Einführung
Sara ist gerade auf die Welt gekommen. Sie wiegt 3,5 Kilogramm, hat einen wohlgeformten Kopf und volle Wangen, runde Arme und Beinchen. Sie schreit kräftig und strampelt lebhaft. Immer wieder blickt sie Mutter und Vater mit großen Augen an.
Die Eltern von Sara sind überglücklich: Sie haben ein Kind. Auch Stunden nach der Geburt sind sie immer noch von Dankbarkeit überwältigt. Immer wieder schauen sie Sara an und erfreuen sich an jeder kleinsten ihrer Regungen. Für die Eltern gibt es von nun an nichts Wichtigeres als ihre Tochter.
In einigen Tagen werden sie mit Sara nach Hause zurückkehren, und spätestens dann wird ihnen bewusst werden: Wir haben nun die alleinige Verantwortung für dieses kleine Wesen, und das für etwa die nächsten 20 Jahre. Werden wir Sara gerecht werden können? Fragen, die sie in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten besonders beschäftigen werden, sind:
- Welche körperlichen Bedürfnisse hat Sara? Wie können wir sie befriedigen? Wie viel körperliche Nähe und Zuwendung braucht unser Kind?
- Wie wird sich Sara entwickeln? Was können wir zu ihrer Entwicklung beitragen? Wie können wir unsere Tochter am besten fördern?
- Wie erziehen wir Sara? Wann bestimmt sie, und wann bestimmen wir?
- Welche Bedeutung hat Sara für uns als Eltern? Wie sehr wird sie unser Leben verändern? Wie kann uns der Spagat zwischen Kinderbetreuung einerseits und Partnerschaft, Arbeit und eigenen Interessen andererseits gelingen?
In diesem einleitenden Kapitel geht es darum, was Eltern tun können, damit ihr Kind seine Begabungen voll entfalten und ein gutes Selbstwertgefühl und eine gute Selbstwirksamkeit entwickeln kann. Einmal erwachsen, sollte es von sich sagen können: Ich mag mich so wie ich bin. Ich kann in dieser Welt erfolgreich bestehen.
Was sich alle Eltern wünschen: ein lebensfrohes Kind. [7]
Die kindliche Entwicklung
Wir alle haben als Eltern unsere eigenen Vorstellungen darüber, wie sich Kinder entwickeln, etwa über das Alter, in dem sie frei gehen oder die ersten Worte sprechen sollten. Manche Eltern orientieren sich an Normvorstellungen und legen großen Wert auf Frühförderung, weil sie sich davon erhoffen, dass sich diese langfristig positiv auf die Entwicklung ihres Kindes auswirken wird. Bestimmend für ihre Rolle als Eltern sollten aber weniger Erwartungen als vielmehr das Kind als einzigartiges Wesen sowie die Grundelemente und Gesetzmäßigkeiten der kindlichen Entwicklung sein.
Jedes Kind will sich wohl- und geborgen fühlen
Ein Kind kann sich dann gut entwickeln, ist beziehungsfreudig, neugierig und motorisch aktiv, wenn die Eltern dafür sorgen, dass seine körperlichen und psychischen Bedürfnisse ausreichend befriedigt sind. Körperliches Wohlbefinden setzt Gedeihen und Gesundheit voraus. Hunger und Durst, aber auch andere körperliche Bedürfnisse wie Schutz vor Kälte oder trockene und saubere Kleidung wollen zuverlässig befriedigt sein. Nur wenn das Kind ausreichend ernährt, gepflegt und gesund ist, kann es sich körperlich und psychisch voll entfalten. Wie nachteilig sich Mangel- und Unterernährung, aber auch Krankheiten auf die Entwicklung von Kindern auswirken können, erfahren wir täglich durch Medienberichte aus armen Ländern.
Eltern freuen sich, wenn ihr Kind gesund ist. Ein Säugling, der viel trinkt, oder ein Kleinkind, das kräftig isst, bestätigt den Eltern, dass sie gut für ihr Kind sorgen. Hat ein Kind hingegen kaum Appetit, kann es nicht nur Mutter und Vater, sondern die ganze Verwandtschaft ängstigen. Eltern fragen sich daher: Wie viel Milch muss ein Säugling trinken? Wann sollten wir mit der Beikost beginnen? Für alle diese Fragen gibt es Richtlinien, zum Beispiel auf der Packung der Säuglingsmilch. Diese Angaben entsprechen dem einzelnen Kind aber oftmals nicht, weil die Bedürfnisse von Kind zu Kind sehr verschieden sind. Manche Säuglinge trinken nur halb so viel Milch wie andere Gleichaltrige. Das Interesse und damit auch die Bereitschaft, Beikost zu essen, stellt sich bei jedem Kind in einem anderen Alter ein. Ein Kind gedeiht dann am besten, wenn sich die Eltern an seinen körperlichen Bedürfnissen orientieren. Zu wenig ist immer abträglich, aber zu viel ist keineswegs immer besser und kann sogar nachteilig sein.
Geborgenheit [7]
Genauso wichtig wie Ernährung, Pflege und Schutz sind für das Kind Geborgenheit und emotionale Zuwendung. Ein Kind, das in seinem psychischen Wohlbefinden beeinträchtigt ist, etwa weil die Mutter krank ist und niemand sonst sich ausreichend um das Kind kümmert, kann in seinem Wachstum und in seiner Entwicklung erheblich eingeschränkt sein (Brisch et al. 2002, Rutter 1976, Ernst 1985). Geborgen fühlt sich ein Kind dann, wenn ihm vertraute Personen das Gefühl geben, nicht allein zu sein, und wenn seine Bedürfnisse zuverlässig befriedigt werden. Zuwendung erhält das Kind nicht nur durch Liebkosungen, sondern auch durch einen vielfältigen Austausch mit vertrauten Personen.
Was für die Ernährung und Pflege gilt, trifft auch für die Zuwendung zu: Das Kind entwickelt sich nicht umso besser, je mehr Zuwendung es erhält. Auch das Umsorgtwerden hat seine Grenzen und bei deren Überschreiten gar nachteilige Folgen. Genauso wie mit der Überfütterung verhält es sich mit der Überbehütung. Sie vermehrt nicht das Wohlbefinden, sondern hält das Kind in einer emotionalen Abhängigkeit und macht es unselbstständig. Es ist häufig verstimmt, je nach Temperament ängstlich oder aggressiv und zeigt wenig Neigung, eigene Erfahrungen zu machen.
Es gilt also im Umgang mit den kindlichen Bedürfnissen, diese angemessen zu befriedigen, ohne dem Kind etwas aufzudrängen, damit es sich möglichst selbstständig entwickeln kann.
Jedes Kind will sich auf seine Weise und in seinem Tempo entwickeln
Säuglinge und Kleinkinder entwickeln sich in einem atemberaubenden Tempo. Die ersten 5 Lebensjahre machen zeitlich etwa ein Drittel der Kindheit aus. In diesen wenigen Jahren eignen sich die Kinder jedoch alle wesentlichen Fähigkeiten wie die Sprache weitgehend an. Sie kommen als kleine, hilflose Wesen auf die Welt, können sich kaum bewegen, nur wenig kommunizieren und kaum Einfluss auf die Umwelt nehmen. Mit 5 Jahren besitzen sie differenzierte fein- und grobmotorische Fähigkeiten und beherrschen die Alltagssprache. Sie können einigermaßen kompetent mit ihren Mitmenschen umgehen und verfügen über erste geistige Vorstellungen, etwa über Kausalität, Raum und Zeit.
Die kindliche Entwicklung zeichnet sich gleichermaßen durch Einheitlichkeit und Vielfalt aus. Einheitlich verläuft der Entwicklungsprozess: Die verschiedenen Stadien der Entwicklung weisen bei jedem Kind im Wesentlichen die gleiche Abfolge auf. So macht jedes Kind in seiner Sprachentwicklung als Erstes bestimmte Phasen der Lautbildung durch, kommt in der Folge zu den ersten Wörtern, bildet anschließend Zweiwortsätze und eignet sich schließlich die grammatikalischen Regeln der Wort- und Satzbildung an. Im Alter von 5 Jahren können sich die meisten Kinder in korrekten Sätzen ausdrücken.
Sehr vielfältig hingegen verläuft die Entwicklung von Kind zu Kind, wenn wir auf das zeitliche Auftreten von Entwicklungsstadien und die Ausprägung von Verhaltensweisen achten. Bereits Neugeborene sind unterschiedlich groß und schwer. Manche haben ein Geburtsgewicht von weniger als 3, andere wiegen mehr als 4 Kilogramm. Sie unterscheiden sich voneinander auch in ihrem mimischen Ausdruck, beim Schreien und in ihrem Bewegungsverhalten. Im Verlauf der Entwicklung nehmen die Unterschiede zwischen den Kindern immer mehr zu. Ende des 1. Lebensjahres sind manche Kinder 8, andere bis zu 13 Kilogramm schwer. Einige Kinder machen die ersten Schritte bereits mit 10 Monaten, die meisten mit 12 bis 16 und einzelne nicht vor 18 Monaten. Das eine Kind spricht erste Wörter mit 10 bis 12 Monaten, die meisten Kinder mit 15 bis 24 Monaten, und bei manchen lassen die ersten Wörter bis ins Alter von 30 Monaten auf sich warten. Es gibt keine Fähigkeit und kein Verhalten, das bei allen Kindern im selben Alter aufträte und gleich ausgeprägt wäre.
Kinder unterscheiden sich nicht nur deutlich voneinander, das einzelne Kind ist auch in sich unterschiedlich weit entwickelt; die verschiedenen Entwicklungsbereiche wie Sprache oder Motorik sind ungleich fortgeschritten. So kann es vorkommen, dass ein Kind bereits mit 12 Monaten läuft, die ersten Wörter aber erst mit 24 Monaten spricht.
Wie Einheitlichkeit und Vielfalt zusammenwirken, ist in den Abbildungen am Beispiel des Erkundungsverhaltens dargestellt. Jedes Kind erkundet Gegenstände zuerst mit dem Mund, dann mit den Händen und schließlich mit den Augen. In welchem Alter ein Kind ein bestimmtes Erkundungsverhalten zeigt, in welcher Intensität und für welche Dauer ist von Kind zu Kind verschieden.
Erkunden von Gegenständen mit Mund, Händen und Augen. [16]
Wie Eltern ihr Kind in seiner Entwicklung unterstützen können
Jedes Kind will sich von sich aus entwickeln. Es hat einen enormen inneren Drang zu wachsen und sich Fähigkeiten und Kenntnisse anzueignen. Wenn es einen bestimmten Entwicklungsstand erreicht hat, beginnt es von selbst, nach Gegenständen zu greifen, sich fortzubewegen und sich sprachlich auszudrücken. Diese Bereitschaft des Kindes, sich zu entwickeln, wird von vielen Eltern als...