EINLEITUNG
Was ist das Kalifat? Was bedeutet dieser Begriff? Welche Geschichte steht hinter dieser Idee? Ist es etwas Altes, mittlerweile Belangloses, interessant lediglich als Stimme einer sicher ins Reich der Geschichte verbannten Vergangenheit? Oder ist es ein Konzept, das sich auch heutzutage noch interpretieren und verwenden lässt? Im vorliegenden Buch werde ich mich bemühen, diese Fragen zu beantworten. Im Laufe der Jahrhunderte hat das Konzept des Kalifats viele verschiedene Interpretationen und Realisationen erfahren, wie sich noch zeigen wird; ihnen allen gemeinsam ist jedoch eine grundlegende Herrschaftsidee, bei der es um die gerechte Ordnung der muslimischen Gesellschaft gemäß dem Willen Gottes geht. Manche sahen im Kalifen den Schatten Gottes auf Erden, einen Mann, dessen Autorität halb göttlich und dessen Handeln ohne Fehl und Tadel war; weitaus verbreiteter dürfte die Auffassung gewesen sein, dass der Kalif sozusagen der Vorstandsvorsitzende der muslimischen Gemeinschaft, der umma, sei, ein gewöhnlicher Mensch mit weltlicher Macht. Dazwischen liegt ein breites Spektrum von Vorstellungen, die alle von dem Wunsch beseelt sind, Gottes Willen unter allen Muslimen verwirklicht zu sehen.
In diesem Buch geht es nicht in erster Linie um Gegenwartspolitik, sondern um Geschichte. Ein Großteil des historischen Materials, mit dem es sich befasst, stammt aus jener Epoche, die westliche Historiker als frühes oder sogar finsteres Mittelalter bezeichnen, also aus den vier Jahrhunderten zwischen dem Tod des Propheten Mohammed 632 und der Ankunft der Kreuzfahrer im Nahen Osten 1097, obwohl die Diskussion über diese Erzählung sich in Teilen bis ins 21. Jahrhundert fortsetzt. Es ist leicht nachvollziehbar, dass jene Epoche wenig oder gar nichts mit der Situation zu tun hat, in der wir, Muslime wie auch Nichtmuslime, uns heute befinden, und so beginnen denn auch die meisten Untersuchungen zum sogenannten Islamischen Staat mit der jüngeren Geschichte und sehen diese Bewegung als Reaktion auf westliche Einflüsse und Zwänge des 21. Jahrhunderts. Dagegen möchte ich argumentieren, dass, will man die Vorstellungen des Islamischen Staats vom Kalifat begreifen und die Gründe, warum es für viele so wichtig und relevant ist, man ganz im Gegenteil seine tief in die muslimische Tradition reichenden Wurzeln verstehen muss. Der Islamische Staat hat die Wiederbelebung des Kalifats zu einem Kernstück, einem Grundpfeiler seines islamischen Erneuerungsprojekts gemacht, und der Anklang, den er damit gefunden hat, zeugt von der Wirkmacht, die diese Idee nahezu 14 Jahrhunderte nach ihrer Entstehung immer noch besitzt. Modernen Islamisten, die nach einer Basis suchen, auf der sie eine tragfähige politische Vision für die Wiederbelebung der muslimischen umma aufbauen können, dienen die Ereignisse jener Jahrhunderte zugleich als Inspiration und als Rechtfertigung.
Die von diesen Ereignissen bis heute ausgehende Inspiration beruht zum Teil auf der Tatsache, dass sie an eine Welt erinnern, in der das Kalifat das mächtigste und fortschrittlichste Gemeinwesen des gesamten eurasischen Raums war. Damals hatte Bagdad eine halbe Million Einwohner, während es in London und Paris lediglich einige Tausend waren; das Kalifat verwaltete riesige Gebiete mit einer stehenden Armee und einer Bürokratie, deren Beamte lesen, schreiben und rechnen konnten; zudem waren Bagdad und Kairo große Handels- und Kulturzentren. Bei allen, ob sie nun innerhalb oder außerhalb der muslimischen Tradition stehen, kann die Kenntnis der Geschichte jener Epoche das kulturelle Selbstbewusstsein stärken, das für jede Zivilisation wichtig ist, wenn sie mit sich und ihren Nachbarn in Frieden leben soll. Auf dieser Ebene richtet sich mein Buch an Muslime und Nichtmuslime, die sich – wie es jeder tun sollte – über die tatsächlichen Glanzzeiten und Errungenschaften einer dynamischen Kultur informieren möchten.
Es geht jedoch noch darüber hinaus. Für manche Muslime verweist das Kalifat auf eine Zeit, in der ihre Glaubensbrüder gottesfürchtig und fromm, puritanisch und selbstdiszipliniert und immer bereit waren, ihr Leben auf dem Weg Allahs zu opfern. Diese Sicht ist keine bloße nostalgische Erinnerung. In einem Maße, wie es in keinem anderen aktuellen politischen Diskurs zu finden ist, rechtfertigt diese weit zurückliegende Vergangenheit für gewisse islamistische Gruppen die Gegenwart. Liest man heutige Propagandaschriften wie das Magazin des Islamischen Staats Dābiq, so findet man unweigerlich zahlreiche Hinweise auf die Taten des Propheten Mohammed, der sahāba, also seiner Gefährten und Jünger, sowie der frühen Kalifen. Wenn sie etwas taten, so sollten wir ihrem Beispiel nacheifern, lautet die Argumentation. Weiterer Rechtfertigungen bedarf es nicht, und selbst die anscheinend grausamsten und barbarischsten Handlungen brauchen keine zusätzliche Legitimation, wenn sich zeigen lässt, dass sie dem Vorbild solcher großen Helden folgen. Die Äußerungen dieser lautstarken, eindringlichen Stimmen können wir nicht verstehen, geschweige denn durch Argumente entkräften, sofern wir nicht ebenfalls den Weg in die ferne Vergangenheit einschlagen.
Für diese Tradition besitzt die Geschichte eine Wirkmacht, wie sie sonst nirgendwo zu finden ist. In Großbritannien schaut niemand in die Angelsächsische Chronik, die aus derselben Epoche stammt wie die frühen arabischen Quellen, und nutzt sie zur Rechtfertigung heutiger Politik. Das Werk mag uns faszinieren, uns wichtige Einblicke in die Verhaltensweisen unserer Vorfahren bieten, und die Heldentaten König Alfreds mögen sogar allgemein inspirierend sein, aber sie sind weder normativ noch liefern sie Anweisungen oder Vorwände für das Verhalten von heute oder morgen. Eben deshalb ist es notwendig, dass jede Auseinandersetzung mit dem Konzept des Kalifats sich mit dessen Geschichte befasst und wir diese komplexen Erinnerungen und Traditionen richtig verstehen.
Ich habe mich bemüht, dieses Buch durch Zitate aus Originaltexten zu bereichern, die aus dem Arabischen und Persischen übersetzt wurden und uns Einblicke in die gelebte Erfahrung des Kalifats vermitteln können – ungefilterte, nicht durch spätere Einstellungen und Vorurteile verzerrte Zeugnisse dessen, was die Menschen damals sahen und hörten. Wie solche Dokumente belegen, schauten viele Muslime auf ihre Kalifen und erwarteten von ihnen, dass sie glanzvolle Opulenz zur Schau stellten und ein Zentrum kultureller Aktivitäten bildeten, die nicht nur der herrschenden Dynastie, sondern der gesamten muslimischen Gemeinschaft zur Ehre gereichten. Wenn wir diese Beschreibungen lesen, können wir vielleicht etwas von der Begeisterung und Lebensfreude nachvollziehen, die mit dem Kalifat verbunden waren, aber in der nüchternen Geschichtsschreibung häufig verloren gehen.
Unter den modernen historischen Werken, die ich verwendet habe, ist zunächst das meines berühmten Vorgängers als Arabischprofessor an der School of Oriental and African Studies (SOAS) in London, Sir Thomas Arnold, zu nennen; dessen Buch The Caliphate (1924) widmete sich als erstes in englischer Sprache diesem Thema. Kollegen werden erkennen, wie vielen ich zu Dank verpflichtet bin. Die wichtigsten habe ich in den Anmerkungen und der Bibliographie angeführt und entschuldige mich, falls ich jemanden versehentlich vergessen haben sollte. Im Wesentlichen erwächst das, was ich schreibe, jedoch aus der muslimischen Tradition. Das Material stammt nicht von außenstehenden Orientalisten, sondern aus der Fülle intelligenter, scharfsichtiger muslimischer Geschichtswerke, die überwiegend auf Arabisch, teils aber auch auf Persisch und Türkisch geschrieben wurden und eine der großen Glanzleistungen der islamischen Kulturtradition darstellen. Ich kann nicht für mich in Anspruch nehmen, all die verschiedenen Ausprägungen des Kalifats in der gesamten muslimischen Welt abgedeckt zu haben; manche Leser mögen vor allem den Eindruck gewinnen, dass ich die Entwicklungen in Süd- und Südostasien im 19. und 20. Jahrhundert vernachlässigt habe; nach meiner Einschätzung hätten sie dieses Buch jedoch zu umfangreich und diffus gemacht und sollten Thema einer anderen Studie sein.
Mit diesem Schöpfen aus der Tradition ist ein gewisser Respekt vor politischen und religiösen Akteuren und Schriftstellern verbunden. Die frühen Muslime rangen um die Schaffung von Institutionen,...