich, dass wir anscheinend zur Halle kommen, da ich schon ziemlich viele Fans links und rechts der Straße sehen kann. Sie haben ihre Autos am Straßenrand geparkt und ziehen in Grüppchen weiter. Zu Fuß sind sie schneller als ich im Bus.
Früher bin ich auch manchmal zu Fuß zum Konzert gegangen, verlaufen konnte ich mich ja nicht, da ich einfach den Fans hinterhergelaufen bin, aber bei den großen Hallen hatte ich dann manchmal Schwierigkeiten, zur Garderobe zu kommen, denn es kommt vor, dass die Telefone in so einer Halle nicht funktionieren, und die Sicherheitskräfte rechnen nicht damit, dass einer von der Band ratlos vor ihrer Tür steht. In Berlin wollte ich einmal mit dem Taxi zum Konzert fahren, damit ich auch ein Bier trinken kann und das Auto dann nicht stehenlassen muss. An der Halle angekommen, bat ich den Taxifahrer, mich zum Bühneneingang zu bringen. Ich war etwas in Zeitdruck, weil ich am Nachmittag noch so viel hatte erledigen wollen und erst auf den letzten Drücker losgegangen war. Wenn wir dort spielen, wo wir wohnen, haben wir ja praktisch doppelt zu tun. Ich vergesse dann gerne mal, dass abends noch ein Konzert ist. Jedenfalls wollte ich schnell zum Künstlereingang.
»Da hinten ist das Ende, Großer!«, sagte der Fahrer und zeigte auf die Menschenschlange, die sich um die Halle wand. Da blieb mir nur übrig, ihm zu sagen, dass ich zur Band gehöre. »Nee, nee, Kollege!«, lachte er mich aus. »Heute spielt Rammstein hier, da kommst du mit solchen Tricks nicht weiter.« Als ich ihm vorsichtig zu erklären versuchte, dass ich da mitspiele, erwiderte er mit brutaler Logik: »Wenn du«, und da musste er schon wieder lachen, »da mitspielen würdest, säßest du nicht hier bei mir im Taxi.« Mit diesen Worten setzte er mich am Ende der Schlange ab. Deshalb fahre ich jetzt lieber mit dem Bus, den der Veranstalter für uns bereitstellt.
Draußen ist inzwischen ein hässliches Industriegebiet zu sehen. Das bedeutet, dass ich gleich ankommen werde. Ich blicke genauer aus dem schmutzigen Fenster. Da stehen ja auch schon unsere großen Nightliner, die Busse, in denen die Crew schläft. Also jetzt natürlich nicht, aber in der Nacht, wenn sie zum nächsten Konzertort fahren. In einiger Entfernung dahinter kann ich etwas sehen, das wie eine Messehalle oder ein Sportstadion aussieht. Davor dehnt sich ein Parkplatz aus. Alles ist grau. Und das soll jetzt Rock ’n’ Roll sein?
Der Rock ’n’ Roll ist längst nicht mehr das, was er mal war, würde ich behaupten. Es ist natürlich fraglich, ob ich ein kompetenter Gesprächspartner zu diesem Thema bin, bloß weil ich Musik mache. So richtig Ahnung habe ich übrigens von überhaupt nichts. Und Rock ’n’ Roll, was ist das überhaupt? War das nicht diese lustige Musik, die unsere Eltern früher gehört haben? Oder waren das unsere Großeltern? Waren die nicht dabei, als dieser Bill Haley kurz nach dem Krieg in der Deutschlandhalle gespielt hat? Oder war es die Waldbühne? Für uns Kinder aus der DDR war das egal, wir konnten mit den beiden Namen nicht viel anfangen, und auch später als Jugendliche kannten wir kaum mehr als den Kulti und das Haus der jungen Talente. Manche der Talente, die dort spielten, waren allerdings schon über siebzig, aber die spielten Blues, da war das in Ordnung.
So unglaublich es auch klingt, in meiner Jugend gab es keine alten Rockmusiker, da der Rock ’n’ Roll an sich noch so jung war. Mick Jagger war damals zwanzig Jahre jünger, als ich jetzt bin....