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Wo du richtig bist

Vom Aufbrechen und Heimatfinden

AutorTomas Sjödin
VerlagSCM R.Brockhaus im SCM-Verlag
Erscheinungsjahr2017
ReiheRuhe und Achtsamkeit 
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783417228960
Altersgruppe30 – 60
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Suchen Sie nach Ihrem Platz im Leben? Oder fragen Sie sich, ob Sie am richtigen Ort angekommen sind? Auch Tomas Sjödin bewegen diese Lebensfragen und er macht sich auf die Suche nach Antworten: Er folgt der Spur seines 'Zwillings', des zweifelnden Apostels Thomas. In ihm findet Sjödin einen Seelenverwandten, jemanden, den er versteht und von dem er sich verstanden weiß. Er begibt sich auf eine persönliche Spurensuche, bei der er die Stationen seines Lebens, und die seines 'Zwillings' bereist. Und er macht Entdeckungen, die er am heimischen Schreibtisch nicht gemacht hätte. Hoffnungsvoll fordert das Buch Sie heraus, alles infrage zu stellen, aus dem Vertrauten aufzubrechen und den eigenen Platz und die eigene Berufung zu finden.

Tomas Sjödin (Jg. 1959) ist ein schwedischer Schriftsteller, Pastor, Dozent und Kolumnist aus Kramfors, lebt aber heute mit seiner Frau Lotta in Säve bei Göteborg. Er kommt aus der schwedischen Pfingstbewegung, ist aber seit vielen Jahren ökumenisch tätig, darunter in vielen Radio- und Fernsehsendungen. Seine Bücher und Kolumnen sind oft autobiografisch grundiert und humorvoll. Seit der schweren Erkrankung und dem Tod von zweien seiner drei Söhne beschäftigen sie sich aber immer wieder auch mit Leid und Trauer. Er hat mittlerweile etwa zehn Bücher geschrieben.

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Leseprobe

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Caravaggio, Thomas und ich


In den Wochen, bevor ich mich nach Deutschland aufmachte, verging die Zeit im Sauseschritt. Unsere karitative Arbeit explodierte förmlich, die Not wurde immer bedrückender und unsere Kirche hatte das Glück, zu einem Ort zu werden, den viele aufsuchten, um Hilfe zu finden.

Bei so etwas dabei zu sein und die wachsende Schar Freiwilliger anzuleiten, ist zutiefst befriedigend. Zusehen zu dürfen, wie sie die kleinen Dinge tun, die möglich sind, das ist, als beobachte man ein loderndes Feuer der Hoffnung, welches gegen alles steht, was unmöglich erscheint. Aber es ist auch ermüdend. Die Not ist real, und es ist schwer, nach Hause zu gehen und Dinge zu genießen, die vergleichsweise luxuriös sind, während andere Menschen sich für das Lebensnotwendige abmühen.

Auf dem Weg zu einer Lesung in der Nähe von Heidelberg leiste ich mir einen zusätzlichen Tag in Potsdam. Es ist eine Art Ironie des Schicksals, dass Michelangelo Merisi da Caravaggios Gemälde Der ungläubige Thomas ausgerechnet in einem Schloss mit dem Namen Sanssouci hängt, was doch »ohne Sorge« heißt. Ich reise dorthin, um das Bild »in echt« zu sehen.

Es fühlt sich an, als würde ich von einer vollen Autobahn auf eine stille Dorfstraße abbiegen. Ich gelange an den vielleicht stillsten Ort, den ich je besucht habe. Dabei ist das Schloss keinesfalls menschenleer, aber es herrscht jene Sonntagsstille, nach der ich mich gesehnt habe.

Ich glaube fest daran, dass man seinen Impulsen folgen soll, und ich habe mein Leben lang dieser Überzeugung entsprechend gehandelt. Mit den Jahren habe ich es sogar noch häufiger getan, habe auf die schwachen Signale zu hören gewagt und dann tatsächlich umgesetzt, was ich für richtig hielt. Von Interesse und Sehnsucht geleitet, bin ich auch schwer begreiflichen Impulsen gefolgt.

Wenn man etwas Wertvolles finden möchte, muss man genau hinschauen. Wenn man sich damit begnügt, nur die Oberfläche der Dinge zu scannen, muss man nehmen, was man findet. Eine oberflächliche Allgemeinbildung ist im Vergleich zu vertieftem Wissen breit und leicht, aber die Vertiefung kann per Definition nur in einem kleinen Bereich geschehen. Wenn man unter die Oberfläche gelangen möchte, muss man Grenzen ziehen, sich mit dem beschäftigen, was einen neugierig macht, und anderes beiseitelassen. Es gibt vieles, was man nicht muss.

Mein plötzlich aufflammendes Interesse für Kirchenglocken führte mich durch die Slowakei und später zu einer zweitägigen Glockenkonferenz auf dem englischen Land. (Ich habe darüber in meinem Buch Ett brustet halleluja – Ein gebrochenes Halleluja2 geschrieben.) Johannes vom Kreuz lockte mich auf eine Pilgerreise nach Andalusien, und mein Wunsch, Jean Vanier, den Gründer der Arche-Kommunität, kennenzulernen, hat mich dazu gebracht, mich für eine fünftägige französischsprachige Retraite in Trosly wenige Kilometer nördlich von Paris anzumelden – mich, der nur ein paar Brocken Französisch spricht.

Jetzt bin ich am südwestlichen Rand von Berlin, um mir ein Gemälde anzuschauen. Als ich meiner Frau von meinem Vorhaben erzählte, glaubte sie, sie hätte mich nicht richtig verstanden …

Der Schlosspark von Sanssouci ist großartig: Blumenrabatte, Weinbauterrassen, Gewächshaus, Lustgarten, Teehaus, Wasserspiele, Skulpturen und mehr als dreitausend Obstbäume … Man kann, wenn man will, viele Kilometer auf Kieswegen wandeln, ohne auch nur einmal an dieselbe Stelle zu kommen. Auf dem höchsten Punkt einer Erhebung liegt der Palast, den Friedrich der Große sich als Sommerresidenz erbauen ließ.

Der Weg, auf dem ich mich dem Palast nähere, gibt mir eher das Gefühl, einen Weinberg hochzuwandern als einen Hügel. Es ist ein kunstvolles System von sechs Terrassen, zu denen jeweils Gewächshäuser gehören. Mehr als hundert verglaste Nischen müssen es sein, wenn ich richtig gezählt habe. Je nach Robustheit wachsen die verschiedenen Rebsorten hinter Glas oder im Freien. Diese Weinbergterrassen geben dem Park seinen einzigartigen Charakter. Und ganz oben, in einem Seitenflügel des Schlosses, befindet sich das Kunstmuseum, in dem das Original von Caravaggios Gemälde hängt.

Ich beziehe ein Hotelzimmer in der Nähe und wechsle den ganzen Nachmittag zwischen Schloss und Park hin und her. Am Abend bin ich wieder im Schloss, und auch am folgenden Morgen bin ich dort einer der Ersten. Draußen im großen Park spazieren und joggen Leute, manche haben Decken ausgebreitet und picknicken. Ein fröhliches Bild.

Ich dagegen möchte einfach allein sein, ich, der ich doch sonst durch und durch ein »Herdentier« bin. Ich will dieses Erlebnis für mich allein haben. Hier sollen jetzt nur ich sein, Caravaggio, Jesus, Thomas und die zwei namenlosen Begleiter, die zu dem Geschehen auf dem Gemälde gehören.

Die Erzählung von Thomas ist vielleicht die Geschichte im Neuen Testament, die mir für meinen Glauben am meisten bedeutet. Ich habe mich mehr als dreißig Jahre lang mit ihr beschäftigt, sie in Predigten angesprochen, in Texten und Büchern, und mich immer als der andere Zwilling verstanden, als der ungenannte Bruder. Und ich habe immer wieder Menschen getroffen, die Lebensgeschichten erzählten, die der des Thomas glichen, ob ihnen das bewusst war oder nicht. Wie jemand nicht richtig dazugehörte, wie jemand unerwartet eine zweite Chance bekam, wie jemand von Einsamkeit zum Glauben gelangte. Denn darum geht es bei Thomas.

Die Geschichte, wie sie im Johannesevangelium aufgezeichnet ist, erzählt nicht viel vom Hintergrund und den Ursachen dessen, was geschieht. Kurz gefasst: Es kommt zu einer ersten Begegnung zwischen dem Auferstandenen und seinen niedergeschlagenen Jüngern, die bis dahin geglaubt haben, er sei tot. Bei dieser ersten Begegnung ist Thomas nicht dabei, sondern an irgendeinem anderen Ort.

»Einer der Jünger, Thomas, der auch ›Zwilling‹ genannt wurde, war nicht dabei gewesen, als Jesus kam«, heißt es bei Johannes. Dieser kurze Satz erzählt eine lange Geschichte.

Eine Woche später kommt es zu einer zweiten Begegnung. Jetzt ist Thomas dabei. Zwischen diesen zwei Ereignissen gibt es einen leeren Raum, der hochinteressant ist. Warum war Thomas beim ersten Mal nicht dabei? Was hat er in dieser Woche getan? Brauchte er diese Extrazeit, um dann schließlich doch den Platz einnehmen zu können, der schon immer seiner war?

Der Weg bis zu dem Moment, an dem man seinen Platz im Leben und im Glauben einnimmt, ist für die meisten Menschen eine sehr einsame Wanderung durch tiefe Zweifel und Selbstzweifel. Etwas in dieser Geschichte sagt mir, dass man dieser einsamen Wanderung, dieser trostlosen Landschaft nicht ausweichen, aber sie doch so schnell wie möglich hinter sich bringen soll. Wenn man sich auf dem Weg niederlässt, erlöscht das eigene Feuer. Wie Thomas handelt, erzählt nicht davon, wie wichtig das Zweifeln ist, es erzählt davon, wie der Glaube bewahrt wird. Das ist ein himmelhoher und höllentiefer Unterschied.

Genau hier wird Thomas zum Zwilling. Thomas zweifelt auf eine konstruktive Weise, da ist eine Bewegung in seinem Kampf, eine Richtung. Er will glauben. Caravaggios Gemälde heißt auf Englisch The Incredulity of Saint Thomas, wobei man incredulity wohl am besten mit Kleinglaube oder Skepsis übersetzt.

Zu zweifeln ist schick geworden. Aber der Zweifel ist nichts, was man suchen sollte. Der Glaube ist die große Gabe, die wir in diesem Leben empfangen können. Deshalb bin ich aufrichtig skeptisch, wenn heute dem Zweifel gehuldigt wird. Es macht sich gut, ein Zweifler zu sein, denn – so bekommt man es erklärt – der Zweifler ist noch nicht fertig, er ist in Bewegung. Aber stimmt das? Der Zweifel ist nützlich, denn er hilft uns zu erkennen, was echt ist und was wir wirklich wollen. Davon abgesehen ähnelt der Zweifel aber eher dem Leid, das keinen Wert an sich hat, sondern ein Werkzeug ist, dessen Gebrauch manchmal notwendig ist, um unseren Glauben zu formen.

Das griechische Wort für zweifeln ist distazein, und es beschreibt das Schwanken zwischen zwei Möglichkeiten. Das lateinische dubitare und das verwandte englische to doubt verweisen auf eine ähnliche Zweideutigkeit. Da gibt es etwas, das es schwer macht zu wählen. Man schwankt zwischen den Alternativen, man ist unschlüssig.

Den konstruktiven Zweifel erkennt man an seinem Bestreben, das Gute zu wählen. Der norwegische Theologe Åste Dokka schrieb in der Zeitschrift Vårt Land (Unser Land), dass der Zweifel lähmen und in die Passivität führen kann, dass er manchmal zum Vorwand wird, um der Welt mit ihrem Alltag, ihren Festen und Dramen auszuweichen. Er beschreibt den Zweifel als eine Weigerung, sich zu entscheiden. Wer glaubt, ist alles andere als fertig, und er steht auch nicht still. Gerade wer glaubt, ist in Bewegung und noch im Werden begriffen. Der Glaube ist eine lebenslange Reise, die zu immer neuen Entdeckungen und Herausforderungen führt.

Dokkas Beobachtungen haben etwas. Thomas selbst wird das im Laufe seines Lebens klar, und Millionen von Märtyrern werden seine Erfahrung im Laufe der Geschichte teilen. Der Zweifel kann dagegen zu einer Versuchung werden: zu der Versuchung, nicht Stellung zu beziehen, nicht zu wählen oder zu verwerfen, den Kopf einzuziehen und bei seinen Netzen am See Genezareth sitzen zu bleiben, obwohl man im Innersten weiß, dass...

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