Überlegungen zur Häufigkeit und Klassifikation von Sprachstörungen
Manfred Grohnfeldt
1 Einleitung
Schon die einfache und unverfänglich erscheinende Frage nach der Häufigkeit von Sprach(entwicklungs-)störungen zeigt uns die Komplexität der damit verbundenen Thematik, wobei die genannten Zahlen mehr über die subjektive Erwartungsnorm des Verfassers bzw. Diagnostikers aussagen als eine ›objektive‹ Eingrenzung einer Wissenschaft vermuten lassen. Ebenso vermittelt ein Blick in die gängigen Handbücher, dass erstaunlich unterschiedliche Einteilungen von Sprach-, Sprech-, Rede-, Stimm- und Schluckstörungen innerhalb des weiten Bereiches kommunikativer Auffälligkeiten vorgenommen werden. Im Zusammenhang damit stehen verschiedenartige Perspektiven der beteiligten Wissenschaftsdisziplinen. Ebenso sind kulturelle und epochale Einflüsse zu beachten. Was in einer deutschen Großstadt als auffällig eingeschätzt wird, kann in der afrikanischen Steppe nur ein Kopfschütteln hervorrufen. Und ebenso erstaunlich (?) ist es, dass sich diese unterschiedlichen Einschätzungen in nur wenigen Jahrzehnten erheblich wandeln können.
Im Folgenden sollen zunächst
• vor dem Hintergrund der stark variierenden Häufigkeitsangaben zu Sprachstörungen Überlegungen zum Normbegriff (Was ist ›normal‹?) angestellt werden.
• Dabei zeigt sich, dass unterschiedliche Klassifikationssysteme damit in einem engen Zusammenhang stehen.
Beide Themenbereiche hängen voneinander ab und vermitteln einen Eindruck über ›dahinter liegende‹ Grundmuster unserer Wahrnehmung. Sie zeigen uns einerseits die Relativität sprachlicher Auffälligkeiten, andererseits vermitteln sie die Notwendigkeit, sein Handeln gerade vor dem Hintergrund der unklaren Hintergründe in ein Bezugssystem zu stellen und zu begründen.
2 Häufigkeiten und Normalitäten
Schon seit Jahrzehnten werden ganz unterschiedliche Angaben zur Häufigkeit von Sprach(entwicklungs-)störungen angegeben. So zeigt eine Sichtung der damaligen Literatur Werte von 4% bis über 40% im Vorschulalter sowie von 0,7% bis 30% im Grundschulalter (Grohnfeldt 1982, 67; überarbeitet: Grohnfeldt 1993, 62). Auch neuere Literatur bestätigt diese breite Varianz mit 3% bis über 20% (Schöler et al. 1998, 25 ff.) bzw. 2% bis 30% (Suchodoletz 2013, 17).
Diese Zahlen sind vorwiegend auf kindliche Sprachentwicklungsstörungen ohne Berücksichtigung von vorwiegend neurogenen Sprach- und Sprechstörungen im Erwachsenenalter sowie von Stimmstörungen in allen Altersstufen bezogen. Sie zeigen uns dabei eine generelle Problematik auf und führen zu beunruhigenden Fragen: Was ist ›normal‹? Wo beginnt die Grenze zu sprachlichen Auffälligkeiten? Gibt es überhaupt eine genaue ›objektive‹ Abgrenzung?
Offensichtlich gibt es fließende Übergänge zwischen einem ›normalen‹ und als auffällig erlebten Sprachverhalten, wobei sich dies nicht nur auf Sprachentwicklungsstörungen, sondern auch auf Stottern, Stimmstörungen sowie auf zentrale Sprach- und Sprechstörungen bezieht. Dadurch ist es nicht eindeutig, von welchen quantitativen oder qualitativen Abweichungen an man von einer ›Störung‹ sprechen kann oder sollte. Dieses prinzipielle Dilemma ist Grundlage der Relativität von Erwartungsnormen des Einzelnen, findet sich aber auch bei standardisierten Testverfahren, die sich ja letztlich aus der Einschätzung einer Vielzahl von Einzelpersonen zusammensetzen.
Zu fragen ist, wie man mit der Relativität von Sprachstörungen umgeht.
Generell sollte man sich bei aller Kenntnis wissenschaftlicher Daten immer auf den Einzelfall beziehen. Einerseits ist es dabei unzulässig, sich ausschließlich auf (fiktive) statistische Durchschnittswerte zu berufen, da man nicht von Mittelwerten allein auf den Einzelfall schließen darf. Andererseits kann die Kenntnis von Erfahrungswerten eine Orientierung bei der diagnostischen Entscheidung im Rahmen von Expertenurteilen bieten. Neben der Erhebung durch diagnostische Testverfahren sind dabei Variablen wie
• die Kenntnis der individuellen Situation der Betreffenden und ihr persönlicher Leidensdruck,
• die Einschätzung durch die Umwelt (Störungsbewusstsein und Stigmatisierung) und
• die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im epochalen Wandel von Bedeutung.
Abgesehen von diesen prinzipiellen Unsicherheiten wird jedoch übereinstimmend von differierenden Zahlenwerte im Hinblick auf
• »die Geschlechtsverteilung (Jungen sind häufiger als Mädchen sprachgestört),
• den Status (schichtspezifische Besonderheiten),
• Mehrsprachigkeit (bei einer Bezugnahme auf deutsche Normen erhöhte Auffälligkeit, z. B. Holler-Zittlau et al. 2004) und
• eine altersspezifische Variation berichtet, die Ausdruck des natürlichen Sprachentwicklungsverlaufs im Vorschulalter ist.« (Grohnfeldt 2012, 71)
Zu fragen ist weiterhin, inwieweit die Häufigkeit von Sprach(entwicklungs-)störungen in den letzten Jahren zugenommen hat bzw. weiterhin zunimmt.
Bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang die Veröffentlichung von Heinemann (1996), der von einer Zunahme von kindlichen Sprachentwicklungsstörungen auf 25% berichtet und diese Zahl als Grundlage für einen Ausbau der logopädischen Versorgung heranzieht. Das Ansinnen mag löblich sein, hält aber der wissenschaftlichen Analyse nicht stand. So wenden sich Dannenbauer (1999), Schöler et al. (1998) und zuletzt Suchodoletz (2013) vehement gegen diese Behauptung und belegen in einer historischen Analyse weitgehend konstante, wenn auch variierende Zahlen über Jahrzehnte.
Zu unterscheiden ist hier offensichtlich zwischen der Prävalenz und der Nachfrage nach Therapie.
Beide Bereiche dürfen nicht verwechselt werden!
Wie die Verordnungszahlen der AOK in ihren jährlichen Heilmittelberichten zeigen, steigt die Nachfrage nach Sprachtherapie kontinuierlich. Die größte Nachfrage ist bei Jungen im Alter von 6 Jahren. Während im Jahre 2005 noch 18% der Jungen und 12% der Mädchen in logopädischer Behandlung waren (Schröder & Waltersbacher 2006), war dieser Anteil im Jahr 2015 auf 24,1% bei den Jungen und 16,7% bei den Mädchen gestiegen (Waltersbacher 2015, 37; Abb. 1).
Abb. 1: Sprachtherapeutische Leistungen der AOK für Kinder und Jugendliche (Waltersbacher 2015, 37); http://www.wido.de/fileadmin/wido/downloads/pdf_heil_hilfsmittel/wido_hei_hmb2015_1512.pdf
Bei der Interpretation dieser Zahlen ist davon auszugehen, dass sie nicht Ausdruck einer zunehmenden Häufigkeit an sich sind, schwerpunktmäßig Aussprachestörungen (vor allem Sigmatismen) betroffen sein dürften und nicht vergessen werden darf, dass auch das Angebot die Nachfrage steuern kann. So ist in den letzten Jahren die Anzahl der Kinder bei der Einschulung deutlich zurückgegangen, während sich die Anzahl der Logopädinnen und Sprachtherapeutinnen vervielfachte (Grohnfeldt 2008, 136).
Schließlich ist zu fragen, mit welchem Prozentsatz an Sprachstörungen in einer bestimmten Altersstufe seriös zu rechnen ist.
Häufig wird dabei auf eine Studie von Tomblin et al. (1997) verwiesen, bei der 7218 Kindergartenkinder einem Screening unterzogen wurden und eine Prävalenzrate von 6% bei den Mädchen und 8% bei Jungen für spezifische Sprachentwicklungsstörungen ermittelt wurde. Dies deckt sich weitgehend mit einer aufwändigen epidemiologischen Untersuchung von Walter (2007a, 2007b), bei der von 60.000 Adressen der Einwohnermeldeämter in Bayern 2000 Familien nach dem Zufallsprinzip angeschrieben wurden. Davon konnten 316 Kinder im Alter von 3.0 bis 5.11 Jahren mit dem SETK 3–5, der PLAKSS sowie Screeningbögen zu myofunktionellen Störungen, kindlichen Dysphonien, Sprechunflüssigkeiten und dem Wortschatz untersucht wurden.
Dabei wurden folgende Ergebnisse ermittelt:
• Bei ca. 7% der Kinder wurden schwerwiegende Sprachstörungen festgestellt, die eine Sprachtherapie im engeren Sinne notwendig machten.
• Ca. 22% der Kinder wurden im weitesten Sinne als sprachlich...